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Ich freue mich ganz besonders diesen Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch gefunden zu haben. Er erklärt, wie es zur Zersetzung des Judentums im 19. Jahrhundert kam. Leider hält diese Zersetzung bis heute an, denn ein neuer „Gott“ ist dem Judentum geboren worden. Er heißt „Zeitgeist“. Diesem „Zeitgeist“ opfern die meisten Juden bis heute unsere Überlieferung. Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift „Jeschurun“, 2. Jg., Heft Nr. 10, im Jahr 1856 veröffentlicht. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932832. Er wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Zum Fasttag der Einnahme Jerusalems.

Es ist sicherlich eine der Betrachtung werte Eigentümlichkeit, dass das Gedächtnis unseres staatlichen Untergangs sich nicht mit dem Begehen des Tages der letzten endlichen Katastrophe begnügt, sondern uns diese Katastrophe in ihren einzelnen tragischen Momenten vorführt, sich nicht auf die 9. Aw-Trauer der Tempeleinäscherung beschränkt, sondern uns diesen letzten Akt der jüdisch-politischen Geschichte in seine einzelnen Auftritte zerlegt und uns bei dem Belagerungsanfang[1], bei der Stadteinnahme[2], der Einäscherung des Tempels[3] und bei dem Satrapenmord[4], wenn gleich nicht immer zur Trauer, so doch immer wieder und wieder zu einem in sich kehrenden Fasten ladet. Sollte uns damit nicht die Wahrheit nahegelegt sein, dass die Schuld, die die Katastrophe herbeiführte, nicht ein einmal begangenes, und damit abgemachtes, in allen seinen Konsequenzen unwiderrufliches Faktum gewesen, dessen Folgen daher die Väter, da sie nun einmal über sie hereinbrachen, unabwendbar über sich hatten ergehen lassen müssen, dass vielmehr es bis zum letzten Augenblick in ihrer Hand gelegen, das Traurigste unter dem Traurigen abzuwenden, ja sich noch am Rande des Untergangs wieder zu einem frischen, ungetrübten Aufblühen emporzuringen, und daher in ihrem dumpfen, rückkehrlosen Dahingeben die alte Schuld immer aufs Neue sich in ihnen vollzog? Sollte da nicht die für alle Zeit zu beherzigende Wahrheit nahegelegt sein, dass es für die Rückkehr zu Gott niemals zu spät sei, jeder Tag uns den Wiederaufbau unseres Heils in Händen lege, die trübsten Zeitgestaltungen kein Tüttelchen an der von uns zu lösenden ewiggleichen Aufgabe zu ändern vermögen, und es immer nur an uns liege, wenn Zustände, die wir beklagen, sich nicht zum Bessern wenden? Wahrlich, es ist ein altes, tiefes, tröstendes Wort, das den Messias „Bar Nafli“, den „Sohn des Verfalls“ nennt und, wie R. Nachman[5], der dieses Wort gesprochen, dabei auf die Verheißung hinweist:    בַּיּוֹם הַהוּא אָקִים סֻכַּת דָּוִיד הַנּוֹפֶלֶת „an jenem Tage richte ich die fallende Davids-Hütte auf!“ Die Davidshütte wird gerade in dem Moment wieder aufgerichtet werden, in welchem sie erst vollends zusammenzustürzen scheint, und das wird eine Zeit sein, in welcher, nach R. Jochanans[6] Schilderung, „die wahren Weisheitsjünger der Lehre zusammenschmelzen, die wenigen vorhandenen sich in Kummer und Seufzern verzehren und auch in den äußern Zeitverhältnissen mannigfaltige Not und schwere Verhängnisse dergestalt sich einander überstürzend hereinbrechen, dass während das eine sich vollzieht, schon das andere im Anzuge ist“.

אָמַר לֵהּ רַב נַחְמָן לְרַבִּי יִצְחָק מִי שְׁמִעַ לָךְ אֵימַת אָתֵי בַּר נִפְלֵי אֲמַר לֵהּ מַאן בַּר נִפְלֵי א“ל מָשִׁיחַ מָשִׁיחַ בַּר נִפְלֵי קִרְיַת לֵהּ א“ל אֵין דִּכְתִיב (עָמוֹס ט, יָא) בַּיּוֹם הַהוּא אָקִים אֶת סֻכַּת דָּוִד הַנּוֹפֶלֶת א“ל הָכִי אָמַר רַבִּי יוֹחָנָן דּוֹר שֶׁבֶּן דָּוִד בָּא בּוֹ תַּלְמִידֵי חֲכָמִים מִתְמַעֲטִים וְהַשְּׁאָר עֵינֵיהֶם כָּלוֹת בְּיָגוֹן וַאֲנָחָה וְצָרוֹת רַבּוֹת וּגְזֵרוֹת קָשׁוֹת מִתְחַדְּשׁוֹת עַד שֶׁהָרִאשׁוֹנָה פְּקוּדָה שְׁנִיָּה מְמַהֶרֶת לָבֹא[7]

und הַיּוֹם Heute“ kommt der Messias, lautet daselbst eine andere Antwort, „heute, wenn — ihr meiner Stimme gehorcht! הַיּוֹם אִם בְּקוֹלִי תִּשְׁמָעוּ!

Nicht die günstigen oder ungünstigen äußeren Konstellationen der Zeit haben wir zu fragen, so wir wissen möchten was wir zu tun hätten in irgendeiner Zeit. Wie trüb sich auch die äußeren oder inneren Verhältnisse gestalten mögen, es gibt keine Zeit, in der wir die Hände in den Schoß zu legen hätten, keine Zeit, von der es uns erlaubt wäre zu sprechen: לֹא עֶת בֹּא עֶת בֵּית ה‘ לְהִבָּנוֹת „es ist jetzt keine Zeit, dass die Zeit kommen könnte, Gottes Haus zu erbauen (Chaggai[8] 1:2). Um für Gott zu wirken, um unsere Pflicht zu tun, unsere jüdische Aufgabe zu lösen, uns und die Unsrigen zu Gott und seinem heiligen Wort emporzuretten, dafür ist immer die Zeit da. Je größer der Verfall, je vereinsamter das Gute, je verlassener die Gottessache, je ungünstiger die äußeren Bedingungen des Heils, umso näher ist das Heil zu kommen, umso mehr steht der Messias vor der Tür, wenn nur die, die seiner harren, die ihn sich herbeiwünschen, das ihrige tun, nicht dumpf der Verzweiflung sich überlassen, nicht niedergeschlagen der Untätigkeit sich hingeben durch die Ungunst der Zeiten nicht irre machen lassen und wissen und danach handeln, dass jeder Tag, jede Stunde die rechte Zeit sei zum Heil, הַיּוֹם – אִם בְּקוֹלִי תִּשְׁמָעוּ, heute — wenn wir nur Ihm gehorchen möchten! Ja, je weniger wir den mißstimmenden Eindrücken einen Einfluss auf unsere Entschlüsse und Handlungen gestatten, je weniger wir uns nach dem umschauen, was die „Zeit“ und die Genossen der Zeit dazu sagen, je mehr wir uns ganz nur in das Bewusstsein und die Erkenntnis unserer Pflicht und unserer Aufgabe versenken und, unbekümmert um die Zeichen der Zeit, das Unsrige tun, munter, frisch, mutig, das Unsrige tun, umso mehr wird es gelingen, selbst die Zeit zu überwinden und die Ungunst der Zeiten zu besiegen. Ist nur das Werk, das wir treiben, Gottes Sache, treiben wir nur Gottes Sache, treiben wir sie nur — לְשֵׁם שָׁמַיִם — um Gottes Willen, ist es nur in Seinen Augen das Rechte, so wissen wir ja, dass הֲלִיכוֹת עוֹלָם לוֹ, dass die Gänge der Zeiten Sein seien, und Er für das rechte Werk auch jeden Tag und jede Stunde zur rechten Zeit umzuwandeln wisse.

„Und wäre schon der Feind vor den Toren, so ist es noch nicht notwendig, dass die Stadt eingenommen werde, und wäre die Stadt eingenommen, so ist noch nicht notwendig, dass der Tempel eingeäschert werde, und wäre der Tempel eingeäschert, so ist es noch nicht notwendig, dass das Galuth mit all seiner zerstörenden Wucht über uns hereinbreche, wenn wir nur noch in der letzten Stunde uns besinnen und umkehren und unsere Pflicht tun!“ Das ist die Mahnung, die wir aus den einzelnen Stadien unseres Untergangs zu schöpfen vermögen, deren Gedächtnis wir fastend begehen.

Überhaupt gewähren uns diese letzten Momente unseres tragischen politischen Falles einen Einblick in Verkehrtheiten menschlicher Ansichten und Bestrebungen, deren Erwägung wohl auch noch heute nicht ohne Nutzen sein dürfte. Wir suchen gemeinhin unsere Stärke, wo sie nicht zu finden ist und zeigen uns schwach, wo Festigkeit unsere einzige Aufgabe wäre. Wir kämpfen gegen Verhältnisse an, deren Überwindung gar nicht in unserer Macht liegt und lassen uns von Verhältnissen beherrschen, deren Gewalt nur in unserer Einbildung besteht. Gegen äußere Verhängnisse anzukämpfen ist unser Stolz, uns von den Burgtrümmern unserer Macht begraben zu lassen, unsere Ehre, Scham vor Mit- und Nachwelt verbietet uns der warnenden Stimme zu folgen, die כׇּל הַדּוֹחֵק אֶת הַשָּׁעָה — שָׁעָה דּוֹחַקְתּוֹ,[9] „wer den Moment zurückdrängen will, wird von dem Moment verdrängt“. Wo es aber gilt den inneren Verderbtheiten nicht zu folgen, uns von den Verkehrtheiten der Zeitgenossen nicht hinreißen zu lassen, wo uns Gott „an die Hand nimmt, um uns zurückzuhalten von den Wegen der Zeitgenossen und spricht: nennt nicht Verrat, was eure Zeitgenossen Verrat nennen, und was sie fürchten, fürchtet nicht und haltet es nicht für stark. Gott, Gott, Ihn haltet heilig hoch, Er sei, was ihr fürchtet, Er macht euch stark — (Jes. 8,11-13)“ da sprechen wir uns entschuldigend: „Wer kann den Strömungen der Zeit widerstehen!“

Es ist das dieselbe Verkehrtheit, die Chaggai8 mit den schon zitierten Worten geißelt: „dieses Volk spricht: es ist jetzt nicht an der Zeit, dass die Zeit kommen dürfte für den Aufbau des Gottesheiligtums! Wie? Für euch, für Euch ist es an der Zeit in euren gezimmerten Häusern zu sitzen — und mein Heiligtum müsste in Trümmern bleiben?“ Fällt es uns etwa zu schwer, uns den Zeitverhältnissen anzupassen? Von unsern Genüssen, unsern Gewohnheiten, unsern Bequemlichkeiten irgendetwas zu lassen, weil eine vernünftige Erwägung der Zeit und Umstände einer solchen Fügung in die Notwendigkeit das Wort reden würde, das kommt uns nicht in den Sinn. Da trotzen wir kühn und mutig der Zeit! Gilt es aber für Gott zu wirken — עֶת לַעֲשׂוֹת לה‘ — die Gegenwart, die Zukunft aus dem Verfall zu retten, für Gott und sein heiliges Wort in die Schranken zu treten, für den Aufbau seiner daniederliegenden Heiligtümer tätig zu sein, da sind wir wunder wie klug, vorsichtig und umsichtig, da haben wir sorgfältig alle Umstände und Anzeichen der Zeit nach allen Seiten hin gezählt und geprüft und erwogen und sind endlich zu der Einsicht gekommen, dass es nicht nur nicht an der Zeit, nicht „zeitgemäß“ sei für den Wiederaufbau des zertrümmerten Gottesheiligtums etwas zu tun, sondern dass es nicht einmal Zeit, dass es noch nicht einmal zeitgemäß sei zu denken, dass eine Zeit kommen werde, wo das Gottesheiligtum wieder zu erbauen sein würde! לֹא עֶת בַּא עֶת בֵּית ה‘ לְהִבָּנוֹת!!

Zwei Gottesbotschaften sind uns aus den Tagen der ersten Belagerung Jerusalems aufbewahrt. Die eine lautet: Schickt Euch in die Zeit! Kämpft nicht wider des Verhängnisses! Verehret es als Gottes Willen und zeigt durch Ergebung die Verehrung, die ihr Gott zollt. Die andere heißt: Kümmert Euch nicht um die Zeit! Erfüllt eure Pflicht! Übt Gottes Gebote, wie unzeitgemäß sie auch dem Kurzsichtigen erscheinen mögen. Sein Gebot ist ewig, die Zeiten ändern sich und eben die Änderung der Zeit liegt auch in Seiner Hand.

Es waren die falschen Propheten und der Ehrgeiz der Fürsten, die den Krieg und das Volk zu einem von Gott für unnütz erklärten Widerstand gegen die babylonische Macht aufstachelten. Jeremias ward wiederholt mit der Warnung, mit der beschwörenden Bitte gesendet: Höret nicht auf sie! Es ist Gott, dessen Sendung die babylonische Macht vollbringt! Ergebt euch ihr, dienet ihr, bis auch ihre Zeit herankommt; warum soll diese Stadt in Trümmer gehen? (Jerem. 27) — Er musste die Botschaft mit dem Kerker büßen.

Und er war im Kerker: das babylonische Heer belagerte Jerusalem, die Belagerungswerke waren schon an die Stadt gerückt, die Einnahme war nahe, die Stadt im Begriff, dem Schwert, dem Hunger und der Pest zu erliegen — da kam Chanamel S. Schalum, Jeremias Vetter, zu ihm mit dem Antrag: „Kaufe dir mein Feld in Anathoth; denn dir liegt nach dem Gesetz (3. B. M. 25, 25.) die verwandtschaftliche Erwerbseinlösung ob.“ Auf Gottes Geheiß erfüllte Jeremias die gesetzliche Pflicht, kaufte das Feld und vollzog diesen Kauf mit allen Förmlichkeiten der Urkundlichkeit und Zeugenbekräftigung, übergab die Kaufurkunden in möglichster Öffentlichkeit seinem Jünger Baruch und sprach: „So hat Gott, Israels Gott, gesprochen: Nehmt diese Kaufurkunden und legt sie in ein irdenes Gefäß, damit sie sich lange Zeit erhalten. Denn also hat Gott, Israels Gott, gesprochen, noch sollen Häuser, Felder und Weinberge in diesem Land gekauft werden.“ Nachdem jedoch dieser Akt vollzogen war, betete Jeremias zu Gott, und indem er die allmächtige Gotteswaltung im Himmel und auf Erden, in der Menschen- und der jüdischen Geschichte hervorhob, wagte er die Frage: „Siehe, die Belagerungswerke sind an die Stadt zur Einnahme gerückt, die Stadt fällt in die Hände der Chaldäer vor Schwert und Hunger und Pest; was du verkündet, erfüllt sich und du lässt es geschehen — und sprichst doch zu mir: Kaufe dir das Feld für den Wert und lasse es durch Zeugen bekräftigen — während die Stadt in die Hand der Chaldäer fällt?!“ Da ward ihm das Wort Gottes: „Siehe, ich, Gott, bin der Gott alles Fleisches; sollte mir irgendetwas unmöglich sein? Freilich gebe ich diese Stadt in die Hand der Chaldäer, sie nehmen sie ein, zünden sie an, verbrennen sie und alle Häuser, auf deren Dächern man dem Baal geopfert und andern Göttern gedient, um mich zu erzürnen usw. Gleichwohl sprach Gott, Israels Gott, über diese Stadt, von der ihr sagt, die fällt nun in die Hand des babylonischen Königs durch Schwert, Hunger und Pest, also: Ich sammle sie aus allen Ländern, wohin ich sie zürnend verwiesen, und führe sie zurück zu diesem Orte und lasse sie sicher wohnen, und sie werden mir zum Volke und ich werde ihnen Gott, und gebe ihnen ein Herz und einen Wandel, mich alle Zeit zu ehrfürchten, zu ihrem und ihrer Kinder Heile, und schließe mit ihnen einen ewigen Bund, also, dass ich nie wieder von ihnen zurücktrete, sie zu beglücken, und gebe meine Ehrfurcht in ihr Herz, dass auch sie nicht mehr von mir weichen, und ich freue mich dann ihrer sie zu beglücken, und pflanze sie in Wahrheit in dieses Land mit meinem ganzen Herzen und meinem ganzen Willen. Denn so wie ich dieses ganze große Unglück über dieses Volk gebracht, so bringe ich auch all das Glück, das ich jetzt über es verkünde und — es wird dann Feld gekauft werden in diesem Lande, das ihr jetzt von Menschen und Tieren verödet und in der Chaldäer Hand gegeben nennt. Kaufe man darum immerhin noch Felder für Geld, und verzeichne es in Urkunden und unterschreibe im Lande Benjamin und in Jerusalems Umgebung, in den Städten des Gebirges, der Niederung und des Südens; denn ich führe ihre Vertriebenen zurück, spricht Gott.“ [10]

Der Geist aber dieser beiden Gottesbotschaften hat unsere Väter alle die Jahrtausende herab bis auf unsere Zeit geleitet, und er war es, der alle Fluten der Zeitenströmung über ihre Häupter dahingehen und sie aus allen als Juden hervorgehen ließ. Ergeben im Geschick und fest in der Pflicht, waren sie zugleich biegsam wie das Rohr und fest wie die Eichen, waren scheu wie das Reh und stark wie Leoparden, leicht wie der Adler und mutig wie die Löwen — um mit beidem den Willen ihres Vaters im Himmel zu erfüllen.

Wir haben von beidem vieles eingebüßt. Wir sind viel empfindlicher gegen äußere Geschickeswunden geworden, obgleich unsere Lebensbahnen sich zu den Pfaden der Väter wie Rosen zu Dornen verhalten. Wir sind fast bis zur Apathie resigniert geworden hinsichtlich aller und jeder pflichtvergessenen Gewissenlosigkeit und Geister und Gemüter verstrickenden theoretischen und praktischen Leichtfertigkeit, obgleich diese Erscheinungen unser inneres Heiligtum fast bis zur Vernichtung zu untergraben drohen. Die geistesdumpfe Äußerung irgendeines Abgeordneten in irgendeiner Kammer, die das Schein-Palladium unserer Berechtigung in staatlicher, äußerer Beziehung zu gefährden beabsichtigt, wird bis in die Schulstube des letzten Dorfes hinab Jung und Alt in Harnisch bringen. Dass aber der Abfall vom jüdischen göttlichen Gesetz immer mehr um sich greift, bereits ganze Geschlechter in völliger Unkunde der jüdischen Pflicht, ja in vollständiger Verkennung der jüdischen Wahrheit heranwachsen, dass in der Kollision der jüdischen Pflicht mit dem, was man „die Zeit“ zu nennen beliebt, die jüdische gottgebotene Pflicht ohne weiteres wie nichts bedeutender Plunder bei Seite geschoben und dieser innere Verrat nicht nur geübt, sondern noch von denen mit der Weihe der Berechtigung bekleidet wird, die zu allererst berufen wären, für Gott und sein Recht gegen diesen Leichtsinn und Abfall in die Schranken zu treten, dass Gottes Gesetz nicht nur im Leben der Gegenwart mit Füßen getreten wird, sondern der Geist dieser Gottesvergessenheit sich bereits aller geistigen Pflanzstätten unserer Zukunft, Schulen, Lehranstalten, Bildungsanstalten unserer künftigen Männer und Frauen, unserer künftigen Lehrer und Führer bemeistert, dass Stellungen des öffentlichen jüdischen Vertrauens missbraucht werden, um das jüdische, göttliche Gesetz bei Regierungen in Misskredit zu bringen und dessen Erfüllung im eigenen jüdischen Kreise zu verhindern, dass das öffentliche Wort und die Wissenschaft — oft nichts weiter, als die wissenschaftliche Form des Ausdrucks — missbraucht werden, um mit unendlichster Leichtfertigkeit, mit der wissenlosesten Ungründlichkeit und mit gewissenlosester Unwahrhaftigkeit die Wahrheit unserer Vergangenheit und Gegenwart zu entstellen, die Reinheit von Toten und Lebenden zu besudeln und auf dem Boden einer geflissentlich genährten Unkenntnis der Zeitgenossen die Diktate der Willkür und der Verleumdung zu zeichnen — das alles wird höchstens mit einem ohnmächtigen Seufzer hingenommen, und selbst diejenigen, die solche Erscheinungen aufs tiefste beklagen, zucken wortlos und tatenlos die Achseln und sprechen: Was vermag man wider die Zeit!

Wunderbare Allmacht des Worts! Segen und Fluch trägt es auf seinem Fittig und ist der allgewaltigste Zauberer im Kreis der Menschen. Nicht der Schöpfer eines neuen Gedankens, der Erfinder eines neuen Wortes beherrscht die Welt! Ohnmächtig bleiben die Gedanken, die guten und bösen, die wahren und falschen, solange sie noch nach einem Ausdruck ringen, solange ihnen die Bezeichnung allgemeiner Präge fehlt, die sie von Mund zu Mund, auch zu dem Gedankenlosesten trage. So lange Gedanken nur denkend angeeignet werden können, so lange müssen sie bis zur Klarheit durchgedrungen sein, um nur überhaupt im Bewusstsein zu haften, und so lange werden sie nur in dem engen Kreis wirklich denkender Geister sich bewegen und wenig Einfluss auf die Massen üben. Gebt aber einem bestimmten Kreis von Gedanken und Vorstellungen ein bestimmt markiertes Wort, so habt ihr dem Gedanken Flügel angesetzt; bis in den Kreis der Unmündigen trägt es sich hin, und je weniger sie denken, je unklarer ihre Vorstellungen, um so freudiger haschen sie nach dem neuen Schall, um so willkommener begrüßen sie das neue Wort, um so froher sind sie des neu gewonnenen Schatzes, und indem sie mit dem neuen Wort schon einen neuen Gedanken, eine neue Wahrheit zu haben vermeinen, füllen sie den leeren Raum des angewehten Schalles mit so viel und solchem Inhalt aus, als ihnen aus jenem ihren dunklen Kreis von Gedanken und Vorstellungen am Zusagendsten und Behaglichsten entgegendämmert. Allgewaltig sind solche in die Massen geschleuderte, neugeprägte Schallmünzen — Stichwörter nennt sie die Welt — und haben schon Welten erschüttert und Reiche zertrümmert! Schwer angeeignet ist der Gedanke; leicht auf die Lippen gehoben das Wort. Schwer verständigen sich die Gedanken; leicht vereinigen sich Massen im Wort, bei dem doch jeder nur das seine denkt, das jeder sich nach seinen Ansichten deutet und an welches jeder die Ernte seiner Hoffnungen knüpft. Und ein Wort, von Tausenden gesprochen, von Tausenden zum Panier ihrer Bestrebungen, zum täuschenden Erkennungszeichen einer vermeintlichen Übereinstimmung erhoben, wird durch die zuerst scheinbare Gewalt zu einer wirklichen Macht, zu einem Götzen, dem Vergangenheit und Gegenwart geopfert und von dem die neue, bessere, glückliche Zukunft erhofft wird. Mit einem solchen Zauberwort im Munde dünkt sich jede Gegenwart auf dem Gipfel der Vollendung, blickt verächtlich auf die Schöpfungen der Vergangenheit herab, deren Schöpfer ja das neue Zauberwort nicht gekannt, und im Besitz der neuen Wahrheit und Weisheit nicht gewesen, die der neue Schall jedem verbürgt. Es hat vielleicht noch keine kleine oder größere Umwälzung in den menschengesellschaftlichen Verhältnissen gegeben, die nicht von einem solchen Stichwort getragen worden wäre. Eine Geschichte, der nach und nach zur Geltung und Herrschaft gelangten Stichwörter dürfte zu den interessantesten und — belehrendsten Aufgaben einer Kultur- und politisch-historischen Forschung gehören. Wohl dürfte sie freilich auch das niederschlagende Ergebnis liefern, dass unklare und halbwahre Gedanken bis jetzt viel augenfälligere Macht über die Gemüter der Menschen geübt als in Wahrheit geborene und in Klarheit festgehaltene Gedanken wirklicher Erkenntnis.

Es sind nun etwa 40 Jahre her[11], wir standen noch im reiferen Knabenalter, die europäische Welt glaubte eben in das Stadium der Beruhigung getreten zu sein und begann die Trümmer zu sichten und die Goldkörner zu suchen, die ihr aus den welterschütternden Stürmen als das Stammkapital für die neue Zukunft etwa geworden oder geblieben. Man suchte sich einzurichten für die neue Zukunft. Auch an das, was man „Religion“, „Kirche“, „Glauben“ nennt, kam die Reihe des zurechtlegenden Gedankens, und es wirkte vieles zusammen, was nicht vergessen werden sollte oder durfte. Der Geist, der die Welt erschütterte und den Riesen erzeugt hatte, den die vereinte Macht der Völker erst nach so vielen vergeblichen Anstrengungen zu erlegen im Stande gewesen[12], meinte man könne nur durch entgegengesetzten Geist beschworen werden, und diesen Geist suchte man in den Kirchen, denen die letzten 30 Jahre die Beter und Gläubigen entführt hatten. Ohnehin hatten die welterschütternden Ereignisse, die man erlebte, die Gemüter nach oben gerichtet und so war es Bedürfnis und Mode, wieder kirchlich zu sein. Auch den jüdischen Kreis berührte dieser „natürliche“ Umschwung der Ansichten. Dort war aber eine Wiederhuldigung des „Kirchlichen“ ein Bisschen schwerer. Der jüdische Ernst meint es zu ernst und der Abfall davon hat eine viel zu tiefe, praktisch einschneidende Bedeutung, als dass eine jeweilige beliebige Rückkehr auf das Kommandowort des Tages so leicht zu bewerkstelligen wäre. Mit salbungsreichen oder frivolen Phrasen ist es dort nicht abgetan. Die Augen himmelwärts oder erdwärts gerichtet, das entscheidet nichts, nicht einmal fleißiger oder seltener „Kirchengang“ wirft eben viel in die eine oder andere Schale. Das ganze praktische, wirkliche Leben ist die jüdische Kirche, in der Küche und im Büro, in der Familie und in der Gesellschaft wird die Anhänglichkeit am Judentum besiegelt oder verleugnet. Rückkehr zum Judentum heißt Umwandlung des Lebens, sowie sich der Abfall vom Judentum in der Frivolität des Lebens vollzieht. Es ist das Judentum, das in Wahrheit spricht: nicht an eurem „Glauben“, an euren Taten will ich euch erkennen. Doch wir tun vielleicht Unrecht, im Präsenz zu sprechen, hätten wir vielleicht „sprach“ sagen sollen; denn eben eine Umwandlung des Judentums in seinem innersten, eigensten Wesen begann damals versucht zu werden. So lange es im nichtjüdischen Kreis Mode war, „Glauben“, „kirchlichen Sinn“, „Religion“ zu verleugnen, so lange fiel es keinem das Judentum praktisch verleugnenden Juden ein, sich trotz seines Bruchs oder gar eben wegen seines Bruchs mit dem jüdischen Gesetz seinen Zusammenhang mit dem Judentum zu vindizieren[13]. Er war sich vollkommen seines Gegensatzes zum Judentum bewusst und würde jedem den Prozess gemacht haben, der ihn hätte anders auffassen, ihn zu den „Religiösen,“ oder gar noch zu den Religiösen par excellence hätte zählen wollen. Denn „irreligiös,“ „nicht religiös“ sein, war ja en vogue[14]. Als aber in der großen Welt die Ansichten umschlugen und alle Welt sich beeilte, wiederum „kirchlich zu sein, da befanden sich in der Tat die „Aufgeklärten“ der kleinen jüdischen Welt in einer argen Verlegenheit. Nichtkirchlich bleiben ging nun schon nicht, das Kommando des Tages lautete nun einmal auf „Kirchlichkeit.“ Jüdisch kirchlich werden in dem wahren jüdischen Sinne ging aber noch viel weniger; denn das forderte nichts Geringeres, als Entsagung teuer gewordener Lebensgewöhnungen, als Verzicht auf Lebenswege, die nun einmal nur mit Hintansetzung der jüdischen Gewissenhaftigkeit zu betreten waren, forderte nichts Geringeres, als Rückkehr zur alten jüdischen Gesetzlichkeit, die den Treuen eine Wonne, den Abgefallenen ein drückendes Joch erscheint.

Da bewährte die Not ihre erfinderische Kunst. Es galt ja zunächst, in den Augen der Machthaber des Tages die kirchliche Färbung zu retten, es galt ja zunächst nur, in nichtjüdischen Kreisen nicht durch Unkirchlichkeit unmodisch zu erscheinen, es galt ja zunächst nur, den Anforderungen des Tages nach kirchlichem Sinn auch jüdischerseits irgendwie zu genügen. Was wissen die Machthaber, was wissen die Stimmführer des Tages, was weiß man in nichtjüdischen Kreisen von Wahrheit und Lüge im Judentum, vom Judentum, seiner Wesenheit und seiner Bedeutung! Was lässt sich da vom Judentum nicht schwatzen! Wie ist man da nicht geneigt, wie soll man da nicht geneigt sein, einem Plädoyer Beifall zu nicken, je mehr es sich den Ansichten anschmiegt, denen man selbst im eigenen kirchlichen Gebiete huldigt, je mehr es sich von allem entfernt, was dort von je her im Judentum so fremdartig unheimlich erschien, je mehr es in die Bahnen einzulenken scheint, in welchen vor Jahrhunderten einst das eigene kirchliche System aus dem Schoße des Judentums hervorgewachsen! Kurz, der Ausweg war gefunden. Man baute jüdische Kirchen, Tempel in Leipzig, Tempel in Berlin, Tempel in Hamburg, Tempel für die im Leben mit dem jüdischen Gesetz Zerfallenen, man adoptierte in buchstäblichster Bedeutung den „kirchlichen Sinn“ für den jüdischen Kreis, erklärte den Abfall vom jüdischen Gesetz als religiösen Fortschritt im Judentum, ließ auch das Judentum aufgehen in Katechismus[15], Predigt und Kirchengang und die luftige Brücke der Rückkehr war leicht und glücklich gebaut. Nichts von Rückkehr zur schwerfälligen jüdischen Gesetzlichkeit, nichts von Umwandlung des Lebens, von opferfreudiger Dahingebung liebgewonnener Gewohnheiten und Stellungen. Wo einer einmal stand, da war er im Lichte religiösen Heils — wenn er nur die neuen Tempel mitbaute, die neuen Tempel mit besuchte, ein paar andächtige Tempelminuten an Sabbath und Festtagen, alle Woche, alle Quartale, alle Jahre einmal dem Geschäft oder den Zerstreuungen des Lebens abgedungen, und man war mit dem irreligiösesten Leben der religiöseste Mensch von der Welt in den Augen der Welt, deren Captatio benevolentiæ[16] es ja im Grunde einzig und allein galt.

War man aber einmal so weit, so blieb man naturgemäß dabei nicht stehen. Was man zuerst nach außen errichtet hatte, damit machte man nun mit einem Mal auch nach innen Front. Der nach außen blendende Schein sollte nun auch das nach innen leuchtende Licht werden, die nach Außen schützende Larve sollte auch nach innen als das Antlitz der Wahrheit verehrt werden, die Letzten traten mit einem Mal als die Ersten in Israel auf, die Abgefallenen als Führer, die Gesetzverhöhnung sollte als Gesetzlichkeit sanktioniert, der Leichtsinn als Fortschritt begrüßt und an das Judentum allen Ernstes das Ansinnen gestellt werden, den Abfall von sich selber als höchstes Stadium seiner welthistorischen Aufgabe anzuerkennen. Was man bis jetzt mit pochendem Herzen und störendem Gewissensskrupel geübt, erhielt mit einem Mal die religiöse Weihe eines gottgefälligen Strebens, — man sprach vom [17] קִדּוּשׁ הַשֵּׁם, das man in dem der nichtjüdischen Welt für das nichtjüdische Streben durch Orgelklang und Chorgesang abgelockten Beifallslächeln errungen, und stachelte sich zu einem blinden, verfolgungssüchtigen Fanatismus empor, der zur Verhöhnung und Verketzerung des gesetzestreuen Lebens seine Propaganda machenden Priester und Jünger aussandte.

Und diese Propaganda suchte nach einem „Wort“, das sie auf ihre Fahnen schreiben, in dessen Namen sie den Abfall vom jüdischen Gesetz predigen und das sie ihren Jüngern als das Erkennungs- und Vereinigungszeichen, als die Parole und den Schlachtenruf mit hinausgeben konnte, vor dessen Zaubermacht die alten Riegel und Schlösser der jüdischen Gesetzgebung weichen und mit dessen Zaubergewalt die neue Abfallsreligion bis in die innersten Räume des Familienlebens und in die Pflanzstätten des kommenden Geschlechtes getragen werden sollte. Und dieses Wort war: „der Zeitgeist!“ Es war der Zeitgeist, dem gehuldigt, es war der Zeitgeist, dem geopfert, es war der Zeitgeist, dem das Judentum mit seinem göttlichen Gesetz sich beugen sollte, es war der Zeitgeist, der alles entschuldigte, alles sanktionierte, alles heiligte. Was wurde nicht alles im Namen des Zeitgeistes gefordert und bewilligt, geübt und geduldet! Es war das Stichwort, das alle weitere Erörterung überflüssig machte, dass der dümmste Junge seinem greisen, bekümmerten Vater ins Angesicht schleudern konnte, in dessen Huldigung die verbildete Dame sich groß tat, das alle Rücksichtslosigkeit rechtfertigte und alle Mängel ersetzte. Der Zeitgeist, der die Tempel erbaute und die Kanzeln bestieg und die Orgeln einführte, das war auch der Zeitgeist, der das jüdische Gesetz in Wissenschaft und Leben ächtete. Der jüdische „Geistliche“ brauchte nur dem Zeitgeist zu huldigen, um sich mit der Unwissenheit in dem Schrifttum und der alten jüdischen Gesetzesweisheit stolz brüsten zu können. Die jüdische Schule brauchte nur unter dem Patronat des Zeitgeistes zu stehen, um die Unkenntnis der jüdischen Gesetzeslehre für die jüdische Jugend obligat zu machen. Und im Leben, in der Familie, in der Ehe? Im Namen des Zeitgeistes zündete sich der Jüngling die Zigarre am Sabbath, im Namen des Zeitgeistes ging er zur Table d’hôte[18], im Namen des Zeitgeistes öffnete der Mann das Geschäftsbüro am Sabbath, im Namen des Zeitgeistes riss die Frau die sittige Hülle vom Haupt, im Namen des Zeitgeistes wich die Keuschheit und Reinheit aus dem jüdischen Eheleben, im Namen des Zeitgeistes die Reinheit und Weihe vom jüdischen Tisch. Mit dem Wort „Zeitgeist“ im Mund verlachte der Sohn „die Zucht des Vaters und die Lehre der Mutter“, blieb er taub für die Seufzer des Vaters und fühllos gegen den Gram der Mutter. Als wäre der Zeitgeist der allheilige Gott und seine Jünger die gottbegeisterten Leviten und die dem göttlichen Gesetz Treuen das um das goldene Kalb tanzende Volk — sprachen sie zu Vater und Mutter: „ich sehe dich nicht“, und zu den Brüdern: „wir kennen euch nicht“, lehrte man sie, dass sie, die leichtsinnigsten Höhner des göttlichen Wortes, die eigentlichen Wahrer seiner Zeugnisse wären, und ihre Bundesbrüchigkeit die eigentliche Erhaltung seines Bundes sei und dieser Wahn zerriss die heiligsten Bande des Bluts und der Verwandtschaft, zertrümmerte Israels Kapitol: die Familie, scheuchte den Frieden aus den Häusern und die Eintracht aus den Gemeinden  und überantwortete unsere heiligsten Angelegenheiten, die Freiheit unseres Gewissens, die Berechtigung unserer Lehre, die Erfüllung unseres Gesetzes, die Selbstständigkeit unserer Gemeinden Händen, die, um des Zeitgeistes willen, dieses alles verrieten, und eine geistige Knechtschaft über uns heraufbeschworen, aus der wir uns noch nicht erlöst.

Niemals wäre es so weit gekommen, hätte man für all diesen weitschichtigen Verrat, für alle die mannigfachen Verletzungen und Höhnungen des göttlichen Gesetzes nicht ein Wort erfunden, das sie alle mit einem Fittig bemäntelte, und dem betörten Volk einen Namen an die Hand gab, mit welchem die Einfältigsten alle Gelüste ihres Herzens und alle Ausschreitungen ihrer Handlungsweisen vor jeder Anfechtung zu feien in den Stand gesetzt wurden. Wie heutzutage ganze Ortschaften durch die Bezeichnung „Armenverein[19]“ an ihren Häusern sich die Berechtigung zu erkaufen meinen, den einzelnen Stimmen der flehenden Armut taub bleiben zu dürfen, und, wenn dann das heimatlose Elend ihre ungastlichen Stätten meidet, sich bereden das Elend vernichtet zu haben, also schrieben damals Menschen, Familien, Gemeinden „Zeitgeist“ an ihre Stirn und glaubten mit diesem einzigen Wort sich die Zudringlichkeit des alten göttlichen Gesetzes vom Halse geschafft zu haben. Sie opferten dem Zeitgeist, welches Recht hätte da noch Gottes Gesetz, Opfer von ihnen zu fordern! Das Judentum ging betteln durch die Lande, aber die dem Zeitgeist geweihten Gemüter und Häuser der Wohlhabenden und Gebildeten verschlossen sich ihm, und indem man es auf die verlassene Landstraße und in die Öde des Elends und der Verkommenheit verwies, glaubte man das ewige Gesetz des lebendigen Gottes aus dem Reich der Lebendigen gestrichen zu haben. Niemals aber endlich wäre es so weit gekommen, wenn nicht diejenigen, die alle diese Erscheinungen und Vorgänge aufs tiefste beklagten, allen diesen Erscheinungen und Vorgängen gegenüber selbst den Mut verloren hatten, in ihrer Zuversicht zu der ewigen, alles obsiegenden Macht der göttlichen Wahrheit irre geworden wären und da, wo es eben galt die ganze Mannesfestigkeit und Entschiedenheit der gottgetragenen Überzeugung zu bewähren, eine Schwäche und Unentschiedenheit zeigten, die alles verdarb. Die Zeit, in deren Namen solche Zerstörungen im Gottesheiligtum geschahen, so wie insbesondere ihr Sohn, der Zeit-Geist, dessen vorgebliche Diktate dieses alles vollbrachten, erwuchs ihrer Einbildung zu einer wirklichen Macht, zu einer dämonenartigen Gewalt, der selbst zu folgen sie allerdings nun um keinen Preis sich entschlossen hätten, die aber besiegen zu können sie für immer verzweifelten. So ließen sie geschehen, was sie nicht ändern zu können vermeinten und glaubten noch durch sogenannte Nachgiebigkeit der Sache Gottes umso mehr zu dienen, da man ihnen vorspiegelte, Widerstand, ja auch nur Widerspruch würde das Arge nur noch ärger machen. Man beredete sie, die großen starken Meister und Träger unserer Vergangenheit würden in einer solchen Zeit auch von ihrer Entschiedenheit und Festigkeit in weiser Nachgiebigkeit abgelassen haben, während doch jedes Blatt unserer Urkunden bezeugt, wie von einer solchen Konnivenz[20] ihre Weisheit nichts wusste. Die Männer, die unser Volk mit Recht die Weisen nennt, fürchteten keine Zeit und trugen vor keinem Geist der Zeiten Scheu. Sie kannten die Nichtigkeit eines jeden Geistes, der im Widerspruch gegen Gottes ewiges Gesetz seinen Boden sucht. Sie wussten כִּי גּוֹאֲלִים חָי וְאַחֲרוֹן עַל עָפָר יָקוּם, dass ihr Erlöser lebe und noch als der letzte dastehen werde, wenn auch alles andere sich als Staub der Vergänglichkeit erwiesen. Sie wussten, die Zeit sind wir, und Zeitgeist ist der Menschen Geist, an dem wir alle unser Teil mittragen. Der Geist, der in jedem von uns lebendig ist, gehört mit zum Geist der Zeit, und mit jedem Gedanken, jeder Gesinnung, die wir in uns beleben und sie durch Wort und Tat zur Anschauung und Verwirklichung bringen, dass sie mit sichtbar werden in dem geistigen Fonds, zu welchem jeder Zeitgenosse bewusst und unbewusst seinen Beitrag liefert — mit jedem laut gewordenen Gedanken, mit jeder Tat gewordenen Gesinnung wirkt jeder ein auf den Geist der Zeit und je lauter das Wort, je entschiedener die Tat, umso mächtiger der Eindruck, um so bedeutender die Spende zum Geist der Zeit. Das wussten sie. Je trüber daher sie die Erkenntnis des Wahren und je schwankender sie die Treue für das Wahre in irgendeiner Zeit erblickten, umso mächtiger fühlten sie sich berufen mit Entschiedenheit das Wort der Wahrheit zu sprechen, und mit doppeltem Ernst die Treue in Tat zu besiegeln. [21] אַתֶּם עֵדַי וַאֲנִי ק“ל „ihr seid meine Zeugen und ich bin Gott“. Der Gottesruf bestimmte all ihr Tun und Lassen, und Zeugnis abzulegen für Gott und sein heiliges Gesetz in Wort und Tat, in Leben und Sterben, das war der Inhalt ihres ganzen Seins. Und diesen Inhalt ihres ganzen Seins ließen sie umso entschiedener in die Zeit hineinleuchten, je verwaister und ärmer die Zeit erschien, je verlassener sie die Wahrheit erblickten und je mehr es Not tat, durch lautes, lebendiges Zeugnis das Bewusstsein die Wahrheit zu wecken und die Gemüter für Gott und sein heiliges Gesetz zu retten, in denen der Geist der Zeit noch nicht alle Empfänglichkeit für das Gute und Wahre ertötet. In welchem Umfang ihnen dies gelingen mochte, stellten sie Gott anheim. Noch weniger bekümmerten sie die politischen äußern Zeitbeziehungen. Sie lebten immer am Vorabend der Erlösung, מְהֵרָה יִבָּנֶה בֵּית הַמִּקְדָּשׁ [22]. Sie wussten es:

„Wenn auch der Feind schon vor den Toren, so braucht doch die Stadt noch nicht eingenommen zu werden, und wenn auch die Stadt schon eingenommen, so braucht noch der Tempel nicht verbrannt zu werden, und wenn auch der Tempel eingeäschert, so braucht noch das Volk nicht zerstreut zu werden, und wenn auch die Zerstreuung bereits vollzogen, so ist doch die Erlösung jeden Augenblick nahe, aus dem tiefsten „Verfall“ tritt der Messias hervor und jeder Zeit ruft Gott sein: „Heute“ entgegen, הַיּוֹם אִם בְּקוֹלִי תִּשְׁמָעו „heute, wenn ihr auf meine Stimme hört!“  


Anmerkung: Dieses wichtige Zeitdokument sollten wir wie den אגרת הרמב“ן einmal wöchentlich lesen:

תִּקְרָא הָאִגֶּרֶת הַזֹּאת פַּעַם אַחַת בְּשָׁבוּעַ וְלֹא תִפְחֹת, לְקַיְּמָהּ וְלָלֶכֶת בָּהּ תָּמִיד אַחַר הַשֵּׁם יִתְבָּרַךְ, לְמַעַן תַּצְלִיחַ בְּכָל דְּרָכֶיךָ, וְתִזְכֶּה לָעוֹלָם הַבָּא הַצָּפוּן לַצַּדִּיקִים. וּבְכָל יוֹם שֶׁתִּקְרָאֶנָּה – יַעֲנוּךָ מִן הַשָּׁמַיִם כַּאֲשֶׁר יַעֲלֶה עַל לִבְּךָ לִשְׁאֹל, עַד עוֹלָם. אָמֵן סֶלָה

[1] Fastentag 10. Teweth

[2] Fastentag 17. Tamus

[3] Fastentag 9. Aw

[4] Fastentag Zom Gedalja, 2. Tischri

[5] Wikipedia: Rab Nachman bar Jakob (Raw Nachman ben Jakob), gewöhnlich einfach Rab Nachman, war ein Amoräer der 3. Generation in Babylon.

[6] Wikipedia: Jochanan ben Sakkai (* um 30; † um 90; hebräisch יוחנן בן זכאי) war ein jüdischer Gelehrter der ersten Tannaiten-Generation, stellvertretender Vorsitzender des Sanhedrin zur Zeit des Vorsitzenden Gamaliels des Älteren und lebte im 1. Jahrhundert n. Chr.

[7] Sanhedrin 96b-97a: „R. Naḥman sprach zu R. Jiçḥaq: Hast du vielleicht gehört, wann der Sohn der Verfallenen kommen wird? Dieser fragte: Wer ist denn der Sohn der Verfallenen? Jener erwiderte: Der Messias. – Den Messias nennst du Sohn der Verfallenen!? Jener erwiderte: Freilich, denn es heißt: an jenem Tage werde ich die verfallene Hütte Davids wieder aufrichten. Da erwiderte er: So sagte R. Joḥanan: Im Zeitalter, in dem der Sohn Davids kommen wird, werden die Schriftgelehrten vermindert werden, und auch die Augen der anderen werden vor Trauer und Klage dahinschwinden; viele Leiden und böse Verhängnisse werden neu aufeinander folgen; bevor noch das eine vorüber sein wird, wird das andere bereits herbeigeeilt sein.“ Übersetzung Lazarus Goldschmidt 

[8] Wikipedia: Haggai (hebräisch חַגַּי [χagˈgaj], deutsch ‚Der am Festtag Geborene‘, altgriechisch Ἀγγαίος [anˈgaiɔs], lateinisch Aggaeus, oder Aggeus) war ein Prophet und Autor des nach ihm benannten Prophetenbuchs im Tanach.

[9] Berachot 64:2

[10] Jeremia 32:7-44

[11] Eine Anspielung auf den Wiener Kongress (18.09.1814-09.06.1815) bei dem nach der Niederlage Napoleons Europa neu „geordnet“ wurde.

[12] Napoleonische Kriege von 1769-1815

[13] als Eigentum beanspruchen

[14] modern

[15] Seit dem 16. Jahrhundert bedeutet Katechismus ein Buch für die religiöse Bildung in Kirche, Familie und Schule, das eine kurze Zusammenfassung der christlichen Heilslehren enthält.

[16] Wikipedia: Im weiteren Sinne wird unter der Captatio Benevolentiae jegliche Form des Werbens um die Gunst des Publikums verstanden, insbesondere Anbiederung und Schmeichelei

[17] Heiligung Gottes

[18] gemeinsame Tafel für alle Gäste, (ohne Berücksichtigung der jüd. Speisevorschriften)

[19] Nicht erst im 19. Jhdt. entstanden sogenannte „Armenvereine“, an denen sich Bedürftige um Hilfe wenden konnten. Nicht selten wurden Hilfsbedürftige an diese Armenvereine verwiesen, um sich selber der Hilfeleistung zu entziehen.

[20] Nachsichtigkeit, Duldsamkeit

[21] Jesaja 43:12

[22] Schon bald wird der Tempel erbaut

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