Die Zeit zwischen Pessach und Schawuoth ist eine Trauerzeit. Viele tragische Ereignisse fanden während dieser Zeit statt. Vor allem wird den tragischen Ereignissen während der Zeit der Kreuzritter, die die jüdischen Gemeinden in Worms, Speyer, Mainz u.a. auslöschten, gedacht. Am Schabbat vor dem Schawuothfest wird ein Gebet in den Synagogen gesprochen, das an diese schlimmen Ereignisse erinnert. Dieses Gebet finden Sie hier.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l hat dieses Gebet für den nachfolgenden Artikel als Grundlage genommen. Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Jeschurun“, 3. Jahrgang, Heft 8, im Jahre 1857.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: 

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2941043

„Leichter waren sie als Adler und stärker als Löwen, den Willen ihres Eigners zu vollführen und das Verlangen ihres Horts!“

Der Vater der Barmherzigkeit in den Höhen,
In der Tiefe seiner Barmherzigkeit,
Gedenke mit Erbarmen
Der Hingebungsreichen, Geraden und Schuldlosen,
Der heiligen Gemeinden, die ihr Leben hingaben für die Heiligung seines Namens,
Die, im Leben von ihm geliebt und ihm hold,
Auch im Tode von ihm sich nicht trennten.
Die leichter waren als Adler
Und stärker waren als Löwen,
Den Willen ihres Eigners zu erfüllen
Und das Verlangen ihres Horts —

Eine dunkel-lichte Zeit, mit ihrem Schrecken und ihrem Erhabenen, mit ihrer Verzweiflung und ihrer Seligkeit, mit ihrem todumflorten Leben und ihren lebendurchdrungenen Toden — steigt alljährlich mit diesen Worten aus dem Grabe der Vergangenheit in die frisch pulsierende Gegenwart. — Was wollen die Toten unter den Lebendigen? Sie wollen sie zu ihrem Tode und ihrem Leben begeistern.

 Weil wir es sonst schon für heilsam erachtet, die Söhne und Töchter unserer Tage an die Gräber unserer Vorzeit zu führen, und wir namentlich auch in dem Leben unseres jüdischen Mittelalters, in dem Leben unserer Großväter und Urgroßväter Momente erkannt, die uns mit Stolz und Begeisterung erfüllten, und die wir mit Schmerz in unserer Gegenwart vermissten, weil wir es gewagt, auf die Heiterkeit und den Ernst, auf die Selbstbeherrschung und die Mizwatätigkeit[1], auf die Hingebung und die Gottestreue, auf die Geistesfrische und die Freudigkeit hinzuweisen, die das Volk, auf die Besonnenheit und Umsicht, auf den Gemeinsinn und die Aufopferung, auf die Weisheit und den Mut, die die Führer erfüllten, weil wir dieses lebendigste Leben, welches das jüdische Volk in einer Zeit, die es zu tausendfältigem körperlichen Tode verurteilte, in so urkräftiger Weise entfaltete, als die herrlichsten Triumphe gefeiert, die unsere Thora errungen und womit sie eben ihre göttliche Sendung bekundet — darum hat man uns vielfach eine verblendete Vorliebe für die Vergangenheit und eine ebenso verblendete Geringschätzung der Gegenwart vorgeworfen, und als ob wir Altes nur priesen, weil es alt, nicht weil es auch das Bessere gewesen, fragte man vorwerfend, ob denn nicht auch die Alten ihre Gebrechen gehabt, ob denn nicht auch die Gegenwart ihre Vorzüge habe? Ob wir denn die alten Ghettomauern wieder aufrichten möchten, ob wir uns denn zurückwünschten in die düstere Abgeschiedenheit der engen Judengassen, wo der Gesichtskreis des Juden nicht über die Gasse hinausreichte, wo er keine Kunde hatte von der geistigen Bewegung seiner Zeit, keinen Teil nahm an der Entwicklung der Völker, nichts erntete von Blüten und Früchten der allgemeinen Bildung, der Literatur und Kunst, der Wissenschaft und der Erfindung. Ob wir uns zurückwünschten in die Zeit, wo die Manhigim und die Tuwim, die Führer und Besten der Gemeinde, selbst das Privatleben bis auf Putz und Kleidung der Frauen, bis auf Gästezahl und Bewirtung bei Familienfesten kontrollierten, und wo — die in jeder Gemeinde vorhandenen „Schlafstätten“ der Hunderte von herumwandernden heimatlosen Juden nicht eben eine Pflanzstätte der Unschuld und Sittlichkeit waren, auf die wir eben Ursache hätten stolz zu sein? —

Handelte es sich um eine Apologie unserer Alten und um eine Würdigung ihrer Zeit, wir würden erwidern, waren sie es denn, die sich die Ghettimauern erbauten, waren sie es, die sich freiwillig in die Kerker ihrer Gassen sperrten, sie, die sich von der ganzen Welt draußen isolierten, oder war es nicht eben die Barbarei dieser anderen Welt, die sie in ihre engen Bezirke pferchte, die sie von aller Teilnahme gemeinsamer Öffentlichkeit gewaltsam zurückstieß und eben damit jene Beschränktheit und Gedrücktheit mit allen ihren beklagenswerten Folgen erzeugte, und selbst jene Kontrolle hervorrief, die der Schutz und die Erhaltung des Ganzen notwendig machten? Und war denn das Leben, das außerhalb der Judengassen gelebt wurde, ein solches, trat darin die Menschlichkeit und die Milde, das Rechtsbewusstsein und die Menschenachtung, die Erkenntnis und der freie Geistesblick so hervor, dass es den Ghettibewohnern Achtung und Bewunderung hätte abnötigen, dass es sie ihre Beteiligung schmerzlich hätte vermissen lassen und sie hätte hinüber locken sollen in die Bahnen, deren Eintritt man ihnen verschloss? War es denn nicht meist ein Reich der Barbarei und der Unwissenheit, des Unrechts und der Gewalt, der Rohheit und Unsitte, das in dem Leben draußen sich vollzog? Zählt denn die Geschichte der Jahrhunderte, in denen man den Juden gewaltsam von der großen Schaubühne der Welt isolierte, viele Blätter, über die der Genius der Menschheit sich zu freuen hat? Darf denn der Jude sein Geschick nicht sogar noch segnen, dass er keinen Teil hat an den Fesseln, die da geschmiedet, an den Kerkern, die da gebaut, an den Scheiterhaufen, die da errichtet, an den Gesetzen, die da gegeben, an den Urteilen, die da gefällt, an den Schlachten, die da geschlagen, an den Herzen, die da gebrochen und an den Gräbern, in die sie da eingesargt wurden? War es eine zürnende oder gütige Hand, die sie von diesem allen isolierte, die sie lieber zu den Gedrückten, als zu den Drängern, zu den Schlachtopfern, als zu den Henkern gesellte, die ihren Erwählten das noch lange nicht in seiner ganzen Größe geschätzte beneidenswerte Los bereiten wollte, einst am Völkermorgen als der einzige Menschenstamm dastehen zu können, der priesterlich seine Hände zum Segen sollte erheben können, die Jahrtausende lang sich nicht gerötet hatten vom Völkerblut und auf die nicht gekommen der Seufzer und der Fluch der Nationen? —

Gelte es ein Zeitengericht, wir wären vielleicht berechtigt zu sagen, alle Gebrechen unseres Mittelalters lagen in der Zeit, alle seine Vorzüge in den Menschen; alle Vorzüge unserer Gegenwart liegen in der Zeit, alle ihre Gebrechen in den Menschen. Unsere Väter waren groß und selbst glücklich trotz aller Ungunst der Zeiten. Uns lächelt das günstigste Geschick, wir könnten unter dem hellsten Sonnenschein des Jahrhunderts Juden sein, könnten im Reich der Geister und des Lebens das Judentum, das volle, reiche, unverstümmelte, unverkümmerte Judentum zur Verwirklichung und zur Verherrlichung bringen, ohne die Kerker der Inquisition, ohne die Dolche der Geißler, ohne die Schwerter der Kreuzpilger, ja was noch mehr ist, ohne die Nadelstiche eines verkennenden, verhöhnenden Spottes fürchten zu müssen und wie haben wir diese Gunst des Geschickes belohnt? Welche Tugenden haben wir verdoppelt, welche Frömmigkeit verdreifacht, welche Geistesbestrebung zur Reife und Vollendung gebracht, in denen uns die Väter in den dunkelsten Zeiten des Volkswahns und der Völkermisshandlung vorangewandelt? Unsere Väter hatten ihre Gebrechen? Gewiss! Aber sie hatten auch ihre Tugenden, die, wenn der Enkel an ihrem Grabe ihre Gebrechen vergisst, ihn zu einem Gott verherrlichenden Leben begeistern können. Sorgen wir dafür, dass, wenn einst das Grab auch unsere Fehler bedecken wird, noch so viel von uns übrigbleibe, dass unser Andenken unsere Enkel einst zu einem großen Gedanken begeistern könne. —

Doch wir wollten ja keine Apologie unserer Väter, wir wollten nur eine Apologie für uns, für diese winzigen Zeilen schreiben, dass wir bei dem Gedanken der Sefira[2] es wieder einmal wagen, das Andenken der Ahnen uns näher zu bringen, dass uns das Licht der Gegenwart nicht also blende, ein solches Andenken für „unzeitgemäß“ oder gar überflüssig zu halten, dass wir überall nur an den Fortschritt der Zeit glauben, wenn er die Errungenschaften der Vergangenheit nicht in den Kauf darein gibt.

Wer könnte aber auch Wochen und Tage zum Fest der Thora vom Fest der Freiheit und des Lebens zählen, ohne derer zu gedenken, die das, was diese Zählung lehrt, mit dem Opfer von Jahrhunderten auf dem Hochaltar der Geschichte betätigt, die jeden Augenblick bereit waren, Freiheit und Leben hinzuwerfen, um nur nicht die Thora preiszugeben, die glücklich waren für die Thora zu sterben, so ihnen nicht vergönnt war für die Thora zu leben, die, wie unsere Worte des Gedächtnisses lauten,

Leichter waren als Adler
Und stärker waren als Löwen,
Den Willen ihres Eigners zu vollführen
Und das Verlangen ihres Horts!

„Leichter waren sie als Adler!“ Eine ganze Welt hatte sich vereinigt, ihre Sinne hinabzuziehen in den Schmutz der Sinnlichkeit und Gemeinheit. Selbst die Möglichkeit des kahlsten Daseins hatte man ihnen an die unerschwinglichsten Bedingungen also geknüpft, dass das, was jedem andern Sterblichen als Naturangebinde von der Wiege an mitgegeben ist, das Recht zu sein, sich zu nähren und sein häusliches Nest zu bauen, dem Juden als das höchste Glückslos dahin gestellt war, das von der Gnade der Gewaltigen zu erbetteln, auf Umwegen zu erschleichen oder mit der angestrengtesten Sorge Tag und Nacht zu erkämpfen sein sollte, bis der frische Mut dahin, und die Jugendkraft gebrochen und das Alter mit seinen Schwächen und Gebrechen dämmernd über das Gemüt des Mannes eingezogen. Man hatte Gesetze gegeben, die die Existenz des Sohnes an den Tod des Vaters, die des Bruders an den Tod des Bruders knüpften, die das bloße Dasein zu einem Majoratsgut stempelten, das nur einer in der Familie erben konnte, während die anderen zum Verkommen und Verkümmern verurteilt waren. Gesetze, die, wenngleich nicht berechnet, doch ganz und gar geeignet waren, alle Bande der Familie zu zerreißen, Neid und Hass und Zwietracht da zu säen, wo die Freundschaft und die Liebe und die Zärtlichkeit blühen sollte, die den Vater dem Sohne, den Bruder dem Bruder als den Stein des Anstoßes und des Hindernisses in den Weg schleuderten, und das Gebet für langes Leben der Eltern und Geschwister zu einem Gebet um ewige Verkümmerung des eigenen Selbsts in dem Mund des Kindes und des Geschwisters umwandelten. Die meisten erlaubten Wege der Nahrung hatte man ihnen verboten und das Verbotene erlaubt, und das Erlaubte so verparagraphiert und verklausuliert, dass die Geschicklichkeit eines Äquilibristen[3] dazu gehörte, auf dem schmalen, schwankenden Seil der „Gesetzlichkeit“ dahin zu schreiten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und rechts und links in geöffnete Arme der strafenden „Gerechtigkeit“ zu stürzen, also, dass der Jude das Gesetz nicht als segnenden Schutz, sondern als eifersüchtigen Feind seines Daseins hätte begrüßen müssen und jeder Atemzug ihn daran mahnte, dass nach dem Wortlaut und der Absicht des Gesetzes er eigentlich — gar nicht hätte geboren sein sollen. Keine Kunstfertigkeit der Hand, kein Genius der Fantasie, keine Kenntnis und Erkenntnis des Geistes galt der Gesellschaft an dem Juden etwas. Nicht das kleinste Steinchen seines mit Felsenblöcken verhauenen Lebensweges konnte der Jude mit allem dem sich aus dem Wege räumen. Alle Gesetze, die die Gesellschaft für den Juden gemacht, und mit denen sie sich gegen ihn wie gegen ein wildes Raubtier abhegte[4], sagten dem Juden: suche Geld, das ist das einzige, was wir an dir schätzen. Sei Künstler, sei Dichter, sei Philosoph, du bleibst ein Jud; aber werde reich — und du fängst an etwas zu bedeuten. Geld ist der einzige Zauberstab, mit dem du uns zu rühren vermöchtest. Geld ebnet die Straßen, öffnet die Häuser und Herzen, macht die Strenge des Gesetzes milde, löscht das Tütelchen über dem ü der Jüden, gibt dem Jud seine Endung und lehrt das orientalische Wort Jud in seiner deutschen Endung als Jude deklinieren. Schaffe dir Geld, Jud, sprach die Gesellschaft zum Juden, wir wissen, du schaffst es für uns, darum dulden wir dich, darum erlauben wir dir Wege zum Gelde, die wir uns verbieten, und überweisen dir die Lumpen, den Abhub, den Kehricht, aus dem wir nichts weiterzumachen verstehen, auf dass du daraus — für uns — Geld zu machen versuchest. Also gab man den von Sorgen und Bekümmernissen schweren Quersack auf den Rücken des Juden, gab ihm den Bettelstab in die Hände, und als ob das alles ihn nicht schon genug kennzeichnete, stülpte man den Banditenhut auf sein Haupt, heftete man das gelbe Kainszeichen an seine Brust und stellte ihn so zum Hohn und Gelächter der großen und kleinen Gassenbuben hin. Seht da den Schacherer, mit dem dem irdischen zugekrümmten Rücken, mit dem nur Geld suchenden Blick — seht da das auserwählte Volk auf Erden!

Ja wohl das auserwählte Volk auf Erden! Das nie mehr als eben da, als eben in dieser Erniedrigung, mit der Bürde auf dem Rücken und dem Wanderstab in den Händen seine göttliche Erwählung dokumentierte.

Was hätte es werden müssen unter allen diesen Erniedrigungen, wäre es eben nicht dieses erwählte Volk gewesen! Wagt ihr die Probe mit einem anderen Menschenstamm, mit einer andern Lehre im Busen? Was hätte der Jude werden müssen unter euren Händen? Was hätte dein Großvater unter solchen Erniedrigungen werden müssen, freier, glücklicher, dein Glück nicht kennender jüdischer Jüngling der Gegenwart? Nicht ein Mensch, in dessen Brust jeder höhere Gedanke erstorben, in dessen Gemüt nur der Neid und die Bosheit und die Gier ihr Reich aufgeschlagen, dessen Geist für nichts empfänglich als für die Frage: wie schafft man Geld? Dessen Herz für keine menschliche Regung mehr zugänglich, dem die Not und das Elend und der Riesenkampf um das nackte Dasein nur das Gefühl für das eigne Ich und seine schreiendsten Bedürfnisse, und keinen Raum mehr gelassen für Familienbande, Geschwisterzärtlichkeit, Menschenliebe — bei dem die Wahrheit und das Recht und die Sittlichkeit und Menschlichkeit zu Grabe gegangen, bei dem die Tierheit in ihrer nackten Blöße zu Tage getreten, und in dessen Kreis sich hätte ein Proletariat entfalten müssen, dessen Schrecknisse und sittliche Verkommenheit alles hinter sich hätte lassen müssen, was nur die düsterste Phantasie moderner Schriftsteller aus den Nachtspelunken der glänzenden Zentralpunkte der heutigen Zivilisation schaudernd abzulesen pflegt —?

Und siehe, von diesem allen ward der Jude nichts, nichts dein Großvater, glücklicher Jüngling, mitten in der Erniedrigung nichts; mitten in der Erniedrigung hielt er Kopf und Herz an rechter Stelle, fand die Wahrheit und das Recht und die Liebe und die Sittlichkeit ihre reichste Pflege in seinem Kreise, entfaltete er ein Familienleben, um das ihn die Menschheit beneidet, entfaltete er eine Sittlichkeit, um die ihn die Menschheit beneidet, entfaltete er eine Menschenliebe, um die ihn die Menschheit beneidet, wusste er seine ärmsten Brüder hoch über den Pfuhl des Elends und der Verkommenheit empor zu halten, wusste sich einen klaren Geist und ein warmes Herz, ein stolzes Selbstbewusstsein und eine Freudigkeit und Heiterkeit des Lebens zu bewahren, die du außer den Ghetti vergebens gesucht, und wusste vor allem nicht nur in seinen auserlesenen Persönlichkeiten, wusste in allen Schichten seiner Kreise ein Geistesleben wach zu rufen, das, hoch über das Interesse sogenannter Brotstudien hinaus, sich der Erkenntnis des Wahren und Rechten, des Göttlichen und Heiligen zuwandte und das ärmste seiner Kinder zuerst für den Gedanken und dann für das Leben erzog. — Eine ganze Welt hatte sich verschworen, ihren Sinn hinabzuziehen in den Schmutz der Sinnlichkeit und Gemeinheit, sie zu dem selbstsüchtigsten, grundsatz- und sittenlosesten, in Not und Jammer verkommensten Abhub der Menschheit zu machen, und sie sind das für alles menschlich und göttlich reine Ideale empfänglichste Volk, die für alles menschlich und göttlich reine Ideale opferungsfreudigsten Menschen geblieben, sie haben es verstanden, sich über all den Schmutz und Jammer der Erde adlerleicht zum Göttlichen emporzuschwingen und von ihrem geistigen Felsenhorst aus alle die ihrer Sittlichkeit, Geistigkeit und Heiterkeit feindlichen Elemente tief unter sich zu lassen und die reine Kraft ihres Geistes und Gemütes ungetrübt und ungebrochen für das idealste Leben zu erhalten, das nur den Sterblichen auf Erden zu leben beschieden ist.

„Und sie waren stärker als Löwen!“ Sie hatten den Mut um der Wahrheit willen, die in ihnen lebte, der ganzen Welt Trotz zu bieten, hatten den Mut, sie, das zerstreute, winzigste, waffen- und wehrloseste Häuflein, hatten den Mut, ein fortgesetzter lebendiger Protest gegen die Überzeugungen der ganzen übrigen Welt zu sein, hatten den Mut, die Zorneswut einer ganzen wahngestachelten Bevölkerung auf sich zu laden, und was noch mehr ist, sie hatten den Mut und die Kraft, sie hatten die Löwenstärke all den Drohungen der Gewalt und all den Verlockungen der Verführung gegenüber ihren Überzeugungen treu zu bleiben. Wahrlich, unsere Zeit weiß es gar nicht mehr, welcher Mut und welche selbstbeherrschende Kraft, welche Löwenstärke in den Zeiten unserer Väter dazu gehörte, Jude zu sein. Sie weiß es gar nicht mehr, wie jeden Augenblick über den Häuptern ihrer Väter das Schwert, über ihren Hütten die Brennfackel schwebte und bei jedem Schritte durch die Welt ihnen der Spott und die Drohung begegnete. Sie weiß es gar nicht mehr, mit welchen Opfern ihre Väter die Möglichkeit erkauften, Jude zu sein und um welchen Preis, möchten wir sagen, sie eine jede Mizwa erkauften, die sie übten, und jede Awera[5] beseitigten, von der sie ferne blieben. In den Archiven der Völker ruhen die sogenannten Judenrechte, in deren buntscheckigen Erfindungen ein Wahn den anderen überbot. Es sind das ebenso viele Zeugen des jüdischen Mutes, ebenso viele Trophäen der jüdischen Triumphe, es sind das ebenso viele Dokumente der Verherrlichung einer Ausdauer, einer Kraft und Stärke, einer löwenmutigen Pflichttreue, wie kein anderes Volk sonst auf Erden sie aufzuweisen hat. Es war unter solchen Umständen nichts Kleines, Jude zu sein, es war noch weniger ein Kleines, seine Kinder zu Juden zu erziehen, sie für ein Leben vorzubereiten, das in jedem Augenblick bereit sein musste, die geübte Pflicht mit dem Tod zu bezahlen. Und wenn nun die bangen Stunden der Prüfung kamen, die Satelliten des Hasses oder eines traurigen, geblendeten Wahns, in der einen Hand das Kreuz und alle Ehren und alles Glück irdischer Paradiese, und in der anderen Hand den Tod und die Marter, den Scheiterhaufen und den Dolch und da die Männer und die Frauen, die Greise und die Kinder keinen Augenblick zauderten, keinen Augenblick sich besannen, den Schmerz und dem Tod sich in die Arme stürzten, um als Juden zu sterben waren das nicht die löwenmutigen Braven, die sich hinschlachten ließen, um der Heiligung des göttlichen Namens willen, die die Liebe und die Treue, die sie im Leben bewährten, auch nicht vom Tod sich entreißen ließen, die den Tod überwanden, die zugleich

leichter waren als Adler
 und stärker als Löwen,
den Willen ihres Eigners zu erfüllen
und das Verlangen ihres Horts!

Aber eben darin lag ihre Kraft! Sie hatten einen Eigner und kannten seinen Willen, sie hatten einen Hort und kannten sein Verlangen, das, das allein gab ihnen die Schwungkraft des Adlers und die Mutesstärke des Löwen.

Sie hatten einen Eigner und kannten seinen Willen, die Gottesverehrung war ihnen keine Phrase geworden und die Thora nichts Antiquiertes, das gab ihnen die Schwungkraft des Adlers, das machte es ihnen leicht, sich über alle Niederungen des irdischen Jammers zum Göttlichen aufzuschwingen, ja mitten durch diese Niederungen mit einer Brust voll beseligender Gefühle zu wandeln.

Sie hatten einen Eigner, sie gehörten nicht sich selber an, sie waren noch die aus Mizrajim Erlösten, sie waren noch die, die Gott der Herr mit dem [6] עֲבָדַי הֵם zu seinem Dienst geweiht, sie gehörten noch ihm an mit jedem Blutstropfen ihres Herzens, mit jeder Nervenschwingung ihres Kopfes, mit jeder Muskelkraft ihres Armes, mit jedem Gut das ihnen reifte, mit jeder Seele die ihnen heranblühte, sie waren noch sein, es war ihnen der ernsteste Ernst, wenn sie Gott ihren Herrn nannten, und es war ihnen der ernsteste Ernst, wenn sie sich in seinem Dienst vor ihm beugten. Der Gottesdienst gehörte ihnen nicht zu dem Luxus und den Feierstunden des Lebens, Gott sah sie täglich und stündlich zu seinen Füßen. Wenn sie erwachten, erwachten sie ihm, wenn sie sich wuschen, wuschen sie sich ihm, wenn sie sich ankleideten, kleideten sie sich ihm, und ehe sie zu dem mühe- und prüfungsvollen Werk des Tages schritten, weihten sie Hand, Herz und Kopf seinem Dienst und rüsteten sich im Gebet für das Werk, das ihrer wartete, und in welchem sie erst den rechten Gottesdienst erblickten. Denn ob sie auch täglich, wie die Sonne stieg und wie die Sonne sank, wenn sie aufstanden und sich niederlegten, und wie das Leben in seinem bunten Wechsel an ihnen vorüberzog, aus dem Leben hinaus und zu Gott hinan traten und betend seinen Namen nannten, so war ihnen das alles nur der Anfang, nur die immer wiederholt erneute Stärkung und Weihe zum eigentlichen Dienst ihres Herrn, dessen Willen sie ja kannten, dessen Willen sie ja schriftlich dokumentiert und mündlich kommentiert in Händen hatten und der nicht Beten und Altaropfer, der die Hingebung und Weihe des ganzen Lebens mit all seinen Regungen und Bestrebungen gefordert, der sie alle, alle mit ihrem ganzen Dasein zur Arbeit an seinem Werk, zum Dienst in seinem Reich berufen und ihnen jeden Atemzug und jeden Schritt, jeden Genuss und jede Freude, jeden Schmerz und jede Tat zu Zeichen ihrer Liebe, zu Beweisen ihrer Hingebung, zu tätigen Dienstleistungen an seinem großen Heilesbau der Menschheit umgewandelt, und sie auf diese große Jammerwanderung durch die Wüste der Völker, durch die מִדְבַּר הָעַמִּים [7], wie seiner Propheten Wort sie nennt, eben durch dieses Prophetenwort längst und wiederholt vorbereitet. Es war ihnen Gottesheimsuchung und gottgesandte Prüfung, wenn der Boden unter ihnen bebte, der Aufruhr der Nationen ihnen entgegen wetterte und der zackige Blitz des Hasses sich auf ihre Häupter entlud, denn es war ihnen verkündet, dass sie von Gott ihrem Herrn heimgesucht werden würden im Völkerdonner und Sturm und im flammenden Wetterleuchten der kreisenden Zeiten —  מֵעִ֨ם ה‘ צְבָאוֹת֙ תִּפָּקֵ֔ד בְּרַ֥עַם וּבְרַ֖עַשׁ וְק֣וֹל גָּד֑וֹל סוּפָה֙ וּסְעָרָ֔ה וְלַ֖הַב אֵ֥שׁ אוֹכֵלָֽה. (Jesaias K. 29. V. 6.)[8] — und weil sie mitten in diesen Prüfungen nicht nur zum ergebenen Dulden, sondern zur frischen, frohen, freudigen, lebensvollen Tat sich berufen wussten, לִשְׁמֹר וְלַעֲשׂוֹת, „Lernen und Üben“ ihr ganzes Leben ausfüllte, hatten sie gar keine Zeit, sich dem kleinmütigen Schmerz und der jammernden Verzagtheit hinzugeben, arbeiteten sie sich durch das böseste, dunkelste Wetter der Ereignisse zur lichten Höhe des Gottesgedankens und zu der Paradiesesheiterkeit der Gott dienenden Tat hindurch, und indem sie das ganze düstere Geschick mit in die Summe ihrer von Gott gesetzten Lebensaufgabe begriffen, darin nur den dunkeln Boden erkannten, auf welchem der Wille ihres Herrn und Meisters die lichthelle Erfüllung seines Willens von ihnen erwartete, lernten sie die Wahrheit jenes alten Weisheitsspruches kennen:  [9]שֹׁומֵ֣ר מִצְוָ֔ה לֹ֥א יֵדַ֖ע דָּבָ֣ר רָ֑ע, den Blick auf die Pflicht, auf Mizwa gerichtet, kennt man nichts Böses und Trübes!

Und der Gedanke machte sie mutig und stark, „sie kannten ihren Hort und wussten sein Verlangen“. Wohl waren sie dies schwache zerstreute Häuflein, das der blinden Gewalt einer ganzen, wutentbrannten Welt sich wehrlos gegenübersah. Allein sie kannten ihren Hort, sie wussten, wer sie dort hinaus gestreut, sie wussten, wer für sie den Kampf auskämpft, sie wussten, dass sie nicht auf ihr Schwert zu bauen und auf ihren Bogen zu trauen hatten, sie kannten ihren Hort, ja sie sahen ihn, sahen ihn in ihrer Schwäche, sahen ihn in dem Wunder ihrer Rettung und Erhaltung alle die Jahrhunderte der tausendfältigsten Kämpfe hindurch, sahen[10]  הֵן הֵן גְּבוּרוֹתָיו הֵן הֵן נוֹרְאוֹתָיו darin seine Allmacht, darin seine von allen zu fürchtende Wundergröße, und mit jeder neuen Prüfung und neuen Rettung wuchs nur diese Erkenntnis.

Sie kannten ihren Hort, sie wussten, dass es nicht ihre Sache war, um die sie litten, dass sie nicht ihre Sache zum Siege zu bringen hatten, sie wussten, dass sie nur schwaches, vergängliches Werkzeug in den Händen des ewigen, starken Horts der Zeiten waren, der durch sie sein ewiges Ziel erreichen und das ewige Reich seiner Verherrlichung im Kreis der Menschheit erbauen wollte. Darum zitterten sie nicht, darum verzagten sie nicht, darum waren sie mutig und stark, mitten im Sturm der Zeiten, mutig und stark alles um seines Namens willen zu dulden. Sie wussten, wer gegen sie ankämpfte, kämpfte gegen Gott und sein Reich auf Erden an, und darum wussten sie, sie konnten nicht unterliegen, der Sieg ihrer Sache war ihnen sicher. Was lag ihnen daran, dass man sie niedermetzelte, auf Scheiterhaufen verbrannte, ihre Häuser anzündete, ihre Weiber und Kinder mordete, oder sie mit Weib und Kind beraubt und geplündert in die heimatlose Fremde trieb. Sie waren dennoch die Sieger, der Scheiterhaufen war ihre Trophäe, das Marterbett ihre Glorie, aus ihrem Tod stieg immer glänzender das „Kiddusch Haschem“, immer glänzender und leuchtender die Verherrlichung Gottes und seines heiligen Wortes empor, sie starben — und hatten gesiegt.

Sie kannten ihren Hort und wussten sein Verlangen, darum kümmerte sie das Urteil der ganzen Welt nicht. Sie hatten nur einen, dem sie zu gefallen strebten, und sie wussten, was ihm gefiel. Sie ließen durch nichts ihren Glauben an Gott erschüttern, darum waren sie selber unerschütterlich in ihrer Treue und kein Spott konnte sie von ihrem Gott und seinem Willen fortspotten, und keine Gewalt sie diesem entreißen. Mochte die Welt sie „die blinden, törichten Juden“ schelten, „besser unser Leben lang in den Augen der ganzen Welt Toren, nur nicht einen Augenblick schuldbeladen vor unserem Vater und Herrn im Himmel“ war ihr Wahlspruch und diese Maxime war ihr Leitstern im Leben und machte sie fest und unerschütterlich im Tode.

So waren die Väter, und da hätten wir, ihre Söhne und Enkel, nichts zu lernen? Nichts in einer Zeit, deren Weisheit dem Menschen seinen Gott und Israel seinen Hort und sein Wort zu entreißen bemüht ist? Nichts in einer Zeit, die Israel bereits irre gemacht hat an seinem ewigen Beruf, an seinem Herrn und Meister, an seinem Fels und Hort, und vor allem irre gemacht hat an dessen Willen und Verlangen? Die Israel die Schwungkraft seiner Väter und die Siegesstärke seiner Ahnen gebrochen und damit seine Zukunft dem trostlosesten Ungefähr alles Schwankens und Wankens überliefert? Da sollten wir nicht an die Gräber der Verstorbenen hingehen,

Die im Leben seiner Liebe und seinem Wohlgefallen gelebt
Und auch im Tode von ihm sich nicht trennten,
Die leichter waren als Adler
Und stärker waren als Löwen,
Den Willen ihres Eigners zu erfüllen
Und das Verlangen ihres Horts,

und sollten an ihren Gräbern nicht lernen, Juden zu sein? — — —


[1] Mildtätigkeit

[2] Dem Zählen der Omertage zwischen Pessach und Schawuoth

[3] Äquilibristik = Kunst des Gleichgewichthaltens

[4] abhegen = ein-, umzäunen

[5] Sünde

[6] Meine Knechte sind sie

[7] Wüste der Völker

[8] Vom Herrn Zebaot kommt es, durch Donner und Erdbeben und mächtiges Getöse, Sturm und Wetter und verzehrende Feuerflammen. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[9] Sprüche 8:5; „Wer das Gebot beobachtet, erfährt nichts Böses, der Sinn des Weisen kennt Zeit und Schicklichkeit.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[10] Bartenura zu „Sprüche der Väter“ 1:1

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