Elul.

Dieser Artikel über die bevorstehenden Slichot-Tage wurde von Herrn Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l in der Zeitschrift „Jeschurun“, Jg. 4, Heft 12 im September 1858 veröffentlicht.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2942721

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Die vierwöchentliche Vorbereitung des Rosch Haschanatages.
Die unter dem Namen Slichoth[1] begriffenen Gebete in ihrer nationalen Stimmung.

Das Jahr geht zu Ende und der Schofar mahnt uns, dass die Tage bereits gezählt sind bis zum Erscheinen des Schofar-Tages[2], der uns mit Schofar-Macht vor den Thron unseres Königs und Richters und Vaters hinladen wird, um vor seinem Angesicht die Erneuerung des Lebens zu gewinnen. Preisen oder belächeln wir unsere Väter, dass sie sich eine vierwöchentliche Vorbereitung für diesen Tag gestiftet, dass ihnen Rosch Haschana nicht nur Gedanken der Hoffnung und der Wünsche, dass er ihnen Gedanken der Arbeit brachte, mit welcher sie das Recht zu hoffen und die Erfüllung der Wünsche erst erwerben zu müssen geglaubt, dass es ihnen nicht gleich galt wie sie dem Rosch Haschanatag entgegen gingen, dass sie in ihm eine Aufgabe erblickt, für deren Lösung ihnen vierundzwanzig Stunden zu eng geworden, dass sie den יוֹם תְּרוּעָה[3] durch  [4]יְמֵי סְלִיחוֹתverdienen zu müssen geglaubt? Preisen oder bemitleiden wir ihre Enkel, die nicht nur keiner solchen Vorbereitung für den Rosch Haschana bedürfen, die einen so tiefsinnigen Glauben an die völlig zureichende, ja noch Überschuss bietende Kraft dieses einzigen Tages und seines Zwillingsbruders, des Jom Kipur[5], haben, dass ihnen diese beiden Tage als Stellvertreter des ganzen Jahres dienen, ja dass sie für den geschäftlichen Abbruch dieser beiden Tage sich bei ihrem merkantilischen Gewissen noch mit der Entschuldigung rechtfertigen zu müssen glauben: Einen Tag muss doch der Mensch im Jahr für seinen Gott übrig haben! Unsere Väter waren so „einfältig“ zu glauben, Gott — bedürfe gar keines unserer Tage, wir aber, wir dürften vielleicht seiner bedürfen, seines Beistandes und seiner Gnade, seiner Erleuchtung und seines Segens, seiner Nähe und unserer Erhebung und Weihe und Hingebung an ihn, meinten aber, dann bedürften wir seiner nicht nur an diesem und jenem Tage, nicht nur am Anfang und Ende unserer Jahre, bedürften seiner vielmehr zu jeder Zeit und jeder Stunde und da stünde ein jeder Tag und eine jede Stunde also in eigenem Bedürfnis da, dass kein Tag Stellvertreter eines andern, geschweige denn des ganzen Jahres sein könne und der gewöhnlichste unter den dreihundert vierundfünfzig Tagen unseres Jahres uns so vor Gott finden müsste, wie der Neujahrs- und der Versöhnungstag! Um doch auch einmal „mit der Gemeinde des Herrn im Tempel andächtig“ zu sein, dazu bedurften sie weder des Rosch Haschana noch des Jom Kipur. Sie waren ja nicht fremd, sie waren heimisch im Gotteshaus; zweimal, dreimal täglich sah sie das Gotteshaus, mitten aus dem geschäftigen Leben flüchteten sie sich zu ihrem Gott, und holten sich im Gotteshaus Trost und Stärkung, Freudigkeit und Mut für das Leben des gewöhnlichsten der Tage, und wie das im Gotteshaus aufbewahrte „Brot der Gemeinschaft“ symbolisch die Synagoge als das gemeinschaftliche Wohnhaus aller bezeichnen sollte, so war es auch in Wirklichkeit allen die heimischste Heimat, dort wurzelten sie mit jeder Faser ihres Herzens und das Leben draußen erntete die Frucht, deren Keime im Gotteshause gezeitigt —  שְׁתוּלִים בְּבֵית ה‘ בְּחַצְרוֹת אלוקנו יַפְרִיחוּ[6].

Um einen Tag andächtig im Gotteshaus zu verleben, brauchten sie sich nicht wochenlang zuvor mahnen und wecken zu lassen.

Ein ganz anderes war’s, was sie schon von Elul an aufregte, was sie schon wochenlang zuvor mit dem Frührot, ja, vor dem Frührot weckte und sie in der frühen Tag- und Nachtscheide aus der Nacht sich zum Licht vor ihrem Gott emporringen ließ. Es war der ernste Gedanke der Verantwortung, der sie weckte, es war der Gedanke an das Gottesgericht, der sie bewegte, es war das große Geschäft der Selbstumwandlung, das ihnen keine Ruhe ließ; denn es war der [7]יוֹם הַדִּין, dem sie entgegen gingen. Ihnen war ר“ה[8] und י“כ [9] noch nicht herabgesunken zu einem „Buß- und Bettag“, den sich, gleichviel welchen, die Menschen willkürlich bestimmen, um doch einen Tag zu haben, an welchem man sich mit Gott zurechtfinde; ihnen war noch der ר“ה der von der von Gott angeordnete [10] יוֹם תְּרוּעָה, יוֹם הַזִּכָּרוֹן, an welchem [11]מִשְׁפָּט לאלקי יַעֲקֹב! Es war ihnen das alles noch nicht Hyperbel[12] und nichtssagende Floskel geworden. Sie kannten ihren Richter und kannten auch sein Gesetz. Sie hatten seinen Kodex in Händen. Sie wussten, wie er sie verlangte, wussten, wie sie sein müssten, wenn er sie rein sprechen sollte. Selbst der Verbrecher wusste dies. Selbst der Sünder wusste, dass er gesündigt. Selbst wer im Leben sich kühn über das Gesetz hinwegsetzte, wusste sich im Gegensatz zum Gesetz, wusste sich im Gegensatz zu dem unveränderlichen Willen Gottes — der seiner nun als Richter wartete. Über das, was dazu gehört, „Jude“ und „Jüdin“ zu sein, darüber waltete nirgends ein Zweifel. Die Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit des göttlichen Gesetzes war im Prinzip noch nirgends angetastet. Jene Sophistik[13] war noch nicht geboren, die nicht den Menschen vor das Tribunal des göttlichen Gesetzes, die das göttliche Gesetz vor das Tribunal des Menschen lädt, die nicht von der Umwandlung des Menschen nach den Forderungen des göttlichen Gesetzes, sondern von der Umwandlung des göttlichen Gesetzes nach den Forderungen der Menschen predigt, die nicht auf den Fortschritt der Juden, sondern auf den Fortschritt des Judentums dringt und nicht uns, sondern der תּוֹרָה[14] den יוֹם הַדִּין7  ankündigt. Jene „pastoralkluge Weisheit“ war noch nicht da, die, damit auch der gesetzhöhnendste jüdische Verbrecher noch „ihr“ bleibe, die Wahrheit und den Ernst des Gesetzes verleugnet, die Abfall zur Tugend, die Höhnung zum Fortschritt, die Pflichtvergessenheit zum Prinzip der Bildung und der Erleuchtung stempelt, einen armseligen Fetzen vom göttlichen Gesetz als magna charta[15] des Judentums emporhält und indem sie das wahre Bewusstsein der jüdischen Pflicht raubt, die ganze Wahrheit der jüdischen Verantwortung und der jüdischen Selbstumwandlung vernichtet. Von dieser Weisheit hatten die Väter noch nicht gekostet und darum riefen sie mit der Mahnung: 1 !סְלִיחוֹת in jeder jüdischen Brust den Gedanken ihrer Verzeihungsbedürftigkeit wach, wach das Bedürfnis, vor dem יוֹם הַדִּין sich selber mit dem Maß des göttlichen Gesetzes zu messen und die Tage zuvor zu einer so ernsten Selbstbearbeitung, zu einer so ernsten Selbstumwandlung zu benutzen, dass man mit dem festen Vorsatz eines kräftigeren besseren Lebens vor dem Throne des Richters erscheine und der Hoffnung auf sein: סָלַחְתִּי כִּדְבָרְךָ![16] Raum geben dürfe.

Werfen wir einmal einen flüchtigen Blick auf die Gebete, mit welchen sie an den Tagen der סְלִיחוֹת unsere Entschlüsse für dieses so ernste Geschäft zu wecken beabsichtigten, so sind es Gedanken von dem innigen, unmittelbaren, keines Mittlers bedürftigen Verhältnis, in welchem jedes Menschenwesen zu Gott stehe, wie alle, alle Menschen auf weiter, weiter Erde zu seiner Verehrung und seinem Dienst kommen sollen, kommen werden, wie darum vor allem wir, wir voranzugehen haben in solcher Verehrung und solchem Dienst, — Gedanken von seiner Allmacht und Größe, seiner Gnade und Liebe, seiner Langmut und Huld, seiner Wahrheit und Gerechtigkeit, und von dem großen Augenblick, in welchem mit den wiedererrungenen Tafeln des Gesetzes in Händen, Mosche diese Offenbarung der den Menschen richtenden und erziehenden und lehrenden Gotteswaltung als den Felsen-grund erhalten, auf welchem alle Zukunft seines Volkes stehe und sich vollenden solle — so sind es diese Gedanken, die uns empfangen und zu welchen eine jede Betrachtung wieder zurückleitet.

Allein in den ganz eigentlich unter dem Namen סְלִיחוֹת begriffenen Dichtungen tritt uns eine Eigentümlichkeit als höchst charakteristisch hervor, dass sie fast durchweg nicht vom individuell menschlichen, sondern vom jüdisch nationalen Standpunkt das Bewusstsein der Verzeihungs- und Besserungsbedürftigkeit zu wecken bestrebt sind. Wir würden, wenn irgendwo, so insbesondere für Gedanken der Schuld und der Sünde, der Sühnebedürftigkeit und der Besserung rein aus dem individuellen Leben heraus unsere Betrachtungen schöpfen und an das individuelle Sein und Streben Mahnung und Erweckung anknüpfen. Nicht so unsere Gebete. Auch hier erwarten sie uns auf nationalem Standpunkt und an unser jüdisches Nationalgefühl und Nationalbewusstsein glauben sie am wirksamsten appellieren zu dürfen.

Die Leidenszustände sind es zuerst, die sie im Vordergrund unserem Bewusstsein vergegenwärtigen. Die Beschränkung und den Druck, die Unterdrückung und den Hohn, die Leiden und Seufzer, die Not und den Jammer lassen sie uns herausfühlen, die unseren Zustand auf Erden verkümmern; wenn irgendwo, scheinen sie zu meinen, so liegt hier der Beweis unserer sittlichen Mangelhaftigkeit, unserer Verzeihungs- und Besserungs-Bedürftigkeit. Entspräche unser Leben dem hohen Ideal des göttlichen Gesetzes, so müssten wir glücklich und geachtet sein auf Erden. Denn es (das Gottesgesetz) ist gekommen, uns nicht nur von der Schuld, sondern eben dadurch auch vom Unglück auf Erden zu erlösen. Es ist gekommen, nicht nur eine jenseitige Seligkeit uns zu bringen, sondern schon diesseits auf Erden unser irdisches Dasein durch die schützende und segnende Gottesnähe paradiesisch zu gestalten. Nicht in der Ertötung und Verkommung, nicht in dem absterbenden Dahinwelken und in sich abhärmenden Jammergestalten sucht es ja das Ideal seiner Verwirklichung; Freude und Heiterkeit, Blüte und Leben will es verbreiten, und jede Träne, die noch geweint wird, jeder Seufzer, der noch nicht gestillt ist, jeder Schmerz der noch nicht seine Heilung, jede Wunde die noch ihren Balsam nicht gefunden, sind ebenso viele Beweise, dass Gottes Gesetz noch in unserem Leben keine volle Wahrheit geworden. Und eben unser Nationalleiden, das Leiden unserer Galuthgesamtheit ist es hier wieder zunächst, dem unsere Gefühle sich zuwenden sollen. Unserer Väter Blick war nicht so beschränkt und ihr Herz nicht so eng, wie Blick und Herz ihrer — kosmopolitisch — gebildeten Enkel! Meint ihr, dass es nicht zu allen Zeiten, mitten in der dunkelsten Nacht der Jahrhunderte, einzelne unter uns gab, die durch Vermögen und Ansehen sich vom Druck des Galuth emanzipiert fühlen durften? Dass nicht auch in der Vergangenheit bereits hier und da periodisch und sporadisch die Morgenröte freier Zustände gedämmert? Aber darum vergaßen die Väter über das eigene Glück nicht der Not und des Jammers, die ihre Brüder drückten, schauten die glücklicher Gestellten doch wehmutsvoll über das eigene Weichbild hinaus auf das Elend, unter welchem in allen Zonen Jakobs-Familien schmachteten, und wo ihnen vorübergehend der Strahl einer heiteren Morgenröte zu winken schien, da jubelten sie dem nicht wie der bereits errungenen Erlösung entgegen und tilgten nicht rasch die Spuren der Tränen und Seufzer, die die Väter in ihre Gebetbücher geweint. Sie kannten das wandelnde Geschick, das sich an die Launen der Interessen der Sterblichen knüpft. Nicht von Menschen erwarteten sie ihr Heil. Auf Gott war ihr Blick gewandt; so lange Er die Seinen noch nicht unter seinen Gnadenfittich wieder gesammelt, solange Er „die Träne nicht von jedem Antlitz getrocknet und die Schmach und die Verkennung seines Volkes von der Erde nicht getilgt“, so lange, meinten sie, sei das Galuth nicht zu Ende — so lange sei Besserung! und ewige Besserung! die Mahnung, die das Geschick an uns predigt und aus diesem Bewusstsein heraus dichteten sie ihr Wort.

Es liegt aber eine unendlich überwältigende Kraft in dieser nationalen Stimmung unserer Slichoth. Sie machen die Schuld eines jeden Einzelnen verantwortlich für das nationale Unglück, das, wo immer auch, auf unserer Gesamtheit lastet; sie klagen den Leichtsinn, die Sünde, die sittliche Mangelhaftigkeit und die Pflichtvergessenheit eines jeden Einzelnen an für die Tränen, die Jakobs Wangen netzen, für die Schmach, die Judas Heiligtümer deckt. Ihnen ist die jüdische Gesamtheit keine leere Abstraktion, die nirgends ihre konkreten Träger hätte, sie fassen die Gesamtheit in jedem Einzelnen ihrer Glieder, sie befinden sich überall in dem Mittelpunkt der Nation, jeder Jude, jede Jüdin ist ihnen kein Individuum, ist ihnen nur ein Bruchteil des Ganzen, [17] כָּל יִשְׂרָאֵל עֲרֵבִים זֶה לָזֶה denken sie, und sprechen zu jedem Einzelnen: bessere dich, auf dass du Israel und die Schechina aus dem Galuth erlösest.

Und sollen wir diese nationale Stimmung unserer סְלִיחוֹת nicht zu der unsrigen machen, sollen wir eben in der Zeit der Vorbereitung für den ernsten Tag der Rechenschaft und der Verantwortung uns nicht mit dem ganzen Gewicht der Verantwortlichkeit erfüllen, die wir mit jedem unserer Schritte nicht nur für das eigene Heil, sondern für das Heil unserer Gesamtheit tragen? O, das Erlöschen dieses jüdischen Nationalbewusstseins, das Ersterben dieses Gesamtheitsgefühls wäre schon eine schwere Verirrung unserer Tage, umso schwerer, je mehr die Leiden unserer Gesamtheit aus dem Gebiete der materiellen Interessen in das geistige Gebiet unseres eigensten jüdischen Daseins zu treten, je mehr nicht die materielle Existenz und nicht von außen, sondern das geistige jüdische Leben im eigenen, inneren Kreise gefährdet zu sein scheint. Nicht dass nicht selbst diejenigen, die nur ein Gefühl für die materiellen Leiden Israels haben, die nur noch Sympathie für die Judenheit aber keine mehr für das Judentum kennen, die die volle und allgemeine politische Emanzipation der Juden als die volle und wirkliche Erlösung begrüßen würden und die vor einem Dezennium[18] erschienene Anbahnung auch in der Tat als eine solche begrüßt haben, nicht dass nicht selbst diese die alten Slichoth wieder zu Händen nehmen und sich vor Gott ihre Enttäuschung gestehen dürften. Die Ereignisse der jüngsten Zeit dürften manchem schmerzlich die Binde von den Augen gerissen, dürften manchen gelehrt haben, wie auch noch im neunzehnten Jahrhundert[19] des jüdischen Galuth Israels Wahlspruch bleiben müsse: טוֹב לַחֲסוֹת בָהּ‘ מִבְּטוֹחַ בְּאָדָם, טוֹב לַחֲסוֹת בָהּ‘ בִּנְדִיבִים![20]   Dürften manchem den Gedanken nahe gelegt haben: Wer weiß, ob nicht die Begeisterung, die in unsern Tagen einst Völker und Führer zur Sühne des an Israel begangenen Unrechts geweckt — wie vorübergehend sie gewesen — nur ein Fingerzeig an Israel habe sein sollen, dass das [21]הַיּוֹם אִם בְּקֹולוֹ תִשְׁמָעוּ kein Traum, dass Israels Gott nur zur rechten Zeit, die nur Er weiß, die Herzen der Nationen zu berühren brauche וְהָיוּ מְלָכִים אֹומְנַיִךְ וְשָׂרוֹתֵיהֶם מֵינִיקֹותַיִךְ[22], [23]וְהֵבִיאוּ אֶת כָּל אֲחֵיכֶם מִכָּל הַגּוֹיִים מִנְחָה לַה‘ Wer weiß, ob es nicht eine Versuchung, eine an uns ergangene Prüfung gewesen [24] לָדַעַת אֶת אֲשֶׁר בִּלְבָבֵנוּ uns selber kennen zu lernen, ob wir schon reif für die Erlösung wären, ob wir im Glück und in der Freiheit Gott und seinem heiligen Gesetz die Treue bewahren würden, die wir im Unglück und Druck ihnen bewährt. Wer weiß wie viel eben in diesen Tagen der Selbstverantwortung alle die sich vor Gott anzuklagen haben, die um die Gunst der Völker das Wohlgefallen ihres Gottes verscherzt, die bereit waren, das Judentum dreinzugeben um die Judenheit zu retten, denen die תּוֹרָה kein zu hoher Preis für die bürgerliche Emanzipation geschienen, ja, die die Erlösung vom Galuth zugleich als eine Erlösung vom „Joche“ des göttlichen Gesetzes gefeiert — wer weiß, wie viel sie, eben sie sich anzuklagen haben, wenn die Schatten der alten Galuth-Nacht wieder heraufdämmern und überall Schergen bereit stehen, die alten Fesseln für Israel wieder zu schmieden — wer weiß, ob nicht eben sie durch ihre verblendete Überschätzung und Vergötterung der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit das drohende Gespenst der alten Schmach wieder heraufbeschwören[25], כִּי לֹא יִטֹּושׁ ה‘ אֶת עַמּוֹ וְנַחֲלָתוֹ לֹא יַעֲזֹוב, weil eben Gott sein Volk nicht verlässt und nicht fahren lässt sein Erbe.

Allein es ist nicht die Verantwortlichkeit für diese materielle Schmach, die uns wieder droht, von der wir hier zu sprechen gedachten. Glücklich die Väter, deren Nationalbewusstsein sich nur der bürgerliche Druck, das Galuth, als die gemeinsame Kalamität[26] darstellte, für deren Fortdauer sich auch der Einzelne anzuklagen, und deren Ende auch der Einzelne durch seine Besserung, durch seine treuere Erfüllung des göttlichen Gesetzes herbeizufördern sich vorzusetzen hatte. Glücklich sie, die die Verantwortlichkeit nicht kannten, welche heutzutage jeden seiner Stellung sich bewussten Juden mit doppelter Schwere zu Boden zieht, die nur den Gesamtschmerz um die Judenheit zu tragen hatten, aber vor dem Gesamtschmerz um das Judentum bewahrt blieben. Die Judenheit sahen sie leiden, die Judenheit sahen sie bluten, der Judenheit sahen sie Tod und Marter, Fessel und Kerker bereitet; aber das Judentum triumphierte, aber das Judentum lebte unangetastet und entfaltete sich frei, von der Gesamtbegeisterung getragen, im Kreise seiner Kinder. Wir aber, die wir die Zeiten erleben mussten, in welchen die frei gewordenen oder frei sich dünkenden Söhne des Judentums den Kampf gegen die eigene Mutter begonnen, ihre eigene Mutter bei den Machthabern der Völker verlästert, Veranstaltungen heraufbeschworen, die der תּוֹרָה, die dem göttlichen Gesetz das Exil am eigensten Herd bereitet, also dass in weiten, weiten Kreisen das Judentum seinen eigenen Kindern fremd geworden und bereits ein zweites und drittes Geschlecht in Unkenntnis und Verkennung seines heiligsten einzigen Berufes heranwächst — wer ist es, der die Frage mit ruhigem „Ja“ sich zu beantworten vermöchte: bist du deinesteils nicht mit Schuld an diesem Verfall, tust du deinesteils alles, dich der furchtbar großen Verantwortung zu entledigen, zu der in solcher Zeit, das כָּל יִשְׂרָאֵל עֲרֵבִים זֶה לָזֶה17, für jedes jüdische Bewusstsein erwächst? Spornt uns der Abfall zu doppelter Treue, wie er müsste, weckt uns der Leichtsinn zu doppeltem Ernst, wie er müsste, wächst unsere Entschiedenheit in dem Maße, wie jenseits das Schwanken, ja die völlige Höhnung fortschreitet? Genügen wir mit unserm Ernst, unserer Hingebung, unserer Opferfreudigkeit dem Ernst der Zeiten? Sind wir nicht selbst von dem Schwanken ergriffen und zählt man uns vielleicht deshalb nur rechts, weil wir noch nicht völlig links hinübergetaumelt? Setzen wir unser Gut und Blut, unsere Ehre und unser Ansehen, unsere Freundschaft und Verwandtschaft für die Aufrechterhaltung der Heiligtümer, für die Erfüllung des göttlichen Gesetzes, für die Rettung des Judentums, für unsere Kinder und Kindeskinder ein? Begreifen wir, was es heißt [27] מְקַדֵּשׁ הַשֵּׁם sein? Begreifen wir, חִילּוּל הַשֵּׁם[28] in unserer Zeit? Ist uns das  [29]וְנִקְדַּשְׁתִּי בְּתוֹךְ בְּנֵי יִשְׂרָאֵל, das וְלֹא תְחַלְּלוּ אֶת שֵׁם קָדְשִׁי[30] das [31]וּמִמִּקְדָּשִׁי תָּחֵלּוּ Tag und Nacht gegenwärtig? Wissen wir’s, betätigen wir’s, dass vor allem im inneren jüdischen Kreis Gottes Name geheiligt werden will, dass er den Abfall unserer Brüder auf unsere Rechnung stellt, wenn wir durch Wort und Beispiel einem solchen Abfall hätten entgegenwirken können, wenn wir durch unsere Hingebung, unsere sittliche Vollendung, unsere Heiligung, unsere volle und ausnahmslose Gesetzerfüllung eben dieses göttliche Gesetz in seinem vollen lichten Glanz hätten zur achtunggebietenden, herzengewinnenden Anerkennung bringen können und haben es nicht getan, sind der erhabenen Größe unserer heutigen Aufgabe zu kurz geblieben, haben durch das Schwanken, durch die Mangelhaftigkeit unseres eigenen Lebens, durch schmählichen Verrat in der Stunde der Prüfung und Versuchung unseren abgefallenen Brüdern nur beschönigenden Vorwand in die Hände geliefert, oder haben uns in den Mantel unserer eigenen Gerechtigkeit gehüllt und haben kein Auge gehabt für den Abfall der Brüder und Schwestern, für den Abfall der Söhne und Töchter, keine Träne für Zions Fall, keinen Seufzer für Israels beispiellose Gesunkenheit?

Das Jahr geht zu Ende, der Tag der Verantwortung naht, was haben wir getan, im Laufe des Jahres getan, auf dass es besser werde in Israel, auf dass der Abfall sich nicht mehre, auf dass der Leichtsinn zur Besinnung, auf dass die Wahrheit zur Anerkennung und die ewige unverbrüchliche Heiligkeit des uns anvertrauten Gottesschatzes zur Achtung komme? Haben wir die Erkenntnis der תּוֹרָה gefördert? Haben wir der Erfüllung der תּוֹרָה Vorschub geleistet? Haben wir einen Knoten fester geschürzt in der jüdischen Erziehung unserer Kinder? Vor allem haben wir selber so gelebt, haben wir im eigenen Leben und in dem Leben unserer Kinder und unserer Familie die Reinheit und Wahrheit, die Gerechtigkeit und Liebe, die Heiligung und Weihe, mit einem Wort, das göttliche Gesetz also zur Verwirklichung gebracht, dass Gott uns unsern irregegangenen Brüdern zum Muster hinstellen und sprechen könnte: ! עַבְדִּי אָתָּה יִשְׂרָאֵל אֲשֶׁר בְּךָ אֶתְפָּאָר[32]

Der Schofar ruft, die Morgenröte weckt uns für den Ernst des Tages bereit zu sein! O, dass uns alle dieser Ernst, der Ernst der סְלִיחוֹת -Tage in seinem ganzen Ernst erfasste, dass er uns so ernst, mit solchen ernsten, entschiedenen Entschlüssen für unsere Zukunft vor unsern Gott geleitete, dass diese Zukunft sühnend für die Vergangenheit einträte, und Er zu unserer verfehlten Vergangenheit spräche:

סָלַחְתִּי! [33]


[1] Gebete um Verzeihung, Vergebung der gegenüber Gott getätigten Sünden

[2] Rosch HaSchana, Neujahrsfest

[3] Tag des Posaunenschalls (Schofar)

[4] Tage der Vergebung

[5] Versöhnungstag

[6] Psalm 92:14; Gepflanzt im Hause des Herrn, in den Höfen unseres Gottes blühen sie. (Übersetzung Rabbiner Bernfeld)

[7] Tag des Gerichtes

[8] Abkürzung für Rosch Haschana

[9] Abkürzunh für Jom Kipur

[10] Tag des Posaunenschalls, Tag der Erinnerung (alles Bezeichnungen für Rosch Haschana)

[11] Der Gott Jakobs Gericht hält

[12] Wikipedia: In der Sprachwissenschaft wird als Hyperbel das rhetorische Stilmittel der Übertreibung bezeichnet.

[13] Denkweise

[14] Thora

[15] Bedeutender Gesetzestext

[16] „Ich verzeihe, wie ich versprochen“

[17] Frei übersetzt: „Jeder Jude haftet für den anderen“

[18] Zeitraum von zehn Jahren, Jahrzehnt

[19] und wohl erst recht im zwanzigsten Jahrhundert

[20] Psalm 118:8-9; Besser ist es, sich beim Herrn zu bergen, als auf Menschen zu vertrauen. Besser ist es, sich beim Herrn zu bergen, als auf Edle zu vertrauen. (Übersetzung Rabbiner Bernfeld)

[21] Psalm 95:7; heute, wenn ihr meiner Stimme gehorchen würdet

[22] Jesaja 49:23; Könige sollen deine Wärter sein und ihre Fürstinnen deine Ammen;

[23] Jesaja 66:20; Sie werden bringen all eure Brüder aus allen Völkern eine Gabe dem Herrn (Übersetzung Rabbiner Bernfeld)

[24] In Anlehnung an Deuteronomium 8:2; Um zu erkennen was in unseren Herzen ist

[25] Geradezu prophetisch was Rabbiner Hirsch hier schreibt, denn genauso so kam es!

[26] schlimme, missliche Lage

[27] Gottes Namen zu heiligen

[28] Gottes Namen zu entweihen

[29] „Ich werde geheiligt werden unter den Kindern Israels“

[30] „Ihr sollt meinen heiligen Namen nicht entweihen“

[31] „Und mit meinem Heiligtum beginnt es“

[32] Jesaja 49:3; Mein Knecht bist du, Israel, an dem ich mich verherrliche. (Übersetzung Rabbiner Bernfeld)

[33] Ich habe euch verziehen

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