Der Enkel Rabbiner S.R. Hirschs s“l, Isaac Breuer (1883-1946) war nicht nur Rechtsanwalt, Philosoph, Politiker, Talmudist sondern auch Schriftsteller. Als Schriftsteller hat er drei Romane geschrieben. 2 Antikriegsromane, „Die Suche nach Gott“ (1920) und „Falk Nefts Heimkehr“ (1923) sowie den 1934 erschienenen Roman „Der Neue Kusari“. Der Roman besteht aus 4 Teilen wobei der 1. Teil als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „Nachlat Zwi“ erschien. Von dort habe ich Ihnen, so zu sagen als Leseprobe, den nachfolgenden Auszug hier bereitgestellt.

In dem Roman geht es darum, dass ein junger, vollkommen assimilierter jüdischer Mann des 20. Jahrhunderts, Alfred Roden, durch einen Traum wachgerüttelt wird und dadurch beginnt sich für seine jüdischen Wurzeln zu interessieren. Dabei lernt er die verschiedensten Auffassungen über das Judentum kennen bis er sich letzten Endes für das orthodoxe Judentum, und hier für die agudistische Ausrichtung entscheidet.

Den hier abgedruckten Teil des Romans finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2552057?query=Viertes%20Kapitel

Vor diesem Dickicht organisatorischer Gebilde[1] stand Alfred Roden mit pochendem Herzen und hielt nach dem Judentum Ausschau. Die negative Seite seines Judeseins war ihm längst klar geworden. Seine Unfähigkeit, das Leben so einfach hinzunehmen, wie es ihm gegeben war, seine Rebellion gegen die historisch gewordenen Zustände seiner Umwelt, seine Ablehnung des Staats oder der Wirtschaft oder selbst der Kultur als letzter Werte an sich, seine Empörung über das Leid, in das die überwältigende Mehrheit aller Menschen versunken war, seinen gänzlichen Mangel an normalem Daseinsgefühl all das führte er auf sein Judesein zurück, das ihm und seinen Vorfahren seit vielen Jahrhunderten eine Sonderstellung in der Geschichte der Menschen angewiesen hatte. Den Sinn dieser Sonderstellung wollte er erfassen, gewissermaßen ihr Programm. Dass sie das Ergebnis zusammenwirkender Zufallsumstände sein könnte, lehnte er mit der ganzen Energie seines Wesens ab. Ein solcher Erklärungsversuch kam einem allgemeinen Verzicht auf sinnbegabte Menschengeschichte gleich. Ganz im Gegenteil bedeutete ihm die Tatsache seines Judeseins das tiefste geschichtliche Rätsel, den Ausgangspunkt all seiner Überlegungen. Bis in die innersten Fasern seines Herzens war er von fassungslosem Staunen über diese Tatsache erfüllt. Er wusste sich einem Menschenschlag zugehörig, dessen ungeheuerliches Schicksal jeder und aller geschichtlichen Erfahrung Hohn sprach. Vielleicht wäre sein Staunen geringer gewesen, wenn er von Kindheit an inmitten der jüdischen Sache gestanden hätte. Die Gewohnheit ist der größte Feind des Staunens. So aber kam er gleichsam in reiferem Alter von außen an das jüdische Phänomen heran und fühlte sich von ihm aufs tiefste erschüttert. Geradezu Entsetzen erfasste ihn, als er eines Abends in der Bibel blätterte, was er jetzt oft tat, und auf das 26. Kapitel des dritten Buches Mosis stieß, das in lapidaren Sätzen das jüdische Phänomen einfach weissagte.

„Ich gebe eure Städte der Zertrümmerung hin
Und lasse eure Heiligtümer veröden,
Und nicht nehme ich mehr an
Den Ausdruck eurer Willfahrung.
Ich mache dann zur Öde — Ich! — das Land,
Und es veröden darauf eure Feinde,
Die darin sich niederlassen.
Euch aber zerstreue ich unter die Völker
Und zücke hinter euch her — Schwert;
Es bleibt euer Land aber öde,
Und eure Städte bleiben Trümmer.
Jetzt sühnt das Land seine Sabbathe
Alle Tage der Verödung,
Und ihr — im Land eurer Feinde;
Jetzt feiert Sabbath das Land
Und sühnt seine Sabbathe.
Alle Tage der Verödung hält es Sabbath,
Ihn, den es nicht hat halten können
Während eurer Sabbathjahre,
Als ihr in ihm noch wohntet.
Und die übrig bleiben von euch —
Ich bringe Verzagtheit in ihr Herz
In den Ländern ihrer Feinde,
Es treibt sie — Flüstern verwehten Blatts,
Sie fliehen Schwertes Flucht,
Sie fallen — und keiner verfolgt.
Und es wird euch kein Aufkommen sein
Vor euren Feinden.
Ihr verliert euch unter den Völkern,
Es zehrt euch — das Land eurer Feinde.
Die aber übrig bleiben von euch —
Sie verwesen durch eigene Sünde
In den Ländern eurer Feinde,
Und auch
Durch die Sünden ihrer Eltern an ihnen verwesen sie:
Bis sie sich gestehen eigene Sünde und die Sünde ihrer Eltern
In ihrer Untreue, die sie treulos waren wider mich,
Und auch,
Dass sie gewandelt mit mir in Zufall.
Und auch ich —Ich wandle mit ihnen in Zufall,
Und bringe sie also heim — im Lande ihrer Feinde.
Oder dann beugt sich
Ihr Herz, das ungefüge,
Und dann — sühnen sie ihre Schuld.
Dann denke ich meinen Bund: Jaakob,
Und auch meinen Bund: Jizchak,
Und auch meinen Bund: Abraham denke ich,
Und das Land denke ich.
Das Land —
Verlassen von ihnen —
Sühnend seine Sabbathe,
Da es öde ist von ihnen —
Und sie —
Sühnend ihre Sühne:
Vergeltung und Gutmachung:
Meine Rechtssätze hatten sie verachtet,
Meine Gesetze hatten ihre Seele verworfen!
Und dennoch gilt auch dies:
Wie sie da weilen im Land ihrer Feinde,
Habe ich sie nicht verachtet und habe sie nicht verworfen, sie zu vernichten
Aufzuheben meinen Bund mit ihnen, zu vernichten
Aufzuheben meinen Bund mit ihnen,
Denn
Ich, Gott,
Bleibe ihr Gott.
Ich denke ihnen den Bund der Vordern,
Ihrer, die ich aus Mizrajims Land vor der Völker Augen hinausgeführt,
Ihnen Gott zu bleiben:
Ich — Gott. – “

Als Alfred Roden diese Sätze zum ersten Male las, stockte ihm der Atem. Ihm war nicht anders, als umwehe ihn der Hauch der Ewigkeit, als schlage an sein Ohr, über die Jahrtausende hinweg, die offenbarende Stimme des Allmächtigen. Das jüdische Phänomen in all seiner unermesslichen Rätselhaftigkeit: hier war es in Worten klipp und klar geweissagt, die mit dröhnenden Hammerschlägen die Pforte seiner Seele sprengten, dass sie sich weit auftat, um ihnen Einlass zu geben. Das ungeheuerlichste Schicksal des jüdischen Volks, das jeder geschichtlichen Erfahrung Hohn sprach: es war nicht nur Ereignis geworden, sondern es war auch mit einer jeden Zufall ausschließenden Deutlichkeit und Anschaulichkeit Punkt für Punkt als Gottes Wille verkündet, der Vergeltung heischte und Gutmachung. Das sühnende Land und das sühnende Volk, vor Jahrtausenden als programmatischer Sinn des Golus seinem Volke anvertraut: aufschreien hätte er mögen unter der überwältigenden Wucht der Vision, die bei diesen Worten vor seinem Auge erstand. ״Das Land, verlassen von ihnen, sühnend seine Sabbathe — —, und sie — — sühnend ihre Sünde – “: Schuldverstrickung zwischen Land und Volk hält nach Gottes Plan zwischen Land und Volk, trotz Jahrtausende währender Trennung, den Zusammenhang offensichtlicher Schicksalsgemeinschaft aufrecht. „Jetzt feiert Sabbath das Land — — — alle Tage der Verödung hält es Sabbath, den es nicht hat halten können, während eurer Sabbathjahre, als ihr in ihm noch wohntet.“ Gott selbst hat das Land zur Öde gemacht, „und es veröden darauf eure Feinde, die darin sich niederlassen.“ Gottes Sabbathsiegel verschließt das Land. Kein Feind erbricht das Siegel. Hätte in Jahrhunderten dies furchtbare Wort nicht hundertfach Lügen gestraft werden können? Feind über Feind hat das Land überzogen, hat sich darin „niedergelassen“, und alle sind sie „verödet“. Sabbath feiert das Land, dem das Volk während seiner Sabbathjahre, Gottes Rechtssätzen zuwider, freventlich Wachstum entlockt, und das Volk — sühnt. Sühnt, wie kein Volk auf Erden je geschichtliche Schuld gesühnt hat. „Euch aber zerstreue ich unter die Völker und zücke hinter euch her —Schwert.“ Mitten in die waffenstarrenden Nationen werden seine auseinandergerissenen Glieder gesprengt, und wo immer sie sind: stets ist es das ״Land ihrer Feinde“. Metaphysisches Grundgesetz des Golus, geweissagt als Wunder ohnegleichen: kein Friede zwischen Israel und seinen erdegetragenen Wirten. Wie lächerlich auch das Missverhältnis zwischen einer Handvoll Juden und dem bergenden Millionenvolk sein mag: überall werden sie bemerkt, fallen sie auf, würdigt man sie der Feindschaft, wird man mit ihnen nicht fertig. Sabbath feiert auch Israel. Sein Volkstum ist nicht vernichtet, aber durch all die Jahrhunderte liegt sein Volkstum brach, unbestellt und ungepflegt, den wilden Tieren der Geschichte zur Beute: „Jetzt sühnt das Land seine Sabbathe alle Tage der Verödung, und auch ihr — im Land eurer Feinde.“ Doch Israels Sabbath ist schlimmer. Deutlich heben sich dem peinlich lauschenden Ohr die beiden großen Abschnitte des Golus in Gottes Offenbarung ab: die grause Angst des mordumschlichenen Ghettos und der grause Verwesungsduft der hinsterbenden, weil der Assimilation verfallenen Volksteile. „Und die übrig bleiben von euch — ich bringe Verzagtheit in ihr Herz in den Ländern ihrer Feinde, es treibt sie — Flüstern verwehten Blatts, sie fliehen Schwertes Flucht, fallen — und keiner verfolgt.“ Aber dann — aber dann — milder werden die Völker — gastlicher das Land eurer Feinde — und siehe: ״Ihr verliert euch unter den Völkern — es assimiliert sich euch das Land eurer Feinde — und die übrig bleiben von euch, sie verwesen durch eigene Sünde in den Ländern eurer Feinde, und auch durch die Sünde ihrer Eltern, die sie teilen, verwesen sie.“ – – – ״Verwesen“: da stand es, das Entsetzliche, und kalte Schauer durchliefen Alfred Roden. Sein Geist flog über die Erde, und allenthalben sah er jüdische Menschen, verloren unter den Völkern, in Denken, Fühlen, Wollen angefressen vom Land ihrer Feinde, Amerikaner — und doch keine Amerikaner, Deutsche — und doch keine Deutsche, Juden — und doch keine Juden, wandelnde Leichen der Geschichte – -. Sein Geist flog über die Erde, und allenthalben sah er jüdische Menschen, die sich ganz als Juden gebärden, aber die alte Sünde der Ahnen ist bei ihnen, die alte Sünde, die das ganze Golus verschuldet: Auf, wir wollen sein wie die anderen Völker, wie die Familien der Länder — „und es wird doch niemals sein“ — keine Amerikaner, keine Deutsche — und dennoch — keine — Juden — betrunkene Leichen der Geschichte: „Treulos“ die einen, „treulos“ die andern, treulos aber auch die, deren Schwäche sich Gott nicht ganz hingeben, Gott sich nicht ganz anvertrauen, deren Schwäche sie sich in Lagern einnisten ließ, in denen Gott nicht weilt, in denen Gott nicht das Absolute, sondern das „Zufällige“ ist, in denen Gottes Wort nicht herrscht, sondern dem ״Zufall “ der Politik, der Diplomatie, des Kompromisses sich ausgesetzt sieht -. „Treulos“? Wie eine Geißel schwingt das Verdikt über dem Zeitalter der „Verwesung“, und Alfred Roden liest es mit Augen, starr vor Entsetzen, und mit einem Schlage weiß er über sich selbst Bescheid: dass sein ganzes bisheriges Leben nur ein Scheinleben war, nicht Jude und nicht Deutscher, und dass er aufgewacht war — in der Moderkammer der Geschichte.

Ist alles verloren? Gibt es keine Rettung mehr? „Bis sie sich gestehen eigene Sünde und die Sünde ihrer Eltern, in ihrer Untreue, die sie treulos waren wider mich, und auch, dass sie gewandelt mit mir in Zufall.“ Die Sünde individueller und die Sünde nationaler Assimilation, die Sünde der Liberalen und die Sünde der Zionisten, und auch — die Sünde des Misrachi[2]. Dem „Zufall“ bleibt das Schicksal des jüdischen Volks überlassen, solange ihm nicht Gott das — Absolute ist, und nur der ganze Jammer des gottfernen „Zufalls“, jeder vernünftigen Fernsicht bar, kann es als dann noch „heimbringen im Lande ihrer Feinde.“

„Oder aber — es beugt sich ihr Herz, das ungefüge, und dann sühnen sie ihre Schuld.“

Verloren? Niemals verloren! Der Bund der Erzväter, der Bund des Landes, der Bund der Stämme bleibt ewig. Mögen Großteile des jüdischen Volks individuell und national „verwesen“: das jüdische Volk schwindet nicht aus der Geschichte der Menschen. Es reift der Erlösung entgegen: entweder im Jammer des gottfernen ,,Zufalls“, der die „Verwesenden“ immer wieder hält und schließlich, in all ihrer Unwürdigkeit, dennoch „heimbringt im Lande ihrer Feinde“: oder im Wunder freier Erhebung, freier Sühne individueller und nationaler Schuld, im Wunder neu verdienter Gottesnähe.

„Das Land — verlassen von ihnen — sühnend seine Sabbathe— öde von ihnen — und sie — sühnend ihre Sünde“: —nochmals malt das offenbarende Wort für Jahrtausende im Voraus das Bild des in Öde sühnenden und sich sehnenden Landes und das Bild des in Öde sühnenden und sich sehnen- den Volkes, diese beiden Bilder, bestimmt, für Jahrtausende die einzigen sichtbaren Zeichen, Wahrzeichen Gottes auf Erden zu sein, und mit furchtbarer Eindringlichkeit, um auch das geringste Missverstehen auszuschalten, deutet es zugleich den Sinn beider Bilder: um sühnende Vergeltung handelt es sich und um sühnende Gutmachung: „meine Staatsgesetze hatten sie verachtet, meine Individualgesetze hatte ihre Seele verworfen.“

Sie haben verachtet — sie haben verworfen —: sind sie nun selber verachtet? selber verworfen?

Sie haben verachtet — sie haben verworfen —: die Vergeltung kam, und ihr Staat zerbrach, dass Land und Volk schutzlos herausfielen, der Öde preisgegeben —: doch selber sind sie nicht verachtet, selber nicht verworfen: der Sinn des Golus ist nicht nur Vergeltung, ist auch — Gutmachung!

Und haben auch sie verachtet, und haben auch sie verworfen und weilen nun im Lande ihrer Feinde: „ich habe sie nicht verachtet, ich habe sie nicht vernichtend verworfen, meinen Bund mit ihnen aufzuheben, denn ich, Gott, bleibe ihr Gott!“ – – – –


[1] dem Roman geht hier eine fast endlose Aufstellung jüdischer Organisationen und Verbände, unterschiedlichster religiöser und politischer Ausrichtung voraus

[2] Abkürzung für Merkas Ruchani (geistiges Zentrum); Orthodoxe Organisation innerhalb der Zionistischen Organisation die von den Augudisten (Agudath Jisroel) wegen der Zusammenarbeit mit den Zionisten stark angegriffen wurde (Anmerkung M.B.)

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