Adar.
Pädagogische Plaudereien.
Dieser Artikel beginnt und endet mit der Purimgeschichte, hat aber, wie der Untertitel bereits sagt, einen pädagogischen Inhalt. Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l stellt uns hier seine Gedanken zur Erziehung unserer jüdischen Kinder vor. Das jüdische Kinder in religiöser Hinsicht und auch sonst oft nicht so geraten, wie ihre Eltern es gerne sehen würden, liegt nach Ansicht von Rabbiner Hirsch daran, dass wir, die Eltern, ihnen schlechte Vorbilder sind. — Man bedenke beim Lesen des Textes auch daran, dass in Deutschland die Prügelstrafe an Schulen erst 1973 verboten wurde; als letztes deutsches Bundesland schaffte Bayern die Prügelstrafe sogar erst 1983 ab.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Jeschurun“, 8. Jahrgang, Heft Nr. 6 im März 1862. Er ist in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932912 zu finden.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.
וְאֶת־מַאֲמַ֤ר מָרְדֳּכַי֙ אֶסְתֵּ֣ר עֹשָׂ֔ה כַּאֲשֶׁ֛ר הָיְתָ֥ה בְאָמְנָ֖ה אִתּֽוֹ [1] — „Mordechais Wort erfüllte Esther, wie da sie noch bei ihm in Erziehung war —“ Wie viele Eltern und Erzieher mögen diese Stelle aus der Purim-Rolle hören und dabei mit einem stillen Seufzer ihre festliche Stimmung trüben! Da hören sie von einem Zögling, der noch auf dem Königsthron die Worte seines Erziehers befolgte, als ob er noch Kind und bei ihm in Erziehung gewesen wäre — und ihnen wird es so schwer, von dem Kind, von dem Knaben, dem Mädchen, die ihrer erziehenden Hand übergeben, während dieser Erziehung Gehorsam zu erlangen; in ihrer Gegenwart macht sich der Kobold des Eigensinns und der Tücke in dem kleinen Menschen geltend; abdrohen oder abkaufen, durch Strafandrohung oder Lohnversprechen abringen müssen sie jeden Tribut des Gehorsams. Dass in ihrer Abwesenheit, wenn sie den Rücken gekehrt, man ihnen noch gehorche, das wagen sie höchstens nur dann nicht ganz zu den Unmöglichkeiten zu zählen, wenn ein alter Ego, mit Denunzianten-Pflicht oder Straf-Vollmacht gehörig ausgerüstet, ihre Stelle vertritt und ihre Abwesenheit verschwinden macht. Dass aber gar im Leben, wenn der Knabe, das Mädchen groß geworden und sie sich selbstständig im Leben bewegen, der alten Erzieher Wort ihnen noch etwas bedeute, das ist ihnen vollends ein Erfolg, der ganz und gar außer ihren Vorstellungen liegt. Und doch ist Gehorsam und zwar solcher unerzwungene, das Leben durchdauernde, mit der Altersreife nicht abnehmende, sondern nur wachsende Gehorsam — wir möchten sagen — das ganze Ziel der Erziehung; das Kind, das nicht gehorchen gelernt, ist eigentlich gar nicht erzogen worden; ja, auf dieses Ziel einer jüdischen Erziehung hat Gott von vorn herein die ganze Hoffnung eines für Seinen Weltendienst zu gewinnenden Volkes gesetzt, hat ausdrücklich Abraham nur deshalb erkoren, weil er von ihm erwarten durfte, dass er es verstehen werde also seine Kinder und sein Haus für die Wege Gottes zu erziehen, dass sie auch „אַחֲרוֹן, nach ihm“, wenn er längst heimgegangen sein werde, noch die Wege wandeln werden, die Abraham sie gelehrt, und Abraham für seine Kinder und Zöglinge nicht sterbe,
[2] !’כִּ֣י יְדַעְתִּ֗יו לְמַעַן֩ אֲשֶׁ֨ר יְצַוֶּ֜ה אֶת־בָּנָ֤יו וְאֶת־בֵּיתוֹ֙ אַחֲרָ֔יו וְשָֽׁמְרוּ֙ דֶּ֣רֶךְ ה
Ist ja auch die Erziehung, die Abraham und Sara dem Isaak angedeihen ließen, das glänzendste Beispiel von der unendlichen Macht der Erziehung wie wohl die Blätter der Menschengeschichte kein zweites aufzuweisen haben dürften! Da soll ein Volk gegründet werden, und zwar ein Volk von dem bestimmtesten Gepräge, von der schärfsten, unverwüstlichsten Charaktereigentümlichkeit, von einer Geistes- und Gemütsrichtung, einer Sinnes- und Lebensart, einer Überzeugungs- und Gewissens-Treue, die sich in den härtesten Proben bewähren und aus dem Tiegel jahrtausendlanger Prüfungen nur immer umso reiner und leuchtender hervorgehen sollen — und es genügt dem Vater der Menschheit und dem Schöpfer Israels für diese Zukunft eines ganzen Volkes. Ein Elternpaar gefunden zu haben, die es verstanden ein Kind für diese Zukunft zu erziehen, einem Kind dieses Gottesgepräge rein und voll, stark und leuchtend zu erteilen, sicher, dass [3] אֲשֶׁ֣ר כָּ֭רַת אֶת־אַבְרָהָ֑ם וּשְׁב֖וּעָת֣וֹ לְיִשְׂחָֽק׃, וַיַּֽעֲמִידֶ֣הָ לְיַעֲקֹ֣ב לְחֹ֑ק לְ֝יִשְׂרָאֵ֗ל בְּרִ֣ית עוֹלָֽם׃, dass, was Er mit dem Abraham errichtet und was sein Eid dem Jizchak war, das er eben damit Jakob zum Gesetz, Israel zum ewige Bunde gestellt habe!
Ist nicht [4]עֲקֵדָה, der Lichtgipfel der Abrahamsgröße, ist עֲקֵדָה nicht die mit Abrahams Größe wetteifernde Lichtgröße Isaaks, ist עֲקֵדָה nicht das voranleuchtende Sonnenbild des Andenkens der Väter, das von Moriahs Höhen allen Geschlechtern die geistige und sittliche Höhe zeigt, die von allen erreicht werden kann, von allen erreicht werden soll? Und was ist עֲקֵדָה anderes als: Gehorsam, Gehorsam Abrahams gegen Gott, Gehorsam Isaaks gegen Abraham וְיֵלְכוּ שְׁנֵיהֶם יַחְדָּיו זֶה לַעֲקֹוד וְזֶה [5]לֵיעָקֵד, beide gingen sie einen Weg des aufopfernden Gehorsams, und wie sie da beide gingen, Vater und Sohn, einmütig das Schwerste zu vollbringen, so sind ihnen nachfolgende Geschlechter Jahrtausende hindurch, Vater und Sohn, altes und junges Geschlecht einmütig zusammen zur Höhe hinangezogen, die Gott ihnen gewiesen; freudig und willig nahm das jüngere Geschlecht aus den Händen ihrer Eltern das Gesetz hin, das sie zu Priestern und Opfern zugleich weihte; und ob sich die ganze Weltgeschichte für sie zu einer Moriahhöhe gestaltete, die ihrer zur Selbstopferung wartete und zu der sie selbst das Holz und das Feuer zur eigenen Opferung trugen — ה‘ יִרְאֶה, tönte es in der Brust der Älteren, ה‘ יִרְאֶה in der Brust des Jüngeren, Gottes Einsicht überließen sie alles, וַיֵּלְכ֥וּ שְׁנֵיהֶ֖ם יַחְדָּֽו und gingen beide zusammen [6]—
Wer lehrt uns das Geheimnis einer solchen Erziehung, wer das Arkanum[7] zu einem solchen freudigen, willigen Gehorsam?
Vielleicht gibt die Sprache des göttlichen Wortes selbst darüber Aufschluss, wie sie den wahren Gehorsam begreift und lässt uns eben damit den einzig rechten Weg erkennen, auf welchem wir einen solchen Gehorsam zu erzielen vermöchten.
— שְׁמַע בְּקוֹל, „Hören auf die Stimme“ eines Gebietenden, Belehrenden, Warnenden usw. Das ist die eigentümliche, aber gewöhnlichste Bezeichnung des Gehorsams. Nicht hören auf die Worte, auf den Inhalt, hören auf die Stimme: uns dünkt hierin liegt das ganze große Geheimnis.
Was man auch sagen möge von dem angeborenen Eigensinn, der angeborenen Tücke und Widerspenstigkeit des jungen Menschen mit der obligaten Berufung auf das alte כִּ֠י יֵ֣צֶר לֵ֧ב הָאָדָ֛ם רַ֖ע מִנְּעֻרָ֑יו[8]: das אלקי נְשָׁמָה שֶׁנָּתַתִּי בִּי טְהוֹרָה הִיא [9] ist doch die einzige Wahrheit, Tücke und Widerspenstigkeit sind nicht angeboren, sondern anerzogen, und die Berufung auf dasוגו‘ כִּ֠י יֵ֣צֶר לֵ֧ב הָאָדָ֛ם dürfte viel eher auf einem Irrtum beruhen.
Hat man doch ebenso aus dem [10] לַפֶּ֖תַח חַטָּ֣את רֹבֵ֑ץ וְאֵלֶ֙יךָ֙ תְּשׁ֣וּקָת֔וֹ וְאַתָּ֖ה תִּמְשָׁל־בּֽוֹ ein wildes Tier gemacht, das der Brust des Menschen innewohne und mit boshafter Gier ihn zu fangen lauere, und es bedarf doch nur eines unbefangenen Blickes auf das wenige Sätze zuvor [11] וְאֶל־אִישֵׁךְ֙ תְּשׁ֣וּקָתֵ֔ךְ וְה֖וּא יִמְשָׁל־בָּֽךְ, um sofort einzusehen, dass dort das gerade Gegenteil gesagt sei. תְּשׁוּקָה ist ja offenbar die weibliche Sehnsucht zum Manne, die sich gerne ihm unterordnet und fügt, ja mehr als das, die gerne in das Wesen des Mannes aufgeht und eben in dieser Unterordnung und diesem Aufgehen sich der Erreichung ihrer Bestimmung bewusst wird. Nun denn, ganz so wie es hier vom Weibe heißt: zu deinem Manne wird deine Sehnsucht sein und er soll über dich gebieten, ganz ebenso heißt es ja dort von der Sünde: zu dir ist ihre Sehnsucht und du sollst über sie gebieten. Gott hat die Fähigkeit und den Reiz der Sünde in den Menschen gelegt, nicht damit er von ihr beherrscht werden, sondern damit er sie beherrsche, ja mehr als das in יִמְשָׁל בּוֹ, damit er über sie gebiete, walte, und auch diesen Reiz und diese Anlage zum Guten, d. h. im Dienste Gottes zum göttlichen Wohlgefallen verwende. In dieser Fähigkeit und diesem Reiz zu sündigen, liegt ja die ganze Hoheit des Menschen. Dass der Mensch sündigen könne und das Sündhafte einen Reiz für ihn hat, das ist ja die unerlässlichste Bedingung dafür, dass er das Böse frei lassen, das Gute frei üben könne, und mit diesem freien Dienst Gottes sich zu einer die Stufe der Engel überragenden Größe aufschwinge, die nicht anders als „gerade gehen können und nicht abzuweichen vermögen in ihrem Gange,[12] לֹ֥א יִסַּ֖בּוּ בְּלֶכְתָּֽן.“ Die Sinnlichkeit reizt somit den Menschen nicht um ihn zu verführen, sondern um von ihm geführt und geleitet zu werden. Sie sehnt sich nach dieser Leitung, um eben in dieser Unterordnung und diesem Aufgehen in den frei sittlichen Menschen ihre Bestimmung zu erreichen. Wenn sie den Menschen verführt, so jubelt sie nicht über diesen Sieg, sondern trauert und klagt darüber, dass mit dem Fall des Menschen, ihres Herrn, sie selbst die Erreichung ihrer Bestimmung eingebüßt. „שָׂטָן“ — nach dem Begriff der Weisen die personifizierte Sinnlichkeit „שָׂטָן זוֹ יֵצֶר יוֹרֵד וּמֵסִית עוֹלֶה וּמַשְׂטִין — reizt auf der Erde und wenn der Mensch ihrem Reiz nicht widerstanden, steigt sie in den Himmel und klagt selber den Menschen vor Gottes Thron an, dass an er ihren Reizen nicht widerstanden, und, statt sie weise zum Guten zu gebrauchen, sich und das Gute ihr geopfert.[13]“
יֵצֶר selbst, das man gewöhnt ist, als Trieb und Reiz, somit als das Aktive, Treibende zu begreifen, bedeutet dieses ja nach aller Analogie und Erfahrung der Sprache ganz und gar nicht. Der Begriff יֵצֶר selbst hat schon nichts von Trieb und Reiz, sondern heißt bilden, gestalten, bezeichnet somit vielmehr eine ganz ruhige, mit Bewusstsein sich äußernde Tätigkeit. Die Form יֵצֶר, nicht יוֹצֵר, bezeichnet aber vollends gar keine Tätigkeit, heißt nicht der Bildende, Gestaltende, sondern das Gebilde, das Gestaltete. So Jesaias 29:16, כִּֽי־יֹאמַ֨ר מַעֲשֶׂ֤ה לְעֹשֵׂ֙הוּ֙ לֹ֣א עָשָׂ֔נִי וְיֵ֛צֶר אָמַ֥ר לְיֹצְר֖וֹ לֹ֥א הֵבִֽין „Dürfte wohl das Werk von seinem Meister sagen, er hat mich nicht gemacht, und hier hat das Gebilde von seinem Bildner gesprochen: er hat nichts verstanden!“ Somit ist יֵצֶר schon überall nicht ein dem Menschen innewohnender Trieb, Neigung, Begierde usw., sondern das von dem inneren Menschen geschaffene Gebilde, es sind die von dem gestaltenden Geist, der in der Einbildungs- und Vorstellungskraft geschaffenen Bilder, Ideale und Vorsätze, gleichsam die inneren „Muster“, deren Verwirklichung das Ziel des äußeren Strebens und der äußeren Handlung bildet. [14] יֵצֶר מְחַשְּׁבוֹת לֵב ist das von den Kombinationen (das ist buchstäblich מחשבות, חשב heißt ursprünglich verbinden, חשב האפוד) des Herzens geschaffene Bild, der von den Gedanken des Herzens geschaffene Vorsatz, und das Verderbnis der noachidischen Zeit bestand nicht darin, dass die Phantasie und die Denkkraft des Menschen auch böse Phantasien, Gedankenbilder und Vorsätze schufen, sondern, dass [15]כָל־יֵ֙צֶר֙ מַחְשְׁבֹ֣ת לִבּ֔וֹ רַ֥ק רַ֖ע כָּל־הַיּֽוֹם, alle Gebilde ihrer Gedanken nur bös den ganzen Tag waren, dass ihre Gedanken und Vorstellungen zu keiner Zeit und nach keiner Seite hin mehr dem Guten zugewandt waren.
Das [16] יֵ֣צֶר לֵ֧ב הָאָדָ֛ם רַ֖ע מִנְּעֻרָ֑יו dürfte aber nun vollends das gerade Gegenteil von dem konstatieren, was man gemeinhin darin zu finden meinte, und womit man die aller Sittlichkeit den Tod kündende Lehre von der Erbsünde und von der angeborenen Verderbtheit der Menschen die biblische Begründung zu reichen pflegte.
In dem Opfer, das Noach auf wiedergeschenkter Erde darbrachte, stieg ein Duft jener Willfahrung[17], jener Befriedigung auf, die Gott noch einst an der Menschheit finden werde, und er sprach zu seinem Herzen: nicht werde ich weiter der dem Menschen vermählten Erde um des Menschen willen Fluch bringen, selbst wenn das Herzens-Gebilde des Menschen schon von seiner Jugend an schlecht sein sollte, d. h. selbst wenn einmal die Verderbnis die Höhe erreicht haben sollte, dass schon die Jugend, die sonst noch am meisten für Edles und Gutes, sittlich Großes und Erhabenes empfänglich zu sein pflegte, nur schlechte Zwecke anstreben, sich nur Schlechtes und Gemeines zu Lebens-Idealen, somit zu Gedankenbildern setzen sollte!
Es wäre so hiermit gerade die, gottlob ja auch noch heute von aller Erfahrung bestätigte Wahrheit niedergelegt, dass das Schlechte und Gemeine dem Menschen anerzogen, nicht angeboren werde, dass der Knabe und Jüngling viel aufopferungsfähiger und hingebender ist für alles Edle und Erhabene, Freude und Seligkeit in guten Vorsätzen, in sittlichen von ihm selbst zu verwirklichenden Idealen findet, mit Bewunderung und Verehrung hinaufblickt zu jeder menschlich reinen Größe, sich vor dem geistig Großen und Erhabenen beugt, und mit Ekel und Entrüstung den Stab bricht über alles Schlechte und Gemeine. Das sittliche Urteil der Kinder ist scharf, das Gemeines und Schlechtes verdammende Urteil der Jünglinge ist rasch und scharf — die Gemeinheit des Lebens dämpft das Feuer, stumpft die Schärfe ab, lässt „Tugend-Verehrer“ als lächerliche Schwärmer erscheinen und macht die für Großmut und Seelenadel glühenden Gemüter zu schmutzigen Pfennig-, table d’hôte[18]– und so weiter-Anbetern, die keine andere Größe kennen, als recht viel haben und recht viel und recht lange zu genießen — Jugend hat keine Tugend, sagt man. Ja wohl, aber möchte sie haben. Das Alter aber hat keine und mag keine und hält Tugend für eine gefährliche kostspielige Narrheit —
Gottlob, ein nicht voreingenommener Blick in eine gesunde Kinderschaar lässt noch heute das Bekenntnis unseres wachgewordenen Bewusstseins rechtfertigen: 9 אלקי נשמה שנתתי בי טהורה היא! Mein Gott, die Seelen, die du uns gegeben, sind rein, sind — wie das Wort so schön bedeutet — klar, durchsichtig, empfänglich für jeden leuchtenden und belebenden göttlichen Strahl. Wenn wir nichts taugen, sind wir schuld daran, und — um endlich zu unserm Gegenstande zurückzukehren — wenn unsere Kinder uns nicht gehorchen, sind wir auch schuld daran.
Meint ihr, Gott der Herr, habe seinen Menschheits-Bau[19], jenes בִּנְיַן עֲדֵי עַד אֲשֶׁר הִתְקִין לוֹ מִן הָאָדָם, jenen in die Ewigkeit reichenden Bau, den Er sich von dem Menschen begründet — wie wir dieses große Ziel aller Ehen und Häuser bei den Schließungen unserer Ehen aussprechen — וְהִתְקִין לוֹ מִמֶּנּוּ בִּנְיַן עֲדֵי עַד — meint Ihr, Gott habe dieses ganze einzige Weltziel auf den Gehorsam der Kinder gegen Eltern gegründet, und habe die Kinderseele nicht für diesen Gehorsam gebildet, habe Folgsamkeit, Gehorsam nicht zu dem ganz eigentümlichen Wesen der Kindergemüter gemacht?
Wenn unsere Kinder uns nicht gehorchen, so sehen wir nur erst zu, ob wir es denn auch verstehen ihnen zu gebieten, ob wir denn an uns die Bedingung erfüllen, die jeder natürliche Gehorsam voraussetzt, die Bedingung nämlich, dass wir uns den Kindern gehorsamwürdig darstellen. Nicht nur im Kreise der Menschen, überall in der lebendigen Natur ordnet sich das Kleinere, Schwächere, Unfähigere dem Größeren, Stärkeren, Fähigeren, und darum auch das Jüngere dem Älteren unter, wenn sich das Ältere nur auch als das Größere, Stärkere, Fähigere darstellt.
Und darin, meinen wir, liege das ganze Geheimnis. Sorge nur, Vater, Mutter, sorge nur, dass du deinem Kind in der Tat geistig und sittlich überlegen erscheinst, dass dein Kind in der Tat in dir den geistvolleren, besseren Menschen ehren und verehren könne, und es wird dein Kind von selbst mit Ehrfurcht zu dir aufblicken, und gerne „deiner Stimme gehorchen!“ Nicht den Worten, der Stimme folgt der wahre Gehorsam. Nicht der Inhalt des Gebotes, die Persönlichkeit des Gebietenden erzeugt den wahren Gehorsam. Mache dich zur rechten Persönlichkeit, Vater, Lehrer, Erzieher, und dein Kind und Zögling wird dir den rechten Gehorsam zollen.
Jede Schwäche, die dein Kind an dir gewahrt, schwächt seinen Gehorsam. Sieht es, dass du selbst nicht Herr deiner Leidenschaft bleibst, wie sollte es aus Ehrfurcht vor dir eine Kunst zu üben sich entschließen, die du selbst nicht verstehst, in der du ihm selbst nicht mit Meisterschaft vorangehst. Der Zorn selbst, die Heftigkeit, in der du gebietest und verbietest, kann dein Kind, deinen Zögling in Schrecken und Angst versetzen und einen augenblicklichen Gehorsam erzielen, schwächt aber sicherlich die Verehrung und somit jenes sich von selbst und gern sich unterordnende Gefühl in der Brust deines Kindes und Zöglings, das die einzige und unersetzbare Quelle jenes Gehorsams bildet, der auch gehorcht, wenn du nicht da bist, der auch gehorcht wenn du weder von dem Gehorsam noch Ungehorsam je etwas erfährst, der auch gehorcht, wenn zwischen Kind und Erzieher Meer und Länder, Grab und Ewigkeit liegt.
Als Josef die dem Jüngling schwerste Prüfung verlockender Sinnlichkeit zu bestehen hatte, erschien ihm — nach dem sinnigen Wort der Weisen — das Bild des fernen, fernen Vaters und schreckte im Momente des Schwankens ihn zurück von der Sünde und ließאֵ֨יךְ אֶֽעֱשֶׂ֜ה הָרָעָ֤ה הַגְּדֹלָה֙ הַזֹּ֔את וְחָטָ֖אתִי לה‘ [20] , das: wie sollte ich ein so großes Unrecht begehen und mich gegen Gott versündigen?! in seiner Brust Meister und Sieger der Sinnlichkeit und ihrer Reize bleiben, und erhielt den Jüngling seiner reinen, geistig großen Bestimmung.
Dafür sorge Vater und Mutter, sorge dafür, dass das Bild, welches du durch dein ganzes Leben in das Gemüt deines Kindes von deinem geistigen und sittlichen Wesen einprägst, ein reines, ehrfurchtgebietendes sei, und du wirst, das bloße Andenken an dich in deinem Kind bis in die tiefste Faser seines innersten Wesens beherrschen.
Es ist somit ein ernster, großer Augenblick, in welchem Gott eine junge Menschenseele einem Vater, einer Mutter zur leiblich geistigen und zur sittlichen Pflege in die Arme legt. Es ist eine ernste große Aufgabe, die Er ihnen mit diesem Vertrauen gibt, eine Aufgabe, die sie zuerst an sich selber zu lösen haben. Nicht nur weil sie diesem Kind die geistigen und sittlichen Führer zu allem geistig und sittlichen Guten und Wackeren werden sollen, müssen sie sich fortan selbst die größte Meisterschaft im geistigen und sittlichen Guten und Tüchtigen wünschen, und darum schon um ihrer Kinder willen um allen Preis anzueignen suchen; nicht nur weil das Beispiel, die Tat, das Wort, die Miene, den mächtigsten Eindruck auf die weiche Kinderseele übt, und, damit sie nicht selber die Seele ihres Kindes geistig und sittlich vergiften, Eltern und Erzieher mit doppelter Ängstlichkeit jede ihrer Taten, Worte, Mienen und Gebärden überwachen müssten, damit sie ihren Kindern und Zöglingen nicht das Beispiel sittlicher Schwächen und Untugenden — doppelt verderblich wenn von Eltern und Erziehen geübt — darbieten; sondern weil schon die durch Gehorsam und Folgsamkeit des Zöglings bedingte Aufgabe der Erziehung überhaupt in aller erster Linie durch die geistige und sittliche Überlegenheit, somit durch die geistige und sittliche, möglichste Vollkommenheit des Erziehers bedingt sind. Vater sein, Lehrer sein, heißt vor allen Dingen selbst an Taten und Sitten untadelig sein. Das Kind, der Zögling, deren sittliches Urteil — und Kinder haben ein scharfes, unbestechliches sittliches Urteil — über Äußerung, Handlungen, Benehmen ihrer Eltern oder Lehrer im eigenen Herzen den Stab zu brechen veranlasst werden, werden eben damit veranlasst Eltern und Lehrer fortan weniger gehorsam zu sein. Denn mit der sittlichen Achtung vor der Persönlichkeit des Erziehers steigt und fällt der Gehorsam und die Fügsamkeit des Zöglings.
Und wahrlich, wüssten wir vom Mordechai auch nichts anderes, als dass Esther noch als Königin seinen Vorschriften und Lehren folgte ganz so wie zur Zeit, da sie noch in erziehender Pflege bei ihm war, diese einzige Tatsache würde uns schon eine Vorstellung von der geistigen und sittlichen Größe ihres Erziehers zu geben geeignet gewesen, und wir begreifen dies umso mehr, wenn uns die Überlieferung auch ausdrücklich erzählt, Mordechai sei [21] יוֹדֵעַ בְּשִׁבְעִים לָשׁוֹן und [22] מוּכְתָּר בְּנִימוּסוֹ gewesen, Mordechai habe geistige und sittliche Größe in möglichster Vollendung in sich vereinigt, habe siebzig Sprachen verstanden und habe den Kranz sittlicher Größe in der Erfüllung des göttlichen Gesetzes errungen.
[1] Ester 2:20
[2] Genesis 18:19; Denn ich habe ja nur deshalb mein besonderes Augenmerk auf ihn gerichtet, damit er seine Kinder und sein Haus nach sich verpflichte, dass sie den Weg Gottes hüten, (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[3] Psalm 105:9-10;
[4] Bindung (Opferung) Isaaks
[5] Bereshit Rabbah 56
[6] Genesis 22:8
[7] Geheimnis
[8] Genesis 8:21; denn der Trieb des Menschen ist schlecht seit seiner Jugend
[9] Gott, die Seele die Du mir gegeben – rein ist sie (aus den täglichen Morgengebet)
[10] Genesis 4:7 dazu ruht die Sünde vor der Tür; ja zu dir geht ihr Sehnen, dass du sie beherrschest. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[11] Genesis 3:16 zu deinem Manne hin wird deine Sehnsucht sein und er wird über dich herrschen. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[12] Jecheskiel 1:12 „sie wandten sich nicht beim Gehen“ (Übersetzung Dr. Joseph Breuer)
[13] s. hierzu auch Hirsch-Kommentar zu Genesis 4:7
[14] Frei übersetzt: die Gedanken des Herzens
[15] Genesis 6:5; jedes Gebilde der Gedanken seines Herzens nur schlecht war jeden Tag (Übersetzung S.R. Hirsch)
[16] Genesis 8:21 „wenn das Herzensgebilde des Menschen von seiner Jugend an schlecht ist“ (Übersetzung S.R.Hirsch)
[17]ריח ניחוח wird von Rabbiner Hirsch im Pentateuch mit „Ausdruck (Duft) der Willfahrung“ übersetzt. Willfahren bedeutet, jemandes Willen zu tun, ihm willfährig zu sein. S. hierzu Genesis 8:20-21
[18] Wirtstafel
[19] Durch Gründung von Familien
[20] Genesis 39:9
[21] Megilla 13b; der alle siebzig Sprachen beherrschte
[22] Megilla 12b; mit Namen gekrönt