Zum Trauerfesttag der Tempelzerstörung.

Einleitung zum Monatsblatt Aw
Von Michael Bleiberg

Dieser Text wurde bereits auf der Internetplattform der Hirschinitiative e.V. www.hirschinitiative.de 2021 veröffentlicht. Ich habe mich entschlossen ihn hier auch noch einmal in gedruckter Form wiederzugeben, da ich ihn für sehr wesentlich halte, wenn man verstehen will, wie es zur Abkehr vom orthodoxen Judentum gekommen ist und wie die Abkehr sich durch Jahrtausende immer wieder wiederholt!

Der hier ausgewählte Artikel von Rabbiner Hirsch zum Monat Aw ist schwierig zu lesen. In der Transkription vom Text mit gotischen Buchstaben zum Text mit lateinischen Buchstaben habe ich bereits versucht für einige Erleichterungen beim Lesen des Textes zu sorgen. Das wird jedoch manchen nicht ausreichen.  Deshalb möchte ich hier zum besseren Verständnis des Textes eine kleine Inhaltsangabe vorausschicken.

Thema des Textes ist der 9. Aw, obwohl Rabbiner Hirsch inhaltlich nur kurz am Anfang und am Ende seines Artikels darauf eingeht. Wichtiger ist ihm der Versuch der Erklärung, wie es zum Verhängnis des 9. Aws kommen konnte.

Zur Erklärung dessen verwendet er hierfür einen halachischen Midrasch, genannt Sifre, zum Tora-Abschnitt Bechokotai im 3. Buch Moses – Vajikra (Levitikus) an. In diesem Toraabschnitt wird dem Jüdischen Volk prophezeit was geschehen wird, wenn es den Weg des göttlichen Gesetzes verlässt. Der Autor des Sifre, beschreibt 7 Phasen, wie das Volk sich schrittweise vom Pfad der Tora entfernt – bis hin zur Gottesleugnung.

Im besagten Wochenabschnitt (3. Buch Moses, Kapitel 26, Vers 14,15) heißt es wie folgt (Übersetzung Rabbiner Hirsch):

„Wenn ihr aber mich nicht hören werdet und werdet nicht ausführen alle diese Gebote; und wenn ihr meine Gesetze verachten werdet und wenn eure Seele meine Rechtsordnungen verwerfen wird, damit alle meine Gebote nicht ausgeführt werden, so dass ihr meinen Bund aufhebet —“, dann …………….

Der Sifre sieht hier die Phasen zur Gottesleugnung wie folgt vereinfacht dargelegt:

  1. Wer die Gesetze der Tora nicht lernt,
  2. wird sie auch nicht üben (praktizieren).
  3. Wer demnach das Gesetz nicht lernt und nicht übt, wird letztendlich auch andere, die es üben, verachten.
  4. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, und diejenigen, die es üben, verachtet, wird dann auch die Weisen hassen, die es lehren.
  5. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, andere, die es üben, verachtet, und die Weisen, die es lehren, hasst, den wird letztendlich auch stören, dass andere das Gesetz erfüllen.
  6. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, sowohl die Übenden verachtet als auch die Lehrenden hasst, und die Erfüllung des Gesetzes stört, wird letztendlich die ganze Gesetzoffenbarung am Sinai leugnen.
  7. Nun könnte einer in alle diese Verirrungen sinken, aber noch das Dasein Gottes nicht leugnen, darum heißt es schließlich: „so dass ihr den Bund mit mir zerreißet“. Wer demnach in alle diese Verirrungen verfallen, wird zuletzt auch das ganze Dasein Gottes leugnen!

Unter Beachtung des Sifre fasst Rabbiner Hirsch den Toratext wie folgt zusammen:

Gottes Gesetz nicht mehr lernen — es nicht mehr üben — Verachtung der nach dem Gesetze Lebenden — Hass der Gesetzlehrer — Störung der Gesetzerfüllung durch andere — Leugnung der Gesetz-Offenbarung – Gottes-Leugnung

Dies vorausgeschickt beschreibt Rabbiner Hirsch jetzt 7 Beispiele, wie der Jude, der mit dem Lernen aufgehört hat, dem Abfall vom Judentum zwingend ausgeliefert ist.

Des Wurzels Übel sieht Rabbiner Hirsch im Innehalten des Lernprozesses der heiligen Schriften und deren Inhalte. Wer nicht lernt, ist auch nicht in der Lage das Gelernte in die Praxis umzusetzen und versteht auch nicht, was andere da tun, die etwas gelernt haben, um es zu praktizieren. (Das ist aber der Inhalt des Judentums.) Das führt zur Verachtung dieses Personenkreises durch Nichtwissen. Da die Gesetzestreuen sich ihr Handeln trotz schöner Worte und aller Überredungskünste nicht verbieten lassen, werden sie ihrer Praktiken wegen verachtet. Ihre Lehrer, die Ihnen all dies „unnütze“, „dumme Zeug“ weiter lehren, werden von nun an gehasst. Da auch das keine Früchte trägt, wird versucht, die an den „alten Praktiken“ und „Lehren“ Festhaltenden, durch Denunziation und Verleumdung an der Ausübung ihres Judentums zu hindern. Interessanterweise ist es dazu notwendig, sich doch wieder mit den alten, überkommenen Schriften zu befassen, mit der Aufgabe jedoch diese zu verunglimpfen. „Einen solchen Versuch kann man nur zu machen wagen, indem man „die Worte des lebendigen Gottes verdreht“, indem man die Lehren der Weisen entstellt, indem man einzelne Aussprüche und Spruchteile aus dem Zusammenhange reißt und sie das Beliebige sagen lässt, indem man vor allem die alte Ausdrucksweise stehen lässt, sie aber ihres eigentlichen Inhaltes beraubt und die neue Lüge mit der Hülle der alten Wahrheit umkleidet“. Letztendlich steuert alles zu der eigentlichen Frage hin: „Ist die Thora מִן הַשָּׁמַיִם, Gottes Offenbarung, sind die Mizwoth מִסִּינַי, Gottes Gesetz, so lassen sich Thora und Mizwoth nicht antiquieren, so gehören sie nicht der Vergangenheit an; jede lebendige Gegenwart und die volle, ganze Zukunft ist ihrer, sie sind die Sieger der Zeiten und nicht von der Zeit zu besiegen.“ „Der Jude aber, der vom sinaitischen Gesetz abgefallene Jude, der die bisher gezeichneten Stadien des Abfalls zurücklegt und zuletzt, um sich der lästigen Bürde des Gesetzes zu entledigen, die ganze Existenz eines geoffenbarten Gesetzes leugnet, der wird an der Hand derselben Sophismen endlich zur Leugnung der Existenz Gottes gelangen.“

So endet Rabbiner Hirsch seinen Artikel mit der Überlegung: „Ist Gott, ist Gott Gott, der freie Schöpfer und Bildner, Gesetzgeber und Ordner der Welt, der freie Walter und Lenker, Richter und Erzieher in der Geschichte, ist’s sein Wille, der in dem Werk der Schöpfung verwirklicht dasteht und der in der freien Tat des Menschen zur Verwirklichung kommen will? – Wer will seiner Macht und seinem Willen Ziel und Grenze setzen, wer das Faktum der Offenbarung seines Willens als etwas Unmögliches leugnen, wer sprechen: Gott hat am Sinai seinen Willen nicht ausgesprochen, weil er zu dem Menschen nicht anders sprechen kann ….. als durch das Medium seiner Werke und seines Wirkens, — und „Gott sprach zu Moscheh“, „Gott sprach zu eurem ganzen Volke, Worte hörtet ihr, Gestalt sahet ihr keine“ — ist es darum nur Mär‘ und Fabel! — Ist Gott, ist Gott Gott, wer will es wagen, sein ganzes Leben in Widerspruch mit einem Gesetz zu setzen, solange er noch mindestens sich die Möglichkeit eingestehen muss, dass es von Gott sein könnte!

Mit dieser Einleitung hoffe ich genug Interesse geweckt zu haben sich dieses Kalenderblatt zum Monat Aw einmal genauer zu betrachten.

Der Artikel wurde in der Zeitschrift „Jeschurun“, 2. Jg., Heft 11, August 1856 abgedruckt und ist unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932833 bei der Universitätsbibliothek abzurufen.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Zum Trauerfesttag der Tempelzerstörung.

Wenn wir am 9. Aw in unsern modernen „Tempeln“ oder in den alten „Versammlungshäusern“, die noch Zeugen mittelalterlichen Galuths gewesen, den Untergang des „Gottes-Hauses“ zu Zion fastend und trauernd begehen, und aus dem schwarzgebrannten Trümmerhaufen der Gottesstadt die Jeremias-Klage[1] zu uns herübertönt: „Wie ist sie einsam worden, die volkreiche Stadt!“ — da dürfte es wohl nicht unstatthaft sein, uns die Antwort dieser Klage aus dem Munde desjenigen zu vergegenwärtigen, der diesen Untergang schon an der Wiege des jüdischen Volkslebens verkündet, und uns den Kommentar zu dieser Antwort aus den Überlieferungen derer zu holen, die noch nähere oder fernere Zeugen dieses Untergangs gewesen und dessen unmittelbare Folgen zu tragen und zu — sühnen hatten.

[2]וְאִם לֹא תִשְׁמְעוּ לִי, heißt es in der [3]תּוֹכֵחָה, in der Gotteswarnung, mit welcher vor dem Eintritt ins wirkliche Volksleben Israel der Spiegel seiner eigenen Zukunft vorgehalten wird, וְאִם לֹא תִשְׁמְעוּ לִי — ולא תַעֲשׂוּ אֵת כָּל הַמִּצְוֹת הָאֵלֶּהוְאִם בְּחֻקֹּתַי תְּמָאֲסוּוְאִם אֶת מִשְׁפָּטִי תִּגְעַל נַפְשְׁכֶםלְבִלְתִּי עֲשׂוֹתאֶת כָּל מִצְּוָתַילְהָפֵרְכֶם אֶת בְּרִיתִי  und diese Warnung kommentiert [4] סִפְרָא:

וְאִם לֹא תִשְׁמְעוּ לִי — מָה תַּלְמוּד לוֹמַר ‚לֹא תַּעֲשׂוּ‘? וְכִי יֵשׁ לְךָ אָדָם שֶׁאֵינוֹ לָמַד אֲבָל עוֹשֶׂה? תַּלְמוּד לוֹמַר „וְאִם לֹא תִּשְׁמְעוּ..וְלֹא תַּעֲשׂוּ“– הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד, אֵינוֹ עוֹשֶׂה. אוֹ יֵשׁ לְךָ אָדָם שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה אֲבָל אֵינוֹ מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים? תַּלְמוּד לוֹמַר „וְאִם בְּחֻקֹּתַי תְּמָאֲסוּ“– הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה, סוֹף שֶׁהוּא מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים. אוֹ יֵשׁ לְךָ שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים אֲבָל אֵינוֹ שׂוֹנֵא אֶת חֲכָמִים? תַּלְמוּד לוֹמַר „וְאִם אֶת מִשְׁפָּטַי תִּגְעַל נַפְשְׁכֶם“– הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס אֲחֵרִים, סוֹף שֶׁהוּא שׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים. אוֹ יֵשׁ לְךָ אָדָם שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים וְשׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים אֲבָל מֵנִיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת? תַּלְמוּד לוֹמַר „לְבִלְתִּי עֲשׂוֹת“– הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים וְשׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים, סוֹף אֵינוֹ מַנִּיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת. אוֹ יֵשׁ לְךָ אָדָם שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים וְשׂוֹנֵא חֲכָמִים וְאֵין מֵנִיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת אֲבָל מוֹדֶה בְּמִצְוֹת שֶׁנֶּאֶמְרוּ מִסִּינַי? תַּלְמוּד לוֹמַר „אֶת כָּל מִצְוֹתַי „– הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים וְשׂוֹנֵא חֲכָמִים וְאֵינוֹ מַנִּיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת, סוּף שֶׁהוּא כּוֹפֵר בְּמִצְוֹת שֶׁנֶּאֶמְרוּ מִסִּינַי. אוֹ יֵשׁ לְךָ אָדָם שֶׁיֵּשׁ בּוֹ כָּל הַמִּדּוֹת הַלָּלוּ אֲבָל אֵינוֹ כּוֹפֵר בָּעִקָּר? תַּלְמוּד לוֹמַר „לְהָפֵרְכֶם אֶת בְּרִיתִי“– הָא כָּל שֶׁיֵּשׁ בּוֹ כָּל הַמִּדּוֹת הַלָּלוּ, סוֹף שֶׁהוּא כּוֹפֵר בָּעִקָּר.[5]

D. h.: „Mancher lernt das Gesetz nicht, aber erfüllt es, darum heißt es: ihr werdet nicht hören und nicht erfüllen; wer demnach nicht lernt, wird auch nicht erfüllen. Mancher lernt nun weder das Gesetz, noch erfüllt es; er verachtet aber andere nicht, die es erfüllen. Darum heißt es ferner: wenn ihr meine Gesetze verachtet; wer demnach das Gesetz nicht lernt und nicht übt, wird endlich auch andere, die es üben, verachten. Mancher lernt nun nicht das Gesetz und übt es nicht, verachtet andere, die es üben, aber er hasst nicht die Weisen, die es lehren. Darum heißt es ferner: und wenn ihr meinen Aussprüchen gram werdet. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, und diejenigen, die es üben, verachtet, wird dann auch die Weisen hassen, die es lehren. Es könnte nun Mancher das Gesetz weder lernen, noch üben, auch die andern die es üben, verachten, und die Weisen hassen, die es lehren; allein er stört die andern in Erfüllung desselben nicht. Darum heißt es ferner: dass nicht zur Erfüllung kommen. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, andere, die es üben, verachtet, und die Weisen, die es lehren, hasst, wird endlich auch stören, dass andere das Gesetz erfüllen. Mancher nun, der das Gesetz weder lernt noch übt, die Übenden verachtet, die Weisen hasst und die Erfüllung des Gesetzes stört, dürfte dennoch sich dazu bekennen, dass das Gesetz am Sinai offenbart worden. Darum heißt es; alle meine Gebote. Wer demnach weder lernt, noch das Gesetz übt, sowohl die Übenden verachtet, als die Lehrenden hasst, und die Erfüllung des Gesetzes stört, wird endlich die ganze Gesetzoffenbarung am Sinai leugnen. Nun könnte einer in alle diese Verirrungen sinken, aber noch das Dasein Gottes nicht leugnen, darum heißt es schließlich: so dass ihr den Bund mit mir zerreißt. Wer demnach in alle diese Verirrungen verfallen, wird zuletzt auch das ganze Dasein Gottes leugnen!

Es erblickt demnach die Überlieferung des Sifra in den einzelnen Sätzen dieser Warnung die Entwicklungsgeschichte des von leisen Anfängen immer weiter greifenden Abfalls von Gott und seinem Gesetz gezeichnet, und lautete demgemäß diese Warnung also:

„Wenn ihr aber nicht von mir (im Sinne von „auf mich“) hören werdet und werdet sodann alle diese Gebote nicht erfüllen, werdet ferner meine Gesetze verachten und meinen Aussprüchen in dem Innersten eurer Seele Gram werden, also, dass ihr endlich der Erfüllung meiner Gebote in den Weg tretet, bis ihr zuletzt das ganze Band mit mir zerreißt —“

Gottes Gesetz nicht mehr lernen — es nicht mehr üben — Verachtung der nach dem Gesetze Lebenden — Hass der Gesetzlehrer — Störung der Gesetzerfüllung durch andere — Leugnung der Gesetz-Offenbarung – Gottes-Leugnung, לֹא לָמַד– לֹא עָשָׂה – מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂין – שׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים – מוֹנֵעַ אֶת הָאֲחֵרִים – כּוֹפֵר בְּמִצְוֹת – כּוֹפֵר בָּעִקָּר —: das sind die sieben Stufen, in welchen sich der Abfall von Gott und seinem Gesetz vollzieht, dessen Vollendung bis zum letzten Stadium und dessen Verbreitung durch alle Schichten der jüdischen Gesamtheit der barmherzige Gott eben durch den Untergang des sündhaft gewordenen Staates und durch Zerstörung des entweihten Tempels zuvorgekommen.

לֹא לָמַד — Mit Vernachlässigung der Gesetzes-Lehre beginnt der Abfall. Nicht in der Praxis, sondern in der Theorie, nicht im Leben, sondern in dem Unterricht, in den Schulen, in der geistigen Beschäftigung, in der Gedankennahrung, die den Gemütern und Geistern vorenthalten wird, darin wird der Keim des bis zum vollendeten Abfall sich steigernden Verderbnisses gelegt. So lange die Jugend das Wort der Thora lernt, so lange das Alter sich immer frisch und immer neu die Wahrheiten der Lehre und den ganzen Ernst der Anforderungen des göttlichen Gesetzes zum Bewusstsein bringt, so lange hat Gottes Gesetz den geistigen Boden im Volk, und nimmer vermag der Leichtsinn und die Lüge da überwuchernd zu siegen, wo der Ernst und die Wahrheit ihre Standarten immer neu in den Gemütern und Geistern der Menschen aufpflanzen. Mag auch das Leben zeitweilig entfremden, mögen auch schwache Stunden Fehltritte herbeiführen, mögen auch Sündenreiz und Beispiel ihre augenblicklichen Triumphe feiern, הַמֵּאִיר שֶׁבָּם  das göttliche Licht, das das Wort der Thora in den Gemütern unterhält, מֵחֲזִירָן לְמוֹטב, führt sie immer wieder zum Guten zurück. Es hat Gott sein Wort mit Feuerkraft und mit Hammer-Gewalt gerüstet, dass es den Fels der Selbstsucht zerschlägt und die Schlacken der Leidenschaft verzehrt.

Wenn aber erst Gleichgültigkeit gegen das Lernen des göttlichen Gesetzes einreißt; wenn man sich mit der Erfüllung, der Übung, der Tat begnügen und des „Lernens“ des geistigen „Hörens“ des göttlichen Wortes entraten[6] zu können vermeint; wenn man die Frucht: מַעֲשֶׂה = die „Tat“, ohne die Wurzel: תּלמוד = das „Lernen“, pflegen zu können glaubt, wird man mit der Wurzel auch die Frucht verlieren und dem Lernen wird das Leben gar bald ins Grab nachfolgen.

Schon das Aufgeben des „Lernens“ des „Hinhörens auf Gott“, wie die alte Überlieferung die geistige Beschäftigung mit der Gesetzeslehre auffasst, begreift — vielleicht unbewusst — schon den ganzen künftigen Abfall in sich. Es liegt schon darin, wie sich der Sifra ausdrückt, die ֹכונה למרוד בוֹ, die — vielleicht noch schlummernde — Absicht, sich dem Gesetzesgehorsam zu entziehen. Ist doch das Gesetz schon gleichgültig geworden; hält man es doch schon für überflüssig, sich die Anforderungen des Gesetzes immer neu zum Bewusstsein zu bringen; fühlt man doch schon nicht mehr das Bedürfnis, sich mit dem göttlichen Willen immer vertrauter zu machen, immer tiefer in den Inhalt seines Wortes einzudringen, und den Ernst der Pflichten immer neu am göttlichen Willen zu stählen! Hat man nicht schon mit dem Gesetz gebrochen, wenn man mit dem „Lernen“ bricht?

Und wenn nun gar das Leben mit seinen Prüfungen, das Beispiel mit seinen Verlockungen, die Leidenschaft mit ihren Versuchungen und zu allem dem der Wahn mit seinen Täuschungslehren, mit seiner in das Gewand der Weisheit gehüllten Dummheit, mit seinem unter der Miene des Ernstes verlarvten Leichtsinn, seiner unter Formeln der Wahrheit versteckten Lüge kommt, und seine Axiome, Prinzipien und Ansichten in die leer gebliebenen Geistes- und Herzensfurchen streut, wo die Granit-sätze der Gottesweisheit und die Grundsätze der göttlichen Wahrheit und die Anschauungen der Gotteslehre ihre Stätte hätten haben sollen — wie soll da der Abfall ausbleiben!!

Ein paar in der Jugend gelernte Katechismussätze, ein paar in subjektiver Auffassung eingeprägte Bibelverse tun es nicht; ein paar Sabbathminuten der Tempelfeier und Predigtandacht tun es noch viel weniger.[7] בַּבֹּקֶר בַּבֹּקֶר בְּיוֹם וּבַלַּיְלָה, alltäglich, alltäglich predigt das Leben und der Leichtsinn seinen Wahn und seine Verführung. Nur ein alltäglicher Umgang mit dem göttlichen Worte kann dem Umgang mit der Lüge den Raum abgewinnen. Wer zuletzt nicht nach den Grundsätzen der Gottlosigkeit wandeln will, darf, wenn er einmal auf Irrwegen sich befindet, dort nicht stille stehen. Und wer die Kraft behalten will, sich aus schon betretenen Irrpfaden hinauszuretten, darf den geselligen Umgang derer nicht pflegen, die mit sophistischer Redefertigkeit und geistreicher Ironie dem Reinen, Guten und Wahren die siegende Macht in den Gemütern der Unbefangenen vernichten. Und wen seine Muße nicht in so verderblichen Umgang führen soll, der muss sich die Freude am göttlichen Worte wachhalten und sich täglich fürs Leben an dem Quell der Gotteslehre neu kräftigen und stärken; der muss mit Geist und Gemüt in der Lehre wurzeln und sein Leben der Tat und der Wirksamkeit nur als Baum und Frucht aus dem Boden des Gotteswortes zeitigen wollen. Nur der, welcherבְּתוֹרָה ה‘ חֶפְצוֹ וּבְתוֹרָתוֹ יֶהְגֶּה יוֹמָם וָלָיְלָה[8] und nur der wird בְּדֶרֶךְ חֲטָאִים לֹא עָמַד, בְּמוֹשַׁב לֵצִים לֹא יָשַׁב[9] und לֹא הָלַךְ בַּעֲצַת רְשָׁעִים[10] und nur der:  אַשְׁרֵי הָאִישׁ! — Nur der wird sich als der Mann des wahren „Fortschritts“ bewähren. (Siehe Hirschs Auffassung zum Wort אשרי = Fortschritt, fortschreitend usw.)

Reißt aber die Wurzeln des Geistes und des Gemütes aus dem Boden der göttlichen Lehre, und der Baum des göttlichen Lebens wird welken, und die Frucht der göttlichen Tat wird sehr bald ausbleiben. הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה : Wer zu lernen aufhört, hört auch bald zu üben (praktizieren) auf.

Aber auf dieser Stufe bleibt selten ein Jude stehen. Ist erst das geistige Bewusstsein der göttlichen Lehre geschwunden, und hat man darauf seinen Wandel dem göttlichen Gesetz entfremdet, so wird man auch bald diejenigen verachten, die noch die Treue dem göttlichen Gesetz im Leben bewahren, מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂים. Es kann nicht ausbleiben, dass man sich im Gegensatz zu den Gesetzestreuen fühlt. Eben weil das Judentum ein Leben gestaltendes Gesetz ist, tritt der Gegensatz aller Wege zu Tage. Wäre es ein „Glaube“, ein System des Meinens und Dafürhaltens, ein Bekenntnis, man könnte die Erscheinung des Glaubens in die Kirchen verweisen; ein gegenseitiger Kompromiss bräuchte nur religiöse Gegenstände aus der Unterhaltung zu bannen, und in dem außerkirchlichen Leben wäre alle „Glaubensdifferenz“ verwischt; der bloße Anstand genügte, jeden mit seinem Gewissen in das stille Zwiegespräch mit Gott oder in die Isolierung der Kirchen zu weisen.

Allein das Judentum ist Gesetz, manifestiert sich in Tat, in Leben. Das gesetztreue Leben ist ein anderes, als das dem Gesetz entfremdete. Tat und Leben lassen sich nicht verheimlichen, nicht verschleiern, nicht in die beschauliche Stille, wo nur Gott Zeuge ist, bannen. In allen Fugen des Familien- und sozialen Lebens begegnet der vom göttlichen Gesetz Abgefallene seinem Gegensatz, und bei jedem Schritt wird er aufs Neue zur Entscheidung über sich und seinen Bruder gedrängt. Jeder gesetzestreue Jude ist dem Gesetzentfremdeten ein lebendiger Vorwurf, er muss diesen Vorwurf in seinem Innern zur Überwindung bringen, und er überwindet ihn zuerst durch — Verachtung!

Verdammen, tadeln kann er ja die Gewissenhaftigkeit nicht, die ihm in dem gesetzestreuen Leben mit stillem Vorwurf entgegentritt; verdammen, tadeln nicht die sittliche Kraft, die in der Selbstbeherrschung, in der Opferfreudigkeit, in der Verzichtleistung auf so manches glänzende Gut, manchen glänzenden Genuss um einen höheren Gedanken willen, die in dem ganzen Ernst des gesetzestreuen jüdischen Lebens auch dem blödesten Auge entgegenleuchtet. Verdammen, tadeln kann er das alles nicht. So muss er denn suchen, es verachten zu lernen, um in seinen eigenen Augen Rechtfertigung zu finden. So muss er denn sich einen Standpunkt suchen, auf welchem er sich über diese Gesetzestreue erhaben träumen dürfte, von welchem er mit mitleidigem Verachten auf diejenigen hinabblicken könnte, die sich noch in den Schranken des göttlichen Gesetzes bewegen. Er muss sich bereden, seine Sophismen, seine Weisheit, sein Abfall sei Fortschritt, seine Ausschweifung seine Freiheit. Er muss sich bereden, für ihn, für Männer seiner Bildung, seiner Einsicht, seiner sozialen Stellung und was er sonst noch Vorzügliches an sich hervorzuheben vermag, sei das Gesetz gar nicht gegeben, auf der Höhe seiner geistigen Stufe verlören die חֻקַּת ה, verlören die göttlichen Gesetze Bedeutung und Wert. Kurz, er muss die Stufe erklimmen, die die Gotteswarnung mit den Worten: werאִם בְּחֻקֹּתַי תְּמָאֲסוּ, mit der Verachtung der von Gott gezogenen Gesetzesschranken bezeichnet.

Da entstehen dann die Faseleien von dem nur „zeitlichen“ Wert der göttlichen Gesetze, die nur für die der ägyptischen Ziegellast kaum Entronnenen oder noch in der dumpfen Galuth-Luft der mittelalterlichen Finsternis Atmenden gut, ja vielleicht gar heilsam und notwendig gewesen sein mochten, aber hinauf in die freie, reine Bergesluft der Emanzipation nicht zu begleiten vermögen. Da wird dann zwischen geistigem Pöbel und Adel unterschieden und das von dem allerhöchsten Geist diktierte Gesetz nur den Armen an Geist, den Ungebildeten, den Unwissenden überwiesen. Da erteilt man sich das Diplom der „Aufklärung“, „Erleuchtung“, „Denkgläubigkeit“ oder wie die schönen Worte alle heißen, und brandmarkt die Gesetzestreue mit den wegwerfenden Bezeichnungen der „Finsternis“ des „Aberglaubens“, der „starren Formgläubigkeit“ u. dergl. mehr.

Da gelangt man endlich dahin, die treue Hingebung an das erhabene Gesetz des hochheiligen Gottes als einen gemeinen, niederen, gottlob überwundenen Standpunkt zu betrachten, den man — wie wir dies in unseren eigenen Tagen erlebt — sich nicht entblödet, von der Höhe einer „wissenschaftlichen“ Zeitschrift herab Hundegehorsam zu nennen. Dafür wandelt man nun aber auch ganz ruhig in Mitte der gesetztreuen Brüder. Kein Vorwurf dämmert mehr aus dem gesetzestreuen Leben entgegen. Nur widerwärtig ist ferner noch der Anblick eines gesetzestreuen Juden, widerwärtig wie der Anblick des nackten Bettlerelends. Man bemitleidet die armen Brüder, die noch in der Knechtschaft des Gesetzes schmachten, die noch in der Dunkelheit der Talgründe wandeln, und freut sich der luftigen Höhe, die man errungen und von der man mit vornehm verachtendem Wohlbehagen auf die armen, blinden, noch in den Nebeln der Abgründe Befangenen herabschaut. כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה, סוֹף שֶׁהוּא מוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂין: Wer das Gesetz nicht lernt und nicht übt, wird endlich auch andere, die es üben, verachten.

Während er aber seinem armen, noch im Dunkeln tappenden Bruder nur sein Mitleiden und höchstens seine Verachtung zuwendet, fällt sein voller, gründlicher Hass auf die Männer, die seiner Meinung nach Schuld an diesem ganzen Jammer sind, deren Wirksamkeit die Mutter jener zähen Gesetzesstarrheit ist, die er beklagt, und deren Lehre noch heute jene Finsternis nährt, die seine Brüder umfängt. Seine Brüder beklagt er verachten zu müssen, aber ihre Führer, ihre Leiter, ihre Lehrer, die Chachamim, die „Weisen“ seines Volkes trifft sein Hass: אֶת הַחֲכָמִים  שׂוֹנֵא.

Er hat es richtig herausgefühlt, wo die Quelle dieser beispiellosen, unbeugsamen, opferfreudigen Hingebung an ein Gesetz liege, das, wie es ihn dünkt, seinen Bekennern so viele Opfer auferlegt und so viel Verhöhnung und Verfolgung eingebracht. Er hat es erkannt: wehrlos, schutzlos preisgegeben wäre dies Gesetz gewesen und wäre schon längst vom Leben selber überwunden worden, hätte es seine Wurzeln nur im Leben gehabt und hätte ihm der Boden einer Lehre gefehlt, die mit ihrer geistigen Nahrung das ganze Seelenleben des Volkes durchdrungen. Wäre seine Lehre nur den Priestern und nur seine Erfüllung dem Volke zugefallen — wie dies in anderen Religionen die Ordnung ist — und wären seine Bestimmungen nur in ihrer nackten, unerweiterten Umschränkung zur Erfüllung gekommen, ohne in der schützenden Erweiterung ein Bereich ihrer Erhaltung, gleichsam einen Boden ihrer Pflege zu finden, es hätte niemals dieses Volk sein Leben für diese Lehre gelassen, und es hätte niemals dieses Gesetz seinen Kampf mit dem Leben bestanden.

Indem aber die Chachamim, die „Weisen“ die Gott in seiner Barmherzigkeit diesem Volke seines Gesetzes geschenkt, mit einer Geistestiefe sondergleichen ihren hohen göttlichen Beruf begriffen לַעֲשׂוֹת סִיג לְתוֹרָה וּלְהַעֲמִיד תַּלְמִידִים הַרְבֵּה, diesem Gesetze seinen erhaltenden Schutz in der Praxis zu schaffen und seine Theorie zum Gemeingut des den ganzen Lebensboden dieses Volkes durchdrungen, haben sie in jedem Juden einen Priester und Wächter und Kämpfer dieses Gesetzes hingestellt und haben damit einen Baum des Lebens und der Erkenntnis aufgerichtet, gegen den sich vergebens alle Stürme der Jahrhunderte verschworen, und an dessen gottgeschützter Lebenskraft seine Feinde zu allen Zeiten nur ihrer eigenen Ohnmacht inne geworden.

Darum wenden die Verächter dieses Gesetzes, die die Gesetzestreue ihres Volkes als traurige Befangenheit beklagen, ihren vollen Hass seinen Chachamim, seinen Weisen zu und bemühen sich, den Charakter dieser Weisen und die Wirksamkeit dieser Weisen und ihre Lehre und ihre Weisheit und ihr Ansehen in dem Bewusstsein ihres Volkes herabzuwürdigen, um so vielleicht das Bestehen dieses Gesetzes in seiner Wurzel zu vernichten. Eben dieser ihr Hass ist das glänzendste Kreditiv der wahren Größe unserer Weisen. Und nachdem sie dem göttlichen Gesetz in der Erkenntnis und der Erfüllung fremd geworden und zu ihrer eigenen Rechtfertigung die Gesetzestreue ihrer Brüder als beklagenswerte Versunkenheit verachten gelernt, müssen sie naturgemäß die hohen Meister hassen, die dieses Volk durch Wort und Beispiel zu dieser Treue erzogen, und deren geistige Tat noch nach Jahrtausenden in jedem wahren Juden ihre Siege sondergleichen feiert, הָא כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאֵינוֹ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂין סוֹף שֶׁהוּא שׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים: Wer das Gesetz weder lernt noch übt, und diejenigen, die es üben, verachtet, wird dann auch die Weisen hassen, die es lehren.

Aber auf diesem Standpunkt gleichgültiger Verachtung und untätigen Hasses bleibt der Abfall nicht stehen. כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וֶאֱנוּ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂין אֶת הַחֲכָמִים סוֹף שֶׁאֵינוֹ מַנִּיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת Hat die Entfernung vom Gesetz im Lernen und Leben erst zur Verachtung der Übenden und zum Hasse der Lehrenden geführt, dann geht dieselbe gar bald in vollendeten Fanatismus über, der in der Gesetzestreue ein Unglück oder gar ein Verbrechen erblickt, das nötigenfalls mit Gewalt zu bekämpfen zum Verdienst erwächst. So lange der Abfall, noch jung und schüchtern, erst anfängt, sich von dem Kreise der Gesetzestreuen zu entfernen, da führt er die Worte Toleranz und Duldung im Munde und spricht von Gewissensfreiheit und wie jeder mit seinem Verhalten gegen Gott nur Gott verantwortlich sei; da fordert er im Namen der Toleranz und Duldung und Gewissensfreiheit das Recht, seiner Überzeugung gemäß, wie er es nennt, leben zu dürfen, und ist dann von einer so zartfühlenden Empfindlichkeit, dass er über Intoleranz und Fanatismus schreit, wenn er im Kreise der Gesetzestreuen auch nur einem Tadel oder einem Seufzer über seine Versündigung an einem Heiligtume begegnet, das den Überzeugungen dieses Kreises als unverbrüchlich göttlich gilt. Aber auf dieser Stufe angelangt, vergisst er die Prinzipien, die er anfangs selbst auf sein Banner geschrieben und unter deren Ägide er die ersten Stadien seiner Entwicklung zurückgelegt.

Es genügt ihm nicht mehr, unbehindert seiner Überzeugung, wie er es nennt, leben zu können; er sieht kein Heil und hat daher keine Ruhe, solange seine Überzeugung nicht die alleinberechtigte, allgemeingültige geworden. Er sieht in dem Gesetz eine geistige Sklaverei, aus der die armen Brüder zu erlösen das göttliche Werk eines zweiten Moses wäre. Er sieht in der Gesetzestreue einen Aberglauben, eine Gesunkenheit und zu gleicher Zeit ein an allem Jammer der Vergangenheit schuldtragendes Unglück. Er sieht in der Befreiung von dem Joch des Gesetzes ein so menschenfreundliches, hohes Ziel, dass der große Zweck ihm alle dazu führenden Mittel heiligt. Er hat so ganz und gar das Verständnis seiner gesetzestreuen Brüder eingebüßt, er kann es nicht mehr begreifen, dass man einem solchen Gesetze mit so vieler Hingebung treu sein, seine Fesseln mit solcher Freudigkeit tragen, und in allen Opfern, die es heischt, nur doppelt heitere Seligkeit finden könne; er kann es gar nicht begreifen, dass ihm eine reine tief innerste Überzeugung gegenüberstehe.

Was er früher bemitleidete, beklagte, höchstens verachtete, beredet er sich jetzt, verdammen zu müssen. Der Widerstand erscheint ihm als Trotz, Festigkeit als Starrsinn, die ganze Gesetzestreue als Heuchelei, die man entlarven müsse, als Israels Nationalunglück, dass allem Fortschritt, allem bürgerlichen und politischen Heil im Wege steht und aus dem man die Brüder wider ihren Willen mit Gewalt befreien und vor dem man wenigstens die kommende Generation per fas et nefas[11] retten müsse. Und er begeistert sich in einen Fanatismus hinein, der nicht nur einen Jerobeam[12] lehrte, Häscher über die Landstraßen zu verteilen, um die Gesetzestreuen von ihren Hinaufzügen zum Zionstempel zu hindern; der nicht nur einen Jason[13], — Menelaos[14] erdreistete Judas Jünglinge dem atheniensischen Zeus in die Arme zu führen — und einem Acher[15] eingab, Israels Schuljugend aus den Lehrhäusern des Gesetzes zu den Meistern des Handwerks zu weisen, sondern der es uns selbst erleben ließ, dass z. B. Lehrer und Schüler des Gesetzes auf Anstiftung jüdischer Vorstände mit Polizeigewalt auseinander getrieben wurden, Wohltätigkeitsvereine die Not der armen Jugend zur Verführung derselben von Sabbathfeier und Beobachtung der Speisegesetze missbrauchten und — am Rosch Haschanah-Abend versammelte Gottesgemeinden aus ihren Gotteshäusern mit Boten der Polizeimacht getrieben und ihnen ihr Gotteshaus und ihr Gottesdienst geschlossen wurde, damit sie gezwungen würden — einem Gottesdienst mit Orgelklang und Chorgesang von der Mache ihrer Rabbinen an einem andern Ort beizuwohnen. — Kurz, כָּל שֶׁאֵינוֹ לָמַד וְאָנוּ עוֹשֶׂה וּמוֹאֵס בַּאֲחֵרִים הָעוֹשִׂין וְשׂוֹנֵא אֶת הַחֲכָמִים, wer damit beginnt, das Gesetz nicht zu lernen und von der eigenen Übertretung des Gesetzes zur Verachtung der gesetzübenden Brüder und zum Hasse der gesetzlehrenden Weisen fortschreitet, סוֹף שֶׁאָנוּ מֵנִיחַ לַאֲחֵרִים לַעֲשׂוֹת, der endet damit, andere gewaltsam an Erfüllung des Gesetzes zu hindern und einen fanatischen Vernichtungskrieg dem göttlichen Gesetz zu verkünden.

Und nun ist es tief charakteristisch, dass nach dieser alten Gotteswarnung dieser bis zum fanatischen Vernichtungskampf fortgeschrittene Abfall sich vollziehen kann, ohne sich und andern diesen Abfall als Abfall zu gestehen, ohne die göttliche Offenbarung des Gesetzes zu leugnen, gegen dessen ferneren Bestand mit allen Waffen der Gewalt und mit allen Eingebungen fanatischen Wahns zu Felde gezogen wird, und dass erst als eine fernere Stufe des Abfalls die bezeichnet wird, die dann auch offen כּוֹפֵר בְּמִצְוֹת שֶׁנֶּאֶמְרוּ מִסִּינַי, offen die Offenbarung und Überlieferung des Gesetzes vom Sinai leugnet.

Der bisherige Abfall, der zuerst das Lernen und dann das Üben aufgab, die gesetzestreuen Brüder zuerst verachtete und die gesetzlehrenden Weisen hasste und sodann zum offenen Verfolgungskampfe fanatisch fortschritt, ließ תּוֹרָה מִן הַשָּׁמַיִם, מַתַּן תּוֹרָה, ließ die Gesetzgebung, den göttlichen Ursprung der Gesetze noch als Prinzip auf seinen Fahnen stehen, ja kämpfte ganz eigentlich unter diesem Banner. Man überredete sich, man glaubte sich zu überreden, man überredete andere, man versuchte es, sie zu überreden, als fordere Gott selbst das Aufgeben seines Gesetzes, als habe er es mit der ewigen Geltung und unverbrüchlichen allzeitigen Erfüllung seines Gesetzes gar so ernst nicht gemeint, wie die lehrenden Weisen unseres Volkes uns gelehrt, als verlange Gott nur ein Festhalten an dem Geist und nicht an dem Buchstaben des Gesetzes und überlasse es dem Geiste einer jeden Zeit, diesen Geist nach subjektivem Zusagen aufzufassen und diesen selbstgedeuteten Geist wiederum in selbstgeschaffene Formen modern zu fassen.

Man überredete sich, glaubte sich zu überreden, man überredete andere, versuchte sie zu überreden, als haben im Grunde eben die so weisen Lehrer unseres Volkes das Gesetz und seine Anforderungen gar nicht anders verstanden; ihre Weisheit war eben nur pastoralkluge Weisheit, die in „frommem“ „Betruge“ — (gibt’s eine größere Blasphemie als diese Zusammenstellung?) — ihren Geist dem göttlichen Geiste substituierten, ihre Eingebungen als göttliche Überlieferungen tradierten, mit allen ihren Lehren und Bestimmungen nicht dem vor und zugemessenen Gotteswillen, sondern auch nur den Anforderungen ihrer Zeit gerecht werden wollten, die damals ebenso die ernste Erfüllung des Gesetzes in allen seinen Ausladungen heischte, wie jetzt die Übertretung desselben in allen seinen Bestimmungen als zeitgemäß sich herausstellt.

Unter der Ägide dieser Sophismen vermeinte man, im Namen des göttlichen Gesetzes das Gesetz zu zerstören, in Nachfolge der Weisen das Werk der Weisen zu vernichten, und sich in demselben Augenblicke als die wahren Gottesjünger zu bewähren, in welchem man sein ewiges Bündnis vor den Augen aller Welt zu zerreißen sich bemühte.

Den Versuch aber eines solchen Versuches konnte man nur zu machen wagen, indem man „die Worte des lebendigen Gottes verdrehte“, indem man die Lehren der Weisen entstellte, indem man einzelne Aussprüche und Spruchteile aus dem Zusammenhang riss und sie das Beliebige sagen ließ, indem man vor allem die alte Ausdrucksweise stehen ließ, sie aber ihres eigentlichen Inhaltes beraubte und die neue Lüge mit der Hülle der alten Wahrheit umkleidete. Zu klar und deutlich spricht jedes Wort der Gotteslehre und der Überlieferungen der Weisen über jeden solchen Versuch das Vernichtungsurteil, als dass man an jeglichem Gelingen nicht hätte verzweifeln müssen, so lange es nicht gelänge, das Volk über den Inhalt dieser Lehre und Überlieferung irrezumachen und die Vernichtung des Gesetzes aus dem Gesetz selbst zu rechtfertigen. So führte der Vernichtungskampf, den man dem Gesetz kündigte, selbst wieder zu dem Studium des Gesetzes, zu dem „Lernen“ zurück, mit dessen Aufgeben das erste Stadium des Abfalls einst begonnen hatte. Man griff die alten, längst zurückgelegten Folianten der Lehre und der Überlieferung wieder auf, um die Predigt des Abfalls mit Worten der Treue zu spicken, um die Lehre des Lebens ihr eigenes Testament und ihre eigene Grabrede halten zu lassen, um unter der Fahne des Gesetzes die heilige Burg des Gesetzes zu zerstören und im Namen des Gesetzes den Verrat am Gesetz zu fordern.

Aber die Lüge zerschellt an der Felsenburg der Wahrheit. Die Täuschung zerstiebt[16] vor der überzeugenden Macht der Wirklichkeit; es gelingt nicht länger, sich und andere über die wahre Stellung zu täuschen, man muss sich entscheiden. Ist der göttliche Ursprung des jüdischen Gesetzes kein Märchen, so muss es auch heute noch zur Wahrheit werden. Hat Gott am Sinai gesprochen, so muss alle Menschenrücksicht und alles Menschendafürhalten und alles Menschengerede dem gegenüber verstummen, so hat Er zu klar und deutlich allen seinen Gesetzen die Entschiedenheit des Ernstes und die ewige Gültigkeit der Dauer aufgedrückt, als dass noch länger von einer stillschweigend jederzeit eingeräumten selbstdispensatorischen Befugnis die Rede sein könnte. Waren unsere Väter keine Schurken und keine Tölpel — und jedes überkommene Wort von ihnen zeugt von ihrer Redlichkeit und Weisheit — so ist ihre „Überlieferung vom Sinai“ Überlieferung vom Sinai und ist kein Hokuspokus-Wort, das Volk zu drücken und die Einfältigen zu berücken.

Mit einem Wort: Ist die Thora מִן הַשָּׁמַיִם, Gottes Offenbarung, sind die Mizwoth מִסִּינַי, Gottes Gesetz, so lassen sich Thora und Mizwoth nicht antiquieren, so gehören sie nicht der Vergangenheit an; jede lebendige Gegenwart und die volle, ganze Zukunft ist ihrer, sie sind die Sieger der Zeiten und nicht von der Zeit zu besiegen. Der aber, der zu dieser Thora und diesen Mizwoth, der zu diesem Gesetze sprechen will: bis hierher und nicht weiter, der das Gesetz antiquieren und die Zeit vom Gesetz emanzipieren will, der kann nicht weiter die Standarte der Gesetzoffenbarung tragen, der muss zuletzt die Göttlichkeit des Gesetzes leugnen, und wer von Vernachlässigung des Gesetzes im Lernen und üben zur Verachtung der Übenden und zum Hasse der Lehrenden und endlich zum vollendeten Verfolgungskampfe des Fanatismus fortgeschritten, סוֹף שֶׁהוּא כּוֹפֵר בְּמִצְוות שֶׁנֶּאֶמְרוּ מִסִּינַי, der endet damit, den göttlichen Ursprung des Gesetzes vom Sinai zu leugnen.

Aber auch dabei bleibt der abgefallene Jude nicht stehen. Der nichtjüdische Mensch, der Noachide, dem das geoffenbarte Gesetz nicht (verpflichtend) geworden – und der an die Offenbarung Gottes in seinem Innern und in den Erscheinungen der Natur und den Ereignissen der Zeiten angewiesen ist –, der kann den Gedanken Gott im Busen wahren, sein Werk und seine Waltung in der Natur und der Geschichte verehren und die Gottesstimme des Gewissens und den Gotteswillen in den Anforderungen des Sittengesetzes, soweit ihm alles dies aufgegangen und klar geworden, heilig halten und befolgen und fällt nicht notwendig ohne die sinaitische Offenbarung der Gottesleugnung anheim. Allein der Jude, der vom sinaitischen Gesetz abgefallene Jude, der die bisher gezeichneten Stadien des Abfalls zurücklegt und zuletzt, um sich der lästigen Bürde des Gesetzes zu entledigen, die ganze Existenz eines geoffenbarten Gesetzes leugnet, der wird an der Hand derselben Sophismen endlich zur Leugnung der Existenz Gottes gelangen.

Ist Gott, ist Gott Gott, der freie Schöpfer und Bildner, Gesetzgeber und Ordner der Welt, der freie Walter und Lenker, Richter und Erzieher in der Geschichte, ist’s sein Wille, der in dem Werke der Schöpfung verwirklicht dasteht und der in der freien Tat des Menschen zur Verwirklichung kommen will, wer will seiner Macht und seinem Willen Ziel und Grenze setzen, wer das Faktum der Offenbarung seines Willens als etwas Unmögliches leugnen, wer sprechen — denn  darauf läuft zuletzt die ganze Weisheit dieser Sophismen hinaus —: Gott hat am Sinai seinen Willen nicht ausgesprochen, weil er zu dem Menschen nicht sprechen, weil er zu dem Menschen nicht anders als durch das Medium seiner Werke und seines Wirkens sprechen kann, und „Gott sprach zu Moscheh“, „Gott sprach zu eurem ganzen Volke, Worte hörtet ihr, Gestalt sahet ihr keine —“ ist´s darum Mär‘ und Fabel! — Ist Gott, ist Gott Gott, wer will so zu sprechen wagen, wer es wagen, sein ganzes Leben in Widerspruch mit einem Gesetz zu setzen, solange er noch mindestens sich die Möglichkeit eingestehen muss, dass es von Gott sei. „Und wenn es nun doch Gottes Gesetz ist? Und wenn es nun doch Gottes Wille ist?“

Diese quälenden Fragen wird man nur los, wenn man — den Gedanken Gott losgeworden, oder sich diesen Gedanken aller Gedanken zu einem so wesenlosen, willenlosen und machtlosen toten Götzen zustutzt, zu einem so wesenlosen, willenlosen und machtlosen Begriff verflüchtigt, dass er weiter — nicht — stört, — הָא כָּל שֶׁיֵּשׁ בּוֹ כָּל הַמִּדּוֹת הַלָּלוּ סוֹף שֶׁהוּא כּוֹפֵר בָּעִקָּר: Wer in alle diese Verirrungen verfallen, wird zuletzt auch das ganze Dasein Gottes verleugnen!

Dies ist eine Geschichte des Abfalls, die die Gotteswarnung andeutet, die die Weisheit der Weisen enthüllt und die Erfahrung der Zeiten vergegenwärtigt. Und wenn am Trauerfasttag des neunten Aw aus den Trümmern Jerusalems die Klage zu uns herüberweht:

Wie ist sie einsam worden,

Die volkreiche Stadt!

und in dieser Klage der Schmerzensruf hervorleuchtet:

חָטָא חֶטְאָהּ יְרוּשָׁלַיִם
עַל כֵּן לְנִדָּה הָיְתָה

Eine Sünde hat Jerusalem begangen,

Darum fiel sie der Verbannung heim!

(Klagelieder K. 1, V. 8),

so war diese Kardinalsünde nicht eine Vernachlässigung des Tempels und der Opfer, nicht eine Gleichgültigkeit gegen „Gottesdienst und Feier“; so war diese Kardinalsünde, die Wurzel alles Übels, die den ganzen namenlosen Jammer erzeugt, die Vernachlässigung des „Lernens“, die einreißende Unwissenheit und Unkenntnis des göttlichen Gesetzes, in welcher Geist und Gemüt, diese Urstätten des Denkens und Handelns, undurchdrungen und unerfasst von dem Lichte und der Macht des göttlichen Wortes, dem Irrtum und dem Wahne, dem Leichtsinn und der Leidenschaft verfielen und allem andern entgegen blühten, nur nicht der Erfüllung des göttlichen Willens.

עַל מָה אָבְדָה הָאָרֶץ?
וַיֹּאמֶר ה‘ עַל עָזְבָם אֶת תּוֹרָתִי!!

Warum ging das Land zu Grunde?

„Weil sie meine Lehre vernachlässigten!“ spricht Gott.

(Jeremias K. 9, V. 11. 12.)


[1] Klagelieder

[2] Levitikus 26:14; Wenn ihr aber mich nicht hören werdet… Übersetzung Rabbiner S.R.Hirsch

[3] Zurechtweisung: Name der in Lev. enthaltenen Warnungen. 26:3–43 und Deut. 28:15–68.

[4] Sifra: Sifra („Das Buch“) ist ein halachischer (gesetzlicher) Midrasch zum Buch Levitikus, der im Talmud häufig zitiert wird. Es wurde in der frühen talmudischen Zeit zusammengestellt und die Identität seines Erstellers ist seit dem Mittelalter Gegenstand von Debatten. Wikipedia: Die Frage nach der Urheberschaft wurde von Malbim richtig beantwortet, der in der Einleitung zu seiner Sifra-Ausgabe nachweist, dass R. Ḥiyya der Herausgeber der Sifra war. Es gibt nicht weniger als 39 Passagen in Yerushalmi und den Midraschim, in denen auch in der Sifra enthaltene Darstellungen im Namen von R. Ḥiyya zitiert werden, und die Tatsache, dass in der Sifra keine auf Rebbi (Jehuda Ha´Nassi) folgenden Tannaim erwähnt werden, stützt diese Ansicht dass das Buch zur Zeit dieses Gelehrten verfasst wurde.

[5] Sifra Bechokotai 2. Abschnitt,

[6] verzichten

[7] Jeden Morgen, Tags und bei Nacht

[8] Psalm1:2:an der Lehre HaSchems seine Lust hat und über seine Lehre nachsinnt Tag und Nacht.

[9] Psalm 1:1: den Weg der Sünder nicht betritt, noch der Spötter Sitzung beiwohnt, 

[10] ebenda: der nicht kommt in die Versammlung der Gottlosen (Übersetzung Arnold Ehrlich 1848-1919)

[11] auf jede erlaubte oder unerlaubte Weise

[12] Wikipedia: Jerobeam I. war laut biblischem Bericht im 10. Jahrhundert v. Chr. der erste König des Nordreichs Israel. Seine Regierungszeit wird klassisch von 927 beziehungsweise 926 bis 907 vor Chr. datiert, weitere vermutete Jahreszahlen sind 931 beziehungsweise 930 bis 910 beziehungsweise 909 und 922 bis 901 v. Chr.

[13] Hohepriester, Vorgänger Menalos´

[14] Hohepriester in der Makkabaerzeit

[15] Wikipedia: Elisa ben Abuja (auch: Elischa ben Abuja, hebräisch: אלישע בן אבויה; Beiname: Acher, der Andere, genannt, um ihn als Apostaten nicht mit Namen zu nennen; * vor 70 in Jerusalem) war ein als Häretiker verrufener Tannait der sogenannten 2. Generation.

[16] verschwindet, zerstreut sich

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