Im Jahr 1854 erschien eine Broschüre mit dem Titel „Die religiösen Wirren in der israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main“. Es war zu der damaligen Zeit,— es gab noch keine Radios, kein Fernsehen, kein Telefon,— üblich, seine politischen, religiösen und sonstigen Ansichten in Form von Aufsätzen in Schriftform der Öffentlichkeit mitzuteilen. Meist waren diese Broschüren anonym gehalten, doch jeder wusste, wer der jeweilige Verfasser war. Diese hier vorgenannte Broschüre erregte in den orthodox-jüdischen Kreisen große Aufregung, sodass sich Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l genötigt sah, dieser Broschüre eine Entgegnung zu verfassen. Diese sehr umfangreiche Entgegnung werde ich in mehreren Teilen in dieser und den nächsten Ausgaben des „Jeschurun.online“ wiedergeben.

Wer sie gleich komplett lesen möchte, findet sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/67777

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.

Inhalt:

Einleitung

  1. „Glaubensartikel?“
  2. Ihr „Prinzip“
  3. Unser Prinzip 
  4. Maimonides‘ und Mendelssohns Prinzip
  5. Vorstandssünden.
  6. Die Religionsgesellschaft

Diesem tiefsinnigsten Gedanken des Jahrhunderts, weist eine jüngst erschienene Broschüre über „die religiösen Wirren in der israelitischen Gemeinde zu Frankfurt a. M.“, hier seine Geburtsstätte an.

„Religion im Bunde mit dem Fortschritte.“

Das wäre die neue Heilsoffenbarung, die wetterleuchtend, welterlösend, von diesem neuen Tabor-Sinai am Mainstrande, Wolken und Nebel der Nacht zerteilend, siegreich über die Welten aufgegangen!

Heil! und unsterblichen Ruhm jubelt die Broschüre dem Manne zu, der zuerst diesen kühnen Gedanken hier in Frankfurt erdacht, der hier in Frankfurt a. M. zuerst mit kühnem Mut diesen Gedanken auf das Feldpanier der religiösen Kämpfe in modernem Kreuzstich, wie von kunstgeübter Damenhand farbenschillernd, weithin leuchtend sticken ließ, auf dass sich die gebildeten „fortschreitenden“ Söhne und Töchter des Jahrhunderts um diese neue Fahne des Propheten sammeln und mit ihr „unbehindert“ fortschreiten können.

Wie verlassen war diese neue Prophetengemeinde, ehe dieser neue Bote mit dieser neuen Heilsbotschaft unter ihnen erschienen! Seit dem Anfang des Jahrhunderts war ihnen die altväterliche Religion — altväterisch geworden, sie passte nicht mehr in den Kreis der frackbekleideten, shawlumhüllten[1] Söhne und Töchter des Jahrhunderts, in „Harmonien und Kollegien,“ auf Bällen und Soireen, in „Konzerten und Boudoirs[2]“, überall stand das Altjüdische im Weg, stach das Altjüdische so sonderbar absondernd ab, und nun gar in Comptoirs[3] und Bureaux, vor der Barre[4] und Staffelei, auf Dampfschiffen und Eisenbahnen, in diesem ganzen dampfgetriebenen blitzdurchzuckten neuen Weltgetriebe, wie hing da das alte Judentum, wie ein Hemmschuh an dem fortstrebenden, forteilenden, „fortschreitenden“ Fuß! Wie vor allem schien es das einzige Hindernis in der Rennbahn zur Emanzipation! Was Wunder, dass man sich nicht lange besann! Man schüttelte die alte, hemmende Religion ab, eilte dem „Fortschritt“ zu — und auf dem politischen Markt des Emanzipationkaufes sah man an allen Ecken die modernen Söhne Judas das alte Judentum als Tauschmittel feil bieten das schon ohnehin für den eigenen Gebrauch allen Wert verloren hatte.

Manches Jahrzehnt schwebte so das moderne Juda als farbiger Staub auf den Flügeln des Zeitfalters und fühlte sich frei in den ungewohnten luftigen Höhen — und dennoch trugen sie eine Leere im Herzen und dennoch fühlten sie ein Weh in der religionsberaubten Brust und schämten sich am Ende dennoch mitten in den glänzenden Regionen des modernen Lebens so ohne Religion zu wandern auf Erden, und fühlten sich unruhig und elend.

Siehe! Da trat der Prophet der neuen Botschaft in ihre Mitte: „Religion im Bunde mit dem Fortschritt!“ und füllte die Leere, und beruhigte die Brust und beschwichtigte die Gewissen und tilgte die Scham und verwandelte mit diesem einzigen Zauberspruch Irreligiosität in Gottseligkeit, Abfall in Priestertum, Sünde in Verdienst, Leichtsinn in Tugend, Schwäche in Kraft, Flachheit in Tiefsinn — verflüchtigte mit diesem einen Zauberspruch den alten weltengestaltenden Thorageist zu einem so flüchtigen aromatischen Essenztropfen, dass man im schönsten Ballanzug sich nicht zu schämen brauchte, den Geist dieser Religion als niedlichen Flaconsextrakt in der Westentasche mit herum zu tragen; schnitzte aus den schweren, alten felsgehauenen Gesetzestafeln so bescheidene Zwergpuppen, dass die elegantesten Toilettentische, Empfangszimmer und Gesellschaftssäle auch diesen verjüngten Zwerggestalten willig und gern ein Nippesplätzchen[5] einräumten — löste mit diesem einzigen Zauberspruch so geschickt das alte starre Band der 613 Riegel und Schlösser und Fesseln des alten Gesetzes, dass nunmehr das alte, starre, bis dahin so unbeugsame, so manchen Wunsch versagende, so manches Opfer gebietende Gotteswort, himmlisches Mannabrot wurde, das vielmehr jedem nur die eigenen Wünsche wiederspiegelte, die eigenen Gedanken wiedergab, die eigenen Bestrebungen weihte und heiligte, und zu jedem sprach: sei nur was du eben bist, genieße nur was dich eben gelüstet, wolle nur was du eben willst, was du auch seiest, du bist immer religiös, was du auch tust, es ist alles Religion, schreite nur immer fort, je weiter du fort schreitest, je mehr du dich von der altväterischen Sitte entfernst, je mehr du des Altjüdischen abstreifst, um so religiöser, um so gottgefälliger bist du, je mehr du das alte Horebfeuer mit deiner lichtigen Aufklärung überflügelst, je mehr du das alte Gesetz mit deiner Kritik kreuzigst, umso mehr freut es sich dein; denn zur Selbstkreuzigung, sich von seinen eigenen Kindern kreuzigen zu lassen, ist es vom Himmel niedergestiegen, und je mehr einer der alten Mutter ins Angesicht schlägt, umso mehr freut sie sich, Söhne so kräftiger Faust erzeugt zu haben — — Und dabei ist dieses alte Judentum ein so geduldig dehnbarer Begriff, dass es gar nicht verscherzt werden kann; wie weit auch einer fortzuschreiten für gut befinden möge, die Religion bleibt immer mit seinem Fortschritt im Bunde, ob einer jeden Tag, jede Woche, an hohen Festen, einmal im Jahr, alle Jubeljahre, auf seinem Sterbebette sich seines Judentums erinnere — so lange einer im Taufwasser den Namen Jude nicht abwäscht — so lange bleibt er eben Jude, so lange hat sich seine Religion nicht über ihn zu beklagen, so lange braucht ihn sein Gewissen nicht zu drücken, so lange ist alles gut und schön und gottselig und himmlisch. — Da sollten ihn nicht anjubeln, nicht Huldigungskränze winden alle, alle, die bis dahin in dem Wahn irreligiös zu sein gewandelt, und in diesem Wahn sich geängstigt und gequält, und sehnsüchtig nach einem Erlöser geschmachtet — und wer weiß, am Ende durch die innewohnende altjüdische Sehnsucht zuletzt noch gar wieder sich zurückgefunden hätten zum alten Heilsborn der Väter — sie sollten ihm nicht zujubeln und huldigen und mit dankbarem Herzen solche treffliche Panegyrika[6], wie die eingangs zitierte Broschüre auf den Altar seines Ruhmes spenden?

Uns andere würde dieses alles sehr wenig kümmern. Wir gönnen jedem seine Ruhe und seine Seligkeit, seinen Ruhm und seinen Frieden, wenn man wenigstens auch uns, unseren „Ruhm“ — worauf wir keinen Anspruch erheben; und unsere „Seligkeit“— die durch Menschenurteil nicht getrübt werden kann; uns doch wenigstens unsere Ruhe und unseren Frieden lassen würde.

Allein der Panegyrist der „Religion im Bunde mit dem Fortschritt“ und ihres Verkünders hat geglaubt, den Glanz des von ihm zu Verherrlichenden, durch eine recht schwarze Folie des Gegensatzes erhöhen zu müssen. Er schildert daher uns, die an die Sendung des neuen Propheten nicht glaubenden, als die finstern „Gegner des Fortschrittes und der Zivilisation,“ welche unter dem erheuchelten Schein im Namen Gottes zu handeln, „die Drachensaat des Hasses und der Zwietracht in ein friedliches Gemeindewesen streuen,“ welche der Zeit in die Speichen fallen und das 19. Jahrhundert zur Bildungsstufe des 15. zurückführen wollen, die über Druck und Verfolgung klagen, und doch selbst die „verfolgungssüchtige Partei“ wären, die „pflichtschuldigst“ dafür sorgen, dass ihre „Synagoge und Schule im Bunde mit dem Rückschritt bleiben und die Israeliten sich in künftigen Zeiten wieder derselben Bildung und Gesittung, wie derselben Achtung erfreuen werden, die ihnen in früheren Jahrhunderten zuteil ward“, die, während die Bekenner der mit dem Fortschritt verbündeten Religion und deren Vorstand sich die Lehre der Menschenliebe des sanften milden Hillels zum Vorbild und zur Maxime auch in ihrem Verhalten gegen sie, die andersglaubenden Brüder jederzeit genommen, selbst „rachsüchtig wie die Schlangen,“ selbst nur ein „verzerrtes Abbild“ jener „fanatischen Korporationen[7]“ wären, jener religiösen Parteiung, die eben jetzt in größeren und kleineren Staaten auf eine Weise ihr Haupt erhebt, welche an traurige Zeiten erinnert, die weit hinter uns zu liegen scheinen, und gegen welche „Mittel zu ergreifen“ wären, deren Erörterung „der ernsten Erwägung erleuchteter Staatsregierungen und Staatsmänner zu überlassen sei!“

So schildert uns der Panegyrist, so ruft er in seiner Lammesgeduld hillelischer Sanftmut den Arm der Staatsregierung gegen uns wach, so sucht er uns mit allem zu identifizieren, was die Zeit als schwarz und finster kennt, und als schleichende Selbstsucht fürchtet, vindiziert[8] seinem Prinzip die Vernunft, den reinen Gottesglauben, die Gottesverehrung im Geiste und in der Wahrheit, den Fortschritt, die Zivilisation und die duldende Liebe und Versöhnlichkeit, taucht unser Prinzip in die schwarze Farbe des Fanatismus, der starren Anhänglichkeit an wesenlose Formen, der Feindschaft gegen allen Fortschritt, alle Bildung, Gesittung, Zivilisation, nennt uns Toren und Finsterlinge und was sonst an Liebesnamen das Hillellexikon seiner Milde ihm an Händen gab — und erwartet nun ruhig, für welche Seite das richtende Publikum sich entscheiden werde.

Man sollte jenen „Toren und Finsterlingen“ solchen Provokationen gegenüber ein paar Worte ruhiger Erwägung und tatsächlicher Darlegung gewähren, damit die Zustände, die man so gern: „religiöse Wirren“ nennt, — weil man deren Aufklärung fürchtet —, einmal in ihrer unverhüllten Nacktheit klar beleuchtet würden, und der ordnenden Entwirrung die dazu notwendige aufklärende Erkenntnis gebührend vorangehe.

  1. „Glaubensartikel?“

Um einer jeden Entgegnung im Prinzip von vornherein die Spitze abzubrechen, stellt der Verfasser „der religiösen Wirren“ an den Eingang seiner Darstellung den Satz:

„Das Judentum habe von seinen Anhängern nie ein bestimmtes Glaubensbekenntnis verlangt, noch weniger sie auf ein solches verpflichtet. Bedeutende rabbinische Autoritäten hätten die Aufstellung von Grundlehren lebhaft bekämpft und darum sei, wie schon Mendelssohn dargetan, der Begriff der Orthodoxie, d. h. der Rechtgläubigkeit im kirchlichen Sinn, auf den israelitischen Lehrbegriff nicht anwendbar.“

Ob der Verfasser „der religiösen Wirren,“ wohl ahnte was er dahingeschrieben, und wenn er es ahnte, ob sich sein Schreibefinger nicht gesträubt, mit diesem einzigen Satz das Nichtigkeitsurteil seines eigenen Prinzipes zu unterschreiben?

Offenbar wollte der Verfasser nämlich mit diesem Satz die breiteste Basis für sein Prinzip der „Religion im Bunde mit dem Fortschritt“ gewinnen, wollte das Judentum als das wesenloseste, ungreifbarste Ding darstellen, von dem kein Mensch sagen könne was es sei, und von dem daher auch kein Mensch sagen kann, dass es etwas nicht sei, das so wenig Prinzip und selbstständige Bedingung in sich trage, dass man von keinem sagen könne, der sei ein Jude und der nicht — somit auch ihm nicht entgegnen könne, die Religion, die er im Bunde mit dem Fortschritt lehre, habe eben aufgehört Judentum zu sein, — und doch kann nur die krasseste Unwissenheit, oder pfiffigste Verschlagenheit, den bedeutenden rabbinischen Autoritäten, die die Aufstellung von jüdischen Glaubensartikeln bekämpften, eine solche Ansicht und Absicht unterschieben.

Die rabbinischen Autoritäten bekämpften das Aufstellen von jüdischen Glaubensartikeln, nicht weil es im Judentum überhaupt keine Grundsätze gäbe, sondern, weil im Judentum alles grundsätzlich sei, weil das Judentum nicht 13 und nicht drei Religionsgrundsätze kenne, sondern jedes Gebot und jedes Verbot ein Religionsgrundsatz sei und die Leugnung auch nur eines der 613 Gebote und Verbote den Juden aus dem Judentum setze. „Wer“, sagt Albo[9], der ja eben die drei Grundwahrheiten der mosaischen Lehre aufstellte und die dreizehn Grundlehren des Maimonides lebhaft bekämpfte, und auf den sich der Verfasser bezieht, „wer“, sagt Albo im 14. Kap. des 1. B. „wer ein Gebot der Thora übertritt, gehört zu den Poschea[10] Israels, gehört zu den jüdischen Verbrechern und verdient die in der Thora bestimmte Strafe; aber er ist damit noch nicht aus der Bekennerzahl der jüdischen Gotteslehre ausgeschlossen. Dann aber ist er es, wenn er ein Gebot übertritt, weil er es in Zweifel zieht, dass es ein von Gott gebotenes oder ein von Gott dem Mosche am Sinai mündlich überliefertes sei. Er gehört dann zu denen, die die Offenbarung überhaupt leugnen. Alle Gebote sind in dieser Beziehung gleich, und von dieser Seite gefasst, gibt es so viele Glaubensartikel, als es Gebote in der Thora gibt“.

War ja auch keiner weiter, als Maimonides selbst davon entfernt, seine 13 sogenannten Glaubensartikel als etwa solche hinzustellen, dass sie allein den Juden machten, oder auch nur, dass diese Sätze das Wesentlichste des Judentums enthielten! Scharf und schneidend spricht er sich ja im achten und neunten seiner Sätze, selbst gegen jede solche Scheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem in der Thora aus:

„Es ist kein Unterschied“, heißt es dort, zwischen: „und die Söhne Hams waren Kusch und Mizrajim“, der Name seiner Frau „Mehatawel,“ „Thimna war ein Kebsweib“ — „und Ich der Ewige bin dein Gott“ und „höre Israel“; denn alles ist aus Gottes Mund, alles ist die vollkommene reine, heilige, wahrhaftige Gotteslehre, und wer da auch nur von solchen Versen und Erzählungen sagt, Mosche habe sie aus seinem Sinn erzählt, der ist nach unserer Weisen- und Propheten-Grundsätzen ein Gottesleugner und Lehrverächter mehr als alle anderen Leugner, weil er die Ansicht hegt, es sei in der Thora Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden u. s. w.“

In dieser Beziehung ist voller Einklang unter allen „rabbinischen Autoritäten und war daher die Aufstellung von Lehrgrundsätzen im Sinne des Maimonides ganz unverfänglich. Aber allerdings Missbrauch war zu befürchten, Missbrauch von Unwissenden, Missbrauch von Böswilligen, Missbrauch von unkundigen Broschürenschreibern, und daher waren mit Recht rabbinische Autoritäten gegen jede Schematisierung des Judentums.

Völlig unbegreiflich endlich aber ist es und zeugt von gedankenlosester Unkunde, wenn jemand, wie dieser Pamphletist, dem sogenannten orthodoxen Judentum das Aufstellen von Glaubensgrundsätzen vorrücken will! Wer war’s, der in neuester Zeit diesen ganzen Vorrat an Glaubensartikeln wieder hervorgesucht, wer hat darüber das Frage- und Antwortspiel der Katechismen[11] geschrieben, und darauf die Konfirmation der Katechumenen[12] gegründet, und wer hingegen hat dieses ganze Unwesen von schematisiertem Judentumsextrakt im tiefsten Bewusstsein der Ungehörigkeit perhorresziert[13]?

Überhaupt waren es nicht „orthodoxe“ Juden, die den Namen der Orthodoxie in den jüdischen Kreis gebracht. Die modernen „fortgeschrittenen“ Juden nannten zuerst, die „alten“ zurückgebliebenen Brüder, zur Unterscheidung, in deprimierendem Sinne „die Orthodoxen!“ Als ein kränkender Name ward die Bezeichnung von den alten Juden zuerst aufgefasst. Und in der Tat. Das „orthodoxe“ Judentum kennt keine Abarten des Judentums. Ihm ist das Judentum ein einiges, unteilbares. Es kennt kein mosaisches, prophetisches, rabbinisches Judentum, und kennt kein orthodoxes und neologisches[14]. Es kennt nur Judentum und Nichtjudentum. Es kennt keine Orthodoxen und Neologen im Judentum. Es kennt wohl gewissenhafte und leichtsinnige Juden, brave Juden, schlechte Juden, getaufte Juden. Immerhin Juden, ihrer nie zu abrogierenden[15] Bestimmung nach. Nur in der Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Bestimmung unterscheiden sie sich.

Und Mendelssohn? Keinen schlimmeren Gewährsmann als den, hätte der Verfasser der religiösen Wirren an die Spitze seines Pamphlets stellen können. Freilich hat auch Mendelssohn in seinem „Jerusalem“[16] dargetan, dass das alte Judentum keine symbolischen Bücher, keine Glaubensartikel habe. Aber warum? Weil nach ihm das spezifisch Unterscheidende des Judentums gar nicht in den sogenannten Glaubenswahrheiten liegt, seine ganze Schrift vielmehr darauf hinausgeht darzutun, dass das Judentum wesentlich „Gesetz“ sei, Gesetze aber keine Abkürzung leiden, in ihnen alles fundamental sei, und wir somit mit Grunde sagen können: uns sind alle Worte der Schrift, alle Gebote und Verbote Gottes fundamental. Die Glaubenswahrheit, „der der mosaischen Religion zu Grunde liegende reine Gottesglaube,“ mit dem der Verfasser der Broschüre sich brüstet, geht nach Mendelssohn dem Judentum als das Reinmenschliche voran, ist im Judentum vorausgesetzt, macht den Menschen erst zum Menschen; Jude aber bist du erst dann, wenn du die Gebote und Verbote deines Gottes erfüllst. Der Glaube macht dich zum Menschen, das Gesetz erst macht dich zum Juden (Jerusalem S.256,261,264 D. Ausg. In E.B.). Und in der Tat, der hat niemals mit Ernst in die Bibel geschaut, der da meint, es sei dem Judentum mit einem paar abgezogenen „Glaubenswahrheiten“ zu genügen. Und wenn du auch nicht nur am Versöhnungstage das „Höre Israel“, wenn du zweimal täglich es betest: du bist damit noch kein Jude. Und wenn du es auch nicht nur betest, wenn du tief im Innern es glaubst und beherzigst, dass der Herr dein Gott, der Herr nur Einer sei: auch dieser Glaube macht dich noch nicht zum Juden. Erst wenn du diesen Glauben, wie er sich selber weiter kommentiert, wenn du diesen Glauben durch die Tat, durch die Hingebung deines ganzen Lebens in Erfüllung seiner Gebote besiegelst, erst wenn du den Herrn deinen Gott mit allen deinen Lebens- und Vermögenskräften liebst, die Gebote deines Gottes auf dem Herzen trägst, zu Hause und auf der Reise, wenn du aufstehst und dich niederlegt, zu ihnen deine Kinder erziehst, ihnen deine Hand und deinen Kopf und dein Herz, dein häusliches und dein öffentliches Leben, deine Häuser und deine Thore weihst — du den Herrn deinen Gott nicht nur also nennst, sondern du ihm als deinem Gott und Herrn auch durch Erfüllung seiner Gebote dienst, erst dann, erst dann, magst du dich einen Juden nennen.

Fortsetzung folgt


[1] shawl engl. Schal

[2] Ein Boudoir [bu’dwa:R] (frz. boudoir, von bouder „schmollen, schlecht gelaunt sein“) bezeichnete ursprünglich einen kleinen, elegant eingerichteten Raum, in den sich die „Dame des Hauses“ zurückziehen konnte.

[3] Kontor

[4] Haltestange beim Ballett

[5] Nippes: kleine Figuren, häufig aus Porzellan oder Glas; Ziergegenstände.

[6] Lobrede

[7] Gesellschaften

[8] als Eigentümer einer Sache ihre Herausgabe vom Besitzer verlangen, Anspruch erheben

[9] Wikipedia: Josef Albo (* um 1380; † um 1444) war ein jüdischer Religionsphilosoph in Spanien.

Sein Hauptwerk, sefer ha-iqqarim („Grundsätze“), bildete den Versuch einer philosophischen Systematik der jüdischen Religion durch Zurückführung der 13 Glaubensartikel des Mose ben Maimon auf drei Prinzipien: Gott, Offenbarung, Vergeltung (Lohn und Strafe). Die Tora wird dabei als einziges göttliches Gesetz und das Judentum als die mit der Philosophie am besten harmonisierende Offenbarungsreligion beschrieben. Jede dogmatische Gebundenheit des Judentums wird abgelehnt. Das Werk wurde später von Moses Mendelssohn stark rezipiert.

[10] Kriminellen, Verbrechern

[11] Handbuch der Unterweisung in den Grundfragen des christlichen Glaubens

[12] Taufbewerber im Vorbereitungsunterricht

[13] mit Abscheu zurückweisen, ablehnen

[14] Neuerung

[15] ablehnend

[16] Wikipedia: „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“  ist ein Buch von Moses Mendelssohn , das erstmals 1783 veröffentlicht wurde.

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