Adar.

In diesem Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l aus der Zeitschrift „Jeschurun“, Heft 6, aus dem Jahr 1855 geht der Rabbiner nicht etwa auf das Purimfest als solches ein, sondern auf eine besondere Thoravorlesung, die jeweils am Schabbat vor dem Purimfest zusätzlich zum Wochenabschnitt vorgelesen wird. Es ist die Geschichte von Amalek (Exodus 17:8-16; Deuteronomium 25:17-19), der die Karawane der Juden, gleich nach der Durchquerung des Schilfmeeres hinterrücks angriff.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek der Uni Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932814.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.

Sachor. Purim.

Keinem Menschenstamm ward also wie dem jüdischen das Los, mit offenem, vorwärtsschauendem Blick durch die Geschicke der Zeiten zu wandern. Gleich beim Beginn seines völkergeschichtlichen Daseins führte Gott ihm Ereignisse zu, auf die, wie auf einen prophetischen Spiegel, immer wieder sein Blick sich wenden sollte darin sich zu erkennen, sein Verhalten zu seiner Aufgabe, seine Stellung zu den Brüdervölkern, sein jederzeit von ihm selbst zu säendes, züchtigendes, erziehendes, prüfendes, lohnendes Geschick. Der seine Aufgabe und seine Geschichte kennende Jude wird von keinem Ereignis überrascht, von keinem bestürzt, von keinem geblendet. Ein Rückblick in den ihm von Gott immer neu vorgeführten Spiegel seiner Vergangenheit — und er findet sich überall und in allem zurecht, weiß jedes Ereignis seiner Zeit zu würdigen und steuert mit ruhigem Auge, auf glatter See wie durch Sturm und Brandung dem einen Ziel zu, zu welchem Gott ihn leitet. Vorbereitet ist er auf alles. Er traut keinem Augenblick und fürchtet keinen. Nicht in den politischen Gestaltungen der Verhältnisse, in der eigenen Brust sucht er den Grund zur Hoffnung oder Furcht. Ein unverdientes Glück kann ihn nicht beruhigen, ein unverdientes Leid nicht beugen. Nur das Zeugnis, das ihm die eigene Brust ausstellt, kann ihn heben oder niederschlagen. Er kennt nur einen Feind: die Sünde; er kennt nur einen Panzer: die Unschuld.

Der Schabbat vor dem Purimfest ist der zweite, für den großen Frühlingsmonat[1] vorbereitende Schabbat.[2]

Schabbat Schekalim[3] rief in uns das jüdische Gesamtbewusstsein wach, das Bewusstsein, dass wir alle einer großen Gesamtaufgabe angehören, und wie zerstreut, wie verschieden nach Kraft, Vermögen, Stand, Beruf auch immer, doch alle gleich berufen sind an einem heiligen Gotteswerk zu arbeiten. Was wird unser Geschick sein mit solcher Aufgabe? Was haben wir mit solch eigentümlicher Sendung im Kreis unserer Menschenbrüder zu erwarten?

„Sachor!“[4] spricht dieser Schabbat, „schau zurück, gedenke was dir Amalek getan, auf dem Weg, als ihr aus Mizrajim zogt!“

Was dich in aller Zukunft treffen wird? Was dir bei deinem ersten Schritt auf deiner geschichtlichen Wanderung begegnet!

Durch den geschichtlichen Zusammenhang des Ereignisses im zweiten Buch der Thora und die Zusammenstellung des Gedächtnisgebotes mit den anderen Gesetzen im fünften Buch, hebt dieses „Sachor“ dieser Aufruf zum Rückblick auf den ersten Zusammenstoß Israels mit dem Brudervolk, warnend und ermutigend den Finger auf und spricht: Nicht die Treue, nicht das entschiedene Ausharren in jüdischer Aufgabe, nicht die unerschütterte Anhänglichkeit an das gottgebotene eigentümliche jüdische Leben zieht euch die Feindseligkeit der nichtjüdischen Brüder herbei; seit Juden, volle, ganze Juden, erfüllt eure jüdischen Pflichten in der ganzen herrlichen Fülle des von Gott gezeichneten Lebens! [5]וְרָאוּ֙ כָּל־עַמֵּ֣י הָאָ֔רֶץ כִּ֛י שֵׁ֥ם ה‘ נִקְרָ֣א עָלֶ֑יךָ וְיָֽרְא֖וּ מִמֶּֽךָּ, so sehen es alle Völker der Erde, dass der Name Gottes über euch walte und wagen achtungsvoll es nicht euch anzutasten! Menschentäuschender Vorwand war es und ist es, wenn ein Haman seinen Judenhass durch die jüdische Absonderlichkeit beschönigt, die dieses so zerstreute Volk (מְפֻזָּר) trotz seiner Zerstreuung doch so „gesondert“ (מְפֹרַד) unter den Völkern und so anhänglich an ihre  [6] דָּתֵיהֶם שׁוֺנוֹת מִכָּל עַם, an ihre von allen andern Völkern abweichenden Gesetze und Sitten sein lässt, und nichtige Täuschung wäre es, wenn wir durch Abstreifen dieser jüdischen Eigentümlichkeit uns die Völkerfreundschaft zu erkaufen und für immer zu sichern vermeinten.[7]

Hamans Ahn, Amalek[8], fiel über Israel her, als es noch nicht diese absondernden Gesetze am Sinai erhalten hatte. Und wenn wir auch die ganze sinaitische Gesetzgebung preisgeben würden und das Positive unseres Judentums auf das Minimum unserer vorsinaitischen jüdischen Eigentümlichkeit reduzieren würden, die letzte Faser, in welche du dein „Judesein“ im Gegensatz zum Nichtjuden verstecken würdest — und wäre es auch zuletzt nur noch der bloße Name „Jude“ — wird jederzeit einem Haman und Amalek genügen, um ihre Feindschaft und ihren Hass zu beschönigen. Ja, mit deinem entgegenkommenden Abfall gibst du diesem Vorwand des Judenhasses erst den rechten Schein einer Begründung. Durftest du so vieles, so das meiste vom Judentum preisgeben, warum denn so eigensinnig an das letzte wenige halten! Durftest du so fast den ganzen Juden ausziehen, warum denn nicht wirklich den ganzen Juden fahren, und über das Grab des Judentums Jakob und Esau sich die Bruderhand zur ewigen Verbrüderung reichen lassen?! Nicht das ist das Ziel, das der Herr der Zeiten als Lösung dieses Gegensatzes bestimmt. Solange es Nacht auf Erden ist, wird der Ringkampf dieser Gegensätze dauern, Jakob den Esau nicht und Esau nicht den Jakob überwinden, wohl aber Esau Jakob nicht den festen, selbstständigen Fuß zu Boden setzen lassen. Wenn aber der Morgen anbricht und der Kampf sein Ziel finden soll, dann wird dieses Ziel nicht in Aufgeben und Aufgehen des Jakobsberufes gefunden werden, dann wird nicht Jakob der Überwundene sein, dann wird Esau zum Jakob sprechen, lasse mich frei, denn der Morgen ist angebrochen, die Zeit des Kampfes ist aus. Jakob aber spricht, wohl lasse ich dich, aber nicht eher lasse ich dich, bis du mich gesegnet, bis du mir die Anerkennung gezollt, dass ich nicht den Fluch und den Hass und die verfolgende Feindschaft verdient, bis du es voll anerkannt, welchen Segen ich verdiene — und du mich segnest. Bis zu diesem Morgenrot der Zeiten aber sollte Jakob vorbereitet und gerüstet sein für Gegensatz und Kampf; diese Mahnung sendete ihm Gott bei jedem Eintritt einer neuen Phase seiner geschichtlichen Wanderung in der Mitte der Völker. Edoms Genius trat entgegen als die erste Jakobsfamilie ein selbstständiges Plätzchen auf Erden suchte, Amalek hob das Schwert auf, als das befreite Israel seiner Nationalexistenz entgegenging, und Haman grüßte Juda, als seine Söhne ihre weltgeschichtliche Zerstreuung in der Mitte der Nationen antraten.

Nicht aber in der Erschlaffung, nicht in der laxeren Erfüllung jüdischer Pflichten liegt Judas Wehr und Panzer in diesem Kampf, sondern in standhafter, treuer, voller Lösung der ihm von Gott gegebenen Aufgabe, liegt seine Stärke und sein Sieg. „Solange Mosches Hand zu Gott gehoben bleibt“, so lange, — wie es der Väter Weisheit erläutert — solange Israel nach Oben blickt [9]  וּמְשַׁעְבְּדִין אֶת לִבָּם לַאֲבִיהֶם שֶׁבַּשָּׁמַיִם, und sein Herz dem Dienst seines Vaters im Himmel weiht, so lange steht es gepanzert in eigener Macht. Erst wenn diese Hand und diese Kraft und dieser Sinn erschlafft, wird ihnen Amaleks Stärke fühlbar.

Ja, jede unsanfte Berührung von Amaleks Finger, soll Juda die Mahnung sein, im eigenen Kreis sich umzuschauen, wo der jüdische Sinn erschlafft. Denn irgendwo muss Israel seine Pflichten verabsäumt haben, lehrt der Väter Weisheit, wenn Amalek kommen soll. (Dann kommt Amalek; Anmerkung von M.B.)

In רְפִידִים überkommt Israel Amaleks Kampf! [10] אֵין רְפִידִים אֶלָּא רִפְיוֹן יָדַיִם, לְפִי שָׂרְפוּ יִשְׂרָאֵל יְדֵיהֶם מִדִּבְרֵי תּוֹרָה nur wenn Israel an der Göttlichkeit der eigenen Sendung zweifelt, zweifelt הֲיֵ֧שׁ ה‘ בְּקִרְבֵּ֖נוּ אִם־אָֽיִן [11]  zweifelt, ob Gott unter uns waltet oder nicht, und in diesem Zweifel schlaff und nachlässig wird in Handhabung des göttlichen Wortes, — nur [12] הַנֶּחֱשָׁלִ֣ים אַֽחַרֶ֔יךָ, nur wenn Israels Söhne נָמְכוּ מִדַּרְכֵי הַמָּקוֹם, וְנֶחְשְׁלוּ מִתַּחַת כַּנְפֵי הַמָּקוֹם[13] , nur wenn sie aus der Höhe der göttlichen Wege und darum aus dem Schutz der göttlichen Fittige sinken, — oder, — wie die Zusammenstellung im fünften Buch Moses lehrt, und die Weisheit der Väter sinnig hervorhebt, — wenn Israels Söhne im sozialen Menschenverkehr nicht die Redlichkeit und Rechtlichkeit bewahren, die den Grundcharakter Jeschuruns bilden soll, die zu ihnen spricht: לֹא יִהְיֶה בְּכִיסְךָ אֶבֶן וָאֶבֶן[14], לֹא יִהְיֶה לְךָ בְּבֵיתְךָ אֵיפָה וְאֵיפָה![15] „nicht zweierlei Gewicht sollst du haben in der Tasche, und nicht zweierlei Maß sollst du haben im Hause!“ und deren ungetrübte Bewahrung Grundbedingung der göttlichen, schützenden Bundesnähe bildet, [16]כִּ֧י תוֹעֲבַ֛ת ה‘ אֱלֹקֵיךָ כָּל־עֹ֣שֵׂה אֵ֑לֶּה כֹּ֖ל עֹ֥שֵׂה עָֽוֶל  nur dann hat Israel Amalek zu fürchten! זָכֹ֕ור אֵ֛ת אֲשֶׁר־עָשָׂ֥ה לְךָ֖ עֲמָלֵ֑ק [17]

Wenn aber Israel seine Pflichten voll begreift und voll erfüllt, wenn es als „Priesterreich“ dasteht seinem Gott und als „heilig Volk“ im Verkehr der Menschen, dann mag es immerhin, so lange es noch Nacht auf Erden, „zerstreut“ sein und auch „geschiedenerscheinen in der Mitte der Nationen, dann mag auch immerhin dieser priesterliche heilige Wandel es noch „sondern“ von Sitten und Wegen der Völker, und — solange es noch Nacht ist auf Erden — diese Absonderung einer selbstsüchtigen Hamansfeindschaft als willkommener Vorwand zur Verfolgung dienen — über Völkerwahn und Ministerränke und Fürstenschwäche steht Gott, der nicht nur den Wogen des Weltmeers, der auch „dem Wallen des Fürstenherzens zur Rettung seiner Treuen gebietet, der nur einen Schlummer von dem müden Lide eines Königsauges scheucht um noch nach Jahrtausenden zu zeigen, כִּֽי־יָד֙ עַל־כֵּ֣ס יָ֔‘, dass die wahre Macht doch auf Gottes Thron ruht, der [18]  מִלְחָמָ֥ה לַה‘ בַּֽעֲמָלֵ֑ק מִדֹּ֖ר דֹּֽר zu jeder Zeit für die schwache, preisgegebene Unschuld gegen gottvergessene Amaleksgewalt streitet, dem daher auch noch das späteste Geschlecht seinen Altar bauen und in heiterer Zuversicht sprechen darf:! ה‘ נִסִּי , „Gott ist mein Panier!“


[1] Monat Nissan
[2] Rabbiner Hirsch zählt auch den „Schabbat Sachor“ zu den auf das Pessachfest vorbereitenden Schabbatot.
[3] s. „Jeschurun.online“, 2. Jg., Ausgabe 5, S. 8ff
[4] Gedenke
[5] Deuteronomiuim 28:10 „und es sehen es alle Nationen der Erde, dass Gottes Name über dich genannt ist, und fürchten sich vor dir.“ Übersetzung Rabbiner S. R. Hirsch
[6] Ester 3:8 „deren Gesetze unterschieden sind von denen der anderen Völker“ Übersetzung S. Bernfeld
[7] s. hierzu auch den Aufsatz von Rabbiner Hirsch „Haman’s ethnographische Schilderung der Juden“; Jeschurun.online, 1. Jg., S. 3 ff
[8] Amalek war der bibl. König der seine Armee gegen die wandernde Karawane schickte. In 1. Samuel 15 wird König Saul aufgefordert den König der Amalekiter, Agag, mit seinem ganzen Gefolge zu töten. In Esther 3:1 wird Haman als sein Nachkomme bezeichnet: „Nach diesen Begebenheiten machte der König Achaschwerosch den Haman, Sohn Hamdatas, den Agagi, groß und erhob ihn; er setzte seinen Stuhl über die aller Fürsten, die um ihn waren.“ Übersetzung Rabbiner Dr. S. Berndfeld. Somit ist der Urahn Hamans, Amalek.
[9] Mischna Rosh Hashana 8:3 „solange sie nach oben blickten und ihr Herz dem himmlischen Vater zu eigen gaben
[10] Mechilta d´Rabbi Jischmael 17:8 „Refidim“ ist die Abkürzung für „rifyon yadayim“ („Schwächung der Hände“). Weil die Hände Israels im Tora-Studium geschwächt waren.
[11] Exodus 17:7 „Ob wohl Gott in unserer Mitte ist, oder nicht?“ Übersetzung S.R. Hirsch
[12] Deuteronomium 25.18 „…die nur schwach dir folgten…“
[13] Sifrei Devarim 296:5 „…die von den Wegen des Herrn abfielen und unter den Flügeln der Shechinah abtauchten.“
[14] in Anlehnung an Deuteronomium 25:13
[15] in Anlehnung an Deuteronomium 25:14
[16] Deuteronomium 25:16 „Denn ein Abscheu Gottes, deines Gottes ist jeder, der solche Dinge tut, jeder, der Unrecht tut.“ Übersetzung Rabbiner S. R. Hirsch
[17] Deuteronomium 28:17 „Gedenke dessen, was dir Amalek getan,…“ Übersetzung Rabbiner S..R. Hirsch
[18] Exodus 17:16 „…denn die Waltung auf Gottes Thron heißt: Krieg für Gott wider Amalek von Geschlecht zu Geschlecht.“ Übersetzung Rabbiner S. R. Hirsch

  • Beitrags-Kategorie:Monatsblatt