Die Herausgeber der Zeitschrift „Nachalat Zwi“ haben in ihrer Ausgabe, 1. Jahrgang, Heft 3, Januar 1931, anlässlich der Jahrzeit von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l den nachfolgend hier abgedruckten Artikel veröffentlicht. Vom 12. bis 19. Juni 1844 trafen sich in Braunschweig die in Deutschland amtierenden Reformrabbiner unter der Federführung von Rabbiner Dr. Philippson um sich über die von ihnen angestrebten Reformen auszutauschen[1]. Obwohl Rabbiner Hirsch, damals noch Landesrabbiner von Emden, meinte „es verlohnte sich nicht, ihretwegen die Feder in die Hand zu nehmen“ sah er sich gezwungen, doch den Auswüchsen des Reformjudentums mit dem nachfolgenden Artikel die Stirn zu bieten. Schon damals erkannte er, dass der einzige Weg das Judentum in Deutschland zu erhalten eine Trennung von den reformistischen Teilen des Judentums ist.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2551578.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Diese Nummer ist ganz dem Gedächtnis Rabbiner Hirschs זצ״ל geweiht, dessen Heimgang sich am 27. Tebeth zum 42. Male jährte. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass ein hebräisches Gutachten, das im Jahre 1844, als Rabbiner Hirsch noch als Landrabbiner in Emden wirkte, in der Gutachtensammlung תורת הקנאות (herausgegeben von den Herren Hirsch Lehren und Abraham Prins in Amsterdam[2]) erschien. Der Anlass zu dieser Gutachtensammlung war die Rabbinerversammlung zu Braunschweig, in welcher die Wortführer der Reform versuchten, ihre das positive Judentum negierenden Anschauungen mit dem Nimbus rabbinischer Autorität zu umkleiden. Die rabbinischen Führer Deutschlands, Hollands und Ungarns vereinigen sich in dem obengenannten Werke zu dem Nachweis des Haltlosen, Wahrheitswidrigen und Illegalen der Braunschweiger Rabbinerversammlung und ihrer Beschlüsse. Das Gutachten von Rabbiner Hirsch behandelt zwar auch in seinem ersten Teile die Braunschweiger Rabbinerversammlung, betont dann aber ausdrücklich, dass es sich an und für sich nicht verlohnte, ein Wort über sie zu verlieren, wenn es nicht die Gebrechen der ganzen Zeitrichtung wären, die hier symptomatisch zum Ausdruck kommen. Im zweiten Teil seines Gutachtens weist er die Mittel und Wege, um der ganzen Verirrung der Zeit mit Erfolg entgegenzutreten. Diese Ausführungen, welche Grundaufgaben jüdischer Gemeinden und jüdischen Erziehungswesens zum Gegenstand haben und schon — im Jahre 1844 — in ergreifenden Worten die Notwendigkeit dartun, bei fortschreitendem Abfall die Bekenner des historischen Judentums selbständig zu organisieren, sind auch in der Gegenwart so aktuell wie vor acht Dezennien. Wir haben daher von diesem Teile des hebr. Gutachtens eine freie Übertragung ins Deutsche im Folgenden angefügt, während der hebräische Originaltext vollständig wiedergegeben ist. [3]

Die Schriftleitung.

Deshalb kann ich es nur wiederholen, läge unsere ganze Zeit nicht so schwer krank danieder, diese Versammlung allein wäre kein Grund, das Schweigen zu brechen, es verlohnte sich nicht, ihretwegen die Feder in die Hand zu nehmen. Alle ihre Äußerungen tragen den Charakter der unlauteren Quelle, der sie entströmen, an der Stirne. Jeder, der den Namen Israel trägt, wird sie als zugemutete Unreinheit weit von sich abweisen. Ihre Worte werden wie alles, was keine Wurzel hat, auch keine Früchte tragen. Die Aussprüche der Ignoranz leichtsinniger, oberflächlicher Leugner der mündlichen Thora, denen der Glaube an die geschriebene Thora und die Worte der Gottespropheten abgeht, die kommen nicht in Betracht, zählen nicht mit und haben keinen Platz im Herzen des Gottesvolkes, das seine Thora kennt und anerkennt.

Jedoch diese Versammlung ist kein vereinzeltes Geschehnis. Sie ist selber ein Symptom dafür, wie weit das Weh der Zeit fortgeschritten und dass unser Bruch groß wie das Meer ist. Wenn die Lehrer unseres Gesetzes, wenn die von den Gemeinden berufenen Sachwalter der Thora sich den Zerstörern zugesellen und zu den Abtrünnigen zählen, dann dürfen wir um Zions willen nicht schweigen, müssen vielmehr offen aussprechen:

Diese Versammlung und jede andere dieser Art hat keine Kraft und keine Befugnis, auch nur einen Brauch von den heiligen Bräuchen Israels aufzuheben, ohne das Gesetz der Gemoro[4] und der Poskim[5], und gar etwas zu erlauben, was nach Ausspruch der Gemoro und der Poskim verboten ist. Was die Mitglieder dieser oder einer ähnlichen Versammlung getan haben oder tun werden, ist völlig bedeutungslos. Damit ist von selbst gesagt, dass jede Entscheidung, die in Israel im Gegensatz zur Gemoro und den Poskim getroffen wird, hinfällig ist. Jeder, der in Israel nicht an die Worte der Gemoro glaubt, und wer sich gar anmaßt, etwas, das die Gemoro verbietet, zu erlauben, gehört zu denen, welche unsere Weisen s. A. Apikorsim[6] nennen. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass man von einem solchen kein Wort der Thora lernen oder gar eine Entscheidung nach dem Gesetze unserer heiligen Thora hinnehmen darf. Ein solcher hat keinerlei religiöse Glaubwürdigkeit in irgendeiner Beziehung, sobald es sich um Erlaubtes und Verbotenes handelt. Der Wahrheit gemäß muss übrigens gesagt werden, dass etwa ein Zehntel der Versammlung noch auf dem Boden des jüdischen Heiligtums stand und sie der Makel der hier erhobenen Vorwürfe nicht trifft. Aber auch ihnen verübelte die jüdische Gesamtheit mit Recht, dass sie nicht mit dem Aufgebot aller Kraft der Versammlung offen entgegengetreten sind und dass sie die Versammlung nicht verließen, als sie deren Tendenz erkannten.

Jedoch nicht uns, nicht den Rabbinern, die zur Hilfe gerufen, nicht ihnen allein liegt es ob, das Werk zu vollenden. Kein jüdischer Mann ist von der Pflicht frei, zum Kampf für Gott zu rufen und sich mit Aufgebot aller Kraft in den Dienst des Gottesheiligtums und seiner Thora zu stellen. Das Weh über den Niedergang unserer Thora und den Jammer unserer Zeit ist das Band, das alle verbindet, die den gleichen Schmerz, im Herzen tragen, und die Träne, die unser Auge um die Vergewaltigung der Thora weint, sie besiegelt unseren Bund. Wenn früher, in Israel eine Schandtat verübt wurde, wenn eine Hand sich gegen seine Heiligtümer erhob und man den Namen Gottes in unserer Mitte entweihte, da stand das ganze Volk auf, nieder und hoch, um für das Bündnis einzutreten und alle Macht für die erschütterten Heiligtümer Gottes und seine Thora einzusetzen. Je größer die Not war, umso größer war das Vertrauen und die Zuversicht auf Gott. Mit der Zahl der Zerstörer und der Breschen, die sie rissen, wuchs die Zahl und das felsenfeste Gottvertrauen derer, die ihre Kraft der Erhaltung der Thora und Mizwos geweiht hatten. Verführern und Verleitern gegenüber gingen sie lieber in den Tod, als dass sie auch nur eine einen Schuhriemen betreffende Observanz[7] preisgegeben hätten. Deshalb ging unsere Thora, groß und machtherrlich, das Haupt von dem Beistand Gottes verklärt, siegreich aus allen Bedrängnissen und Leiden hervor. Das hat der Eifer bewirkt, mit dem sich das Gottesvolk in solchen Lagen zusammengefunden hat. Hätten wir da nicht vor unseren Vätern zu erröten, müssten wir uns da nicht vor den Gräbern unserer Altvorderen schämen, wenn wir den Mut verlieren, wenn unser Herz feig und wir uns lässig erweisen sollten in dieser Not, die unsere Zeit betroffen hat?

„Was geht das uns an?“ wendet man uns ein. „Das ist Pflicht unserer Führer! Wir sind einfache Kaufleute, für die Thora können wir nichts tun, und wenn unsere Leiter und Lehrer fehlen, so tragen sie die Verantwortung der Thora gegenüber, wir aber sind schuldfrei.“ Mitnichten, meine Brüder, dem ist nicht so. Wenn sich die Häupter der Gemeinde versündigen und ihre Blicke an die Lüge hängen, so kann sich das Volk nicht freisprechen. Wenn der Fürst sündigt, trifft die Schuld das Volk. Wer hat denn der Hand des Leiters und Lehrers den Hirtenstab und die Bundestafeln anvertraut? Es sind doch die Mitglieder ihrer Gemeinde, aus deren Hand sie dies alles haben, sie sind es doch, die ihre Führer bevollmächtigt haben. Haben nun die Wähler bei ihrer Wahl keine Rücksicht auf die Thora genommen, um nur würdige Führer an die Spitze zu stellen, so tragen auch die Wähler einen großen Teil an der Schuld der Führer und Lehrer. Wer zu diesen Kränkungen der Thora schweigt und diejenigen, die sie im Munde führen, noch unterstützt, der hat diese Leugnung durch sein Schweigen anerkannt.

Aber davon abgesehen. Für das Erbe der Gemeinde Jakobs, für die Thora vom Sinai, sind wir alle geboren: ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk zu werden, das ist unser Beruf von der Stunde der Geburt an, er ist älter als der selbstgewählte Beruf als Kaufleute und Geschäftstreibende, er hat daher die Priorität. Was können wir dem gegenüber am Tage der Verantwortung zu unserer Rechtfertigung vorbringen, wenn Gott von Zion erstrahlen, vor uns hintreten und nicht länger schweigen wird, wenn er mit seinem Volk ins Gericht geht und Israel zur Rechenschaft fordert? Was können wir antworten, wenn Er uns die Frage vorlegt, was wir zur Ehre Seines Namens getan, womit wir Seiner Thora zur Hilfe geeilt sind, wodurch wir uns selber in der Stunde des Kampfes für Gott geweiht, als man den Hader in den Kreis der Thora getragen hat? Wie werden wir uns rechtfertigen, wenn Er einst Seine Treuen sammeln wird, die den Gottesbund durch ihr Opfer besiegeln und fragt, was sie denn getan haben, damit auch die Generation, die nach ihnen kommt, dass ihre Kinder, die sie geboren, zu einem gottreuen Geschlecht heranblühen, und dem Wandel mit Gott nicht einst den Rücken kehren? Müssen wir nicht sprachlos verstummen, wenn wir uns der Pflicht entziehen, den Zusammenbruch selbst unseres zeitgenössischen Geschlechts aufzuhalten, wenn wir unser Thoraerbe völlig den Händen seiner Zerstörer und den Weinberg Gottes durch Zerstörung seiner Einfriedigung der Verkümmerung und Verödung überlassen?

Fragt ihr aber: Was können wir tun? Woran haben wir es fehlen lassen, um es noch nachzuholen?

Ein Licht für jeden Einzelnen und sein Haus!“ sagen unsere Weisen s. A.

Das Gotteslicht im Bethaus genügt nicht. Wir müssen jeder mit seinem Haus und seiner eigenen Person Wall[8], Mauer und Zwinger gegen die alles mit sich fortreißende Strömung der Zeit aufführen. Wir müssen unseren eigenen Lebenswandel untersuchen und ihn der Prüfung unterziehen. Wenn der Irrwahn der Zeit uns berücken, uns von der Nachfolge Gottes und Seiner Thora abdrängen und uns bestimmen möchte, den Worten Gottes und Seiner Weisen den Rücken zu kehren, so muss in demselben Maße unsere Anhänglichkeit an Gott und Seine Thora an Umfang und Festigkeit eine Steigerung erfahren.

Wir müssen die Aussprüche unserer Väter s. A. angesichts ihrer Verächter erst recht zur Ehre bringen. Unser Reden und Handeln muss vor ihnen Zeugnis dafür ablegen, dass das, was sie verachten und verspotten, die Krone ist, mit der wir unser Haupt schmücken, und uns höher als die höchste Kostbarkeit gilt. Sollten wir es ja mit irgendeinem Ausspruch der Thora Gottes nach irgendeiner Seite hin leichter genommen haben, so wollen wir durch einen neu zu schließenden Bund allesamt uns geloben, wieder zu den Geboten Gottes in aufrichtiger Treue zurückzukehren und unsere Söhne und Töchter mit noch größerer Energie und Festigkeit als bisher auf den Wegen der Thora zu führen. Und da dürfen wir die Genossen nicht erst zählen, die mit uns in diesen Bund treten.

Was eine solche Zählung auch ergeben möge, wir sind mehr als sie. Denn auf unserer Seite stehen alle vergangenen und alle künftigen Generationen. Zu ihnen werden unsere noch ungeborenen Kinder zählen, die sich in einmütiger Hingebung zum Dienste Gottes zusammenfinden, wenn die Abtrünnigen und Leichtsinnigen längst aus unserer Mitte geschwunden sein werden. Denn der Bund derjenigen, die sich mit der Vergänglichkeit verbinden und sich bei der Lüge geborgen glauben, verfällt der Vergänglichkeit und mit ihr die zur Schau getragene Zuversichtlichkeit ihres Blendwerkes. Es braucht nur der flutende Strom der Zeit über sie hinzugehen, und sie werden die Täuschung ihrer Hoffnungen und Erwartungen zu ihrer eigenen Schande erfahren. Aber diejenigen, die sich mit Gott und seiner Thora verbinden, die sind einen Friedensbund eingegangen, der nicht wanken, den Gott selber mit frischer Lebenskraft in wenigen Jahren ausstatten wird. Denn Seine Gnade und Seine Treue ist auf ihrer Seite, sie sichert den Geringsten und Unbedeutendsten eine mächtige, tausendfältige Entwicklung, sie sind der Spross einer Gottespflanzung, eine zu herrlicher Entwicklung reifende Gottessaat.

Haben wir uns so alle, jeder mit seiner Persönlichkeit und seiner Häuslichkeit in Selbstheiligung zusammengefunden, so wollen wir unseren prüfenden Blick den Anliegen unserer Gesamtheit zuwenden, der Thora, der Aboda[9], dem Gemilus Chassodim[10], um derentwillen uns ja lediglich das Bruderband eines einheitlichen Volksbundes umschließt.

Die Thora zuerst. Wo hat sie ein Lehrhaus? Lehrgelegenheit zur Aneignung von Thora, allgemeinem Wissen und Gottesfurcht für die Kleinen, Lehrgelegenheit und Aneignung von Thora, allgemeinem Wissen und Gottesfurcht für die Erwachsenen, Lehranstalten zur Heranbildung von Thoralehrern für unsere Kleinen und Großen, wo gibt es die? Die Jeschiwoth[11] haben aufgehört, wer Thora lernen möchte, muss in dem Winkel suchen, in den man sie gewiesen. Es fehlt der Führer, der Wegweiser zu den heiligen Quellen, um durch einen Lebenstrunk den Wissensdurst zu stillen, es fehlt die Leitung zu dem Born, welcher der Seele Ruhe und Rettung vor den fremden Brunnen sichert. Der Brunnen, den die Fürsten der Thora gegraben, ist nicht mehr da, und jeder trinkt aus dem Strome von seinem Lebenswege den verderblichen Trunk, der die Trinkenden keck das Haupt erheben lässt und den Namen Gottes der Entweihung preisgibt. — Deshalb wollen wir wieder Anstalten errichten, in welchen Thora, allgemeines Wissen und Gottesfurcht ihre einheitliche Pflege finden, damit wieder eine Elite in Israel erstehe, die Thora in reiner Absicht lernt, erfüllt und durchdrungen von dem Geist der Mizwos[12] und ihrer Ausübung, mit weisem Verständnis der Zeit und dessen, was sie fordert. Wollet nichts von der Aneignung allgemeinen Wissens für den Bestand der Thora fürchten, wenn ihr Leute, die sich für Gelehrte halten, der Thora entfremdet seht! Die wahre Wissenschaft liebt die Thora und kommt ihr zur Hilfe. Die nächste Folge jeder wahren Wissenschaft ist Demut und Gottesfurcht, Gottesfurcht aber ist der Schlüssel und die Hüterin der Pforte, die zur Thora führt.

Errichten wir Anstalten zur Heranbildung von Lehrern, welche die Söhne Israels Thora und Derech Erez[13] lehren; die Vereinigung beider wird Heilung für all unser Weh bringen. Was können unsere Kinder tun, um nicht der Sünde zu verfallen, wenn wir nicht unseren Sinn darauf richten, sie in ihren Jugendjahren Lehrern zu übergeben, die selber gründliche, gottesfürchtige Kenner der Thora und wahrer Wissenschaft sind, da nur durch die Vereinigung beider die Schuld der Zeit zu beseitigen ist! Und woher sollen wir Lehrer nach unserem Sinne nehmen, wenn wir nicht Anstalten zu ihrer Erziehung und Ausbildung gründen und dieses hochwichtige Anliegen länger dem bloßen Zufall überlassen? Vor allem aber Unterrichtsanstalten zur Erziehung unserer Jugend zur Thora und für das bürgerliche Leben! Denn jede Stadt, jede Niederlassung, die keine Unterrichtsstätte besitzt, in welcher Thora und Derech Erez ihre harmonische Pflege finden, ist den Fangarmen der Zeit sicher verfallen. Lasst uns deshalb einmütig zum Bau von Stätten der Thora für Erwachsene und Kinder zusammentreten, das ist die Hoffnung unserer Zukunft und das, was den Zusammenbruch der Zeit überdauern lässt.

Aber nicht das Lernen, die Tat entscheidet. Wir müssen zu gemeinsamer Beratung zusammentreten über das, was geschehen soll, damit unsere Kinder, wenn sie die Schule verlassen haben, nicht dem Netze verfallen, welches der Wahn der Zeit auswirft. Das ist es doch, was wir blutenden Herzens erleben, wie unsere in Gottvertrauen und Heiligkeit erzogenen Kinder, sobald sie in ein Geschäft oder Profession eintreten, sich auf Schritt und Tritt von dem Einfluss der Zeit bedroht sehen, der sie vom geraden Wege abzubringen sucht, ihren priesterlichen Beruf ihnen entreißt und die Reinheit ihres Herzens durch ein unlauteres Erwerbs- und Genußstreben trübt.

Darauf lasst uns in dem zu schließenden Bund unser Auge richten, dafür einer den anderen und uns alle gegenseitig bestärken, diesen Anstoß aus dem Weg unserer Jugend zu räumen, dass sie mit Eintritt in die Arbeit, ins Geschäft und mit ihrer Aneignung von Wissenschaft und Kenntnissen nicht den Weg der Thora verlässt. Wenn wir diesem Ziele alle Seelenkräfte zuwenden, wird uns Gott zum rechten Rat verhelfen und seine Thora durch uns erhalten bleiben.

Zweitens Aboda. Obwohl das Gebet eine rabbinische Pflicht ist und unsere Weisen s. A. seine ganze Anordnung festgestellt haben, obwohl unser Gottesdienst in unserem Bethaus weder beginnt noch schließt, weil nicht es, sondern wir selber der eigentliche Tempel Gottes sind, unser Gebet daher verwerflich und die prächtige Ausstattung unseres Gottesdienstes eitel und nichtig ist, wenn nicht jeder Moment unseres Lebens Gott geheiligt wird, um die unseren Vätern gebotenen Mizwos, Chukim und Edos[14] zu erfüllen, so ist es doch die eigentliche Säule, die unseren ganzen Lebensbau trägt. Die Stätte des Gebetes folgt doch im Range dem Lehrhaus der Thora, es ist doch unser verjüngtes Heiligtum, das Mittel unserer Reinigung, der Born unserer Heilung, die Machtstätte des Lichtes, das alle Höhen überragende Banner, den Unreinen die Reinheit, den Kranken die Genesung, den Blinden das Augenlicht und den Verstoßenen ihre Wiedervereinigung zu gewähren, wenn uns die Verirrungen der Zeit von unserem Lebensbaume reißen möchten. Welcher Gottesfürchtige, der das Glück der Gottesnähe kennt und sie anstrebt, wäre daher nicht von dem Verlangen beseelt, die Stätte des Gebetes würdig auszustatten und den dafür angeordneten Dienst in möglichst vollendeter Weise zu vollziehen, um mit diesem Herzensdienst in geschmackvoller Weise vor seinen Eigner zu treten? Wer möchte nicht auf den Schwingen der Lobgesänge, mit den Ergüssen des Gebetes, der Bitte und des Dankes, durch das Vorlesen und Erfassen der Thora, mit ermahnenden, dem Herzen entströmenden und zu Herzen dringenden Worten die Gemüter wecken, die Geister erleuchten und sich in freudigem Ernst vor Gott niederwerfen, um sich in Liebe und Furcht mit energievoller Festigkeit seinem Reiche zu unterstellen? Wie muss es da das Herz betrüben und den Geist verbittern, dass wir den die Synagoge betreffenden Bestimmungen unserer Weisen s. A. nicht mit der erforderlichen festen Entschiedenheit Folge leisten, dass die Art unseres Lebens vor Gott zu wünschen übrig lässt, dass die Ehre Gottes gerade an der zu seiner Verherrlichung errichteten Stätte herabgewürdigt und unser Gebet sich nicht vollkommen fruchtbar erweist, ja Gottbehüte, Gefahr läuft, welk dahinzusiechen! Und dabei hat es vielleicht nie eine Zeit gegeben, die es so nötig hätte, sich selber zu kräftigen und zu rüsten für die Sache unseres jüdischen Gemeindewesens und dafür die Gottesheiligtümer aufzusuchen, um mit ihnen unsere Vergangenheit und Zukunft zu begreifen, als unser verwaistes Geschlecht! Der Pfeil der Verführer bedroht die Kinder unserer Zeit am hellen Tage, die Zeitkrankheit des Leichtsinns schleicht im Dunkel, um Seelen zu töten und die Seelen mit Verzagtheit zu erfüllen! Wie könnte da unser Bethaus die Zufluchtsstätte werden, in die wir uns mit dem Leid unserer Seelen flüchten und so allem unseren Weh die Heilung bringen!

 Darum lasst uns aufstehen, Brüder, und nicht länger unseren Bethäusern die Krone versagen, die ihre bewährte ursprüngliche Einrichtung bedeutet und einen Gottesdienst auf möglichst geschmackvolle Weise herstellen, wie ihn unsere Weisen s. A. uns zur Pflicht gemacht haben. In gleicher Weise lasst uns gerüstet dastehen, dass unsere Zeitgenossen uns mit ihren Nichtigkeiten nicht unsere Tefilla und unsere Awaudoh zugrunde richten und nicht das Licht der Hoffnung und des Trostes verlöschen, das unsere im Eden weilenden Väter uns aufgestellt haben, damit sie uns nicht unser Erbe unter unseren Händen hinterlistiger Weise vergewaltigen.

Dasselbe gilt von der Instandhaltung unserer Gemeindeeinrichtungen. Jede jüdische Gemeinde muss allzeit Auge und Herz darauf richten, jede Institution in möglichst entsprechender Weise einzurichten, dass sie dem Zweck der Gesamtheit genügt, d. h. sie darf sich nur in einer gottgefälligen Absicht damit befassen, wie es uns die Weisen s. A. gelehrt haben. Sie darf sich keinen Schlaf, nicht einmal den leisen Schlummer gestatten, bis sie die Gottesheiligtümer in ihrer Mitte sichergestellt hat. Dann werden leichtsinnige Stürmer schon von selbst fürchten, die Hand gegen sie zu erheben oder ihnen zu nahe zu treten, denn sie sehen, dass der Name Gottes auf ihnen ruht. Auch sonst wird es jemand, dem es nicht an Brot fehlt, bei dem Speise und Kleidung sowie alle Lebensbeziehungen geregelt sind, leichtfallen, sich gegen plötzlich auftretende epidemische Krankheiten zu sichern. So wird es auch uns nicht schwer werden, uns gegen die krankhaften Erscheinungen der Zeit zu behaupten, wenn unser Gemeindekörper auf weise, vernünftige, rechte und gerade Weise geregelt ist. Wenn Thora, Awaudoh und Gemilus Chassodim in unserem Kreise unter dem Sonnenstrahl der Wahrheit, des Rechtes und Friedens blühen, so ist dem Tod die Möglichkeit benommen, sich bei uns einzuschleichen, Lug und Täuschung werden keine Ritzen finden, um sich mit ihrer Brut dort einzunisten. — Aber durch Lässigkeit wird das Gewölbe morsch, der Geist bestürzter Betäubung bringt keine Hilfe, und schlaffe Hände werden in der Stunde des Kampfes keine Rettung bringen; für den Krieg bedarf es der Überlegung und der Macht. Wacht daher auf! Wie dürfen wir schlafen? Seid stark und rüstet euer Herz mit Festigkeit alle, die Ihr auf Gott harret, denn mit uns ist Gott.

Ihr aber, Söhne meines Volkes, die Ihr mit eurer Versammlung das alles veranlasst habt, möchtet ihr das zu Herzen nehmen, den Blick auf euren bisherigen Weg richten, auf das, was ihr in unseren Tagen getan habt und noch ferner tun wollt, und die Tragweite eurer Absichten und eurer Worte euch zum Bewusstsein bringen. Wenn euch das Verderben, das ihr angerichtet habt, auch gering erscheint, wenn ihr auch nicht einsehet, dass der Weg, den ihr eingeschlagen habt, sich für unsere Zukunft schlimm und bitter gestalten wird, dem aber könnt ihr euch nicht verschließen: Sollten eure Worte je Früchte tragen, so würde damit das Haus Israel in zwei Stücke gerissen, zur Schande vor unseren Feinden und zum Ruin unseres eigenen Erbes. Denn sobald diejenigen, die auf Euch hören, den Abfall vom Talmud vollziehen und gar die in der Thora verbotenen Speisen und Ehen für erlaubt erklären, so hat unser bisheriger einheitIicher Bund keinen Bestand mehr, und wir werden uns unter Tränen einer vom anderen trennen müssen.

Begreift Ihr denn nicht, dass ihr mit Untergrabung der treuen Anhänglichkeit an den Talmud und an die Überlieferung unserer Weisen s. A. das ganze Fundament untergraben habt, auf welches sich der Bau unseres Lebens stützt? Nur wenn ihr in Wahrheit und Redlichkeit dasselbe wollt, wenn ihr euch nicht mehr in den Sinn kommen lasset, dass unsere Väter Lüge geerbt und uns vererbt haben und mit diesem Wahn eure Zeitgenossen nicht ferner betören wollt, nur dann können unsere Wege in Redlichkeit und Wahrhaftigkeit in ersprießlicher Weise ferner miteinander gehen, und dann werden wir die rechte Einsicht erlangen.

Wer gäbe, dass ein Mann erstünde, größer als ich an Thora und Weisheit, größer als ich durch die Kraft des Gotteswortes, durch den der Geist Gottes spricht, mit der machtvollen Hoheit des Gotteswortes auf der Zunge, um eure Herzen der Wahrheit zurückzuführen, damit ihr durch diese Rückkehr das rechte Leben wieder gewinnt! —

Nehmt Ihr jedoch das alles nicht zu Herzen und breitet euren Abfall noch mehr aus, so wisset, dass sich eure Hoffnungen als trügerisch erweisen und euer verkehrtes Unterfangen sein rasches Ende finden wird. Was euch in den Sinn kommt, wird sich niemals verwirklichen. Wir werden nicht wie die Völker werden, die uns umgeben, wir werden keine Rotte leichtsinniger Menschen werden, die der Thora Gottes, der geschriebenen und der überlieferten, jeden Gehorsam kündigen.

In demselben Maße, in dem ihr glaubtet, dem Glanz und der Ehre unserer Weisen s. A. für alle Ewigkeit das Grab zu graben, in demselben Maße wird die Ehre unserer Weisen s. A. inmitten Israels hochgehalten und ihr Glanz bis in alle Ewigkeit immer höher in unserer Mitte steigen. Ihr aber — wenn Ihr Euch nicht zur Umkehr entschließt — werdet euren Namen zum abschreckenden Beispiel und zum Spott inmitten Israels für alle Ewigkeit machen. Nur in der einen Hinsicht werdet ihr uns schaden, dass ihr durch den treulosen, an unserem Heiligtum begangenen Verrat, mit dem ihr leichthin unseren Bruch heilen zu können vermutet, jede Heilung und jede Besserung bei den redlich ihres Weges Gehenden anrüchig gemacht habt, sodass sie jede Neuerung abweisen werden, auch wenn sie in unseren heiligen Schriften begründet ist, aus Furcht, dass sie aus der trüben Quelle fließe, der eure Pläne entstammen.

Trotzdem blicken wir hoffnungsvoll auf Gott, dass er uns nicht verlassen und aufgeben werde, dass er unserem und eurem Sinne sich zuwende, damit wir gemeinsam in den Wegen, Rechtsaussprüchen und Satzungen wandeln, zu welchen er unsere Väter verpflichtet hat. Mögen diese unsere Worte und die Worte all derer, die um Zion trauern, Gott unserem Gott nahe sein, auf dass Er das Seinem Volk und Seiner Thora Entsprechende in jeder Zeit vollziehe, damit alle Völker der Erde erkennen, dass Gott Gott ist und dass die Thora und die Mizwot, die Er unseren Vätern als Erbe übergeben, Seine Thora ist, nichts sonst. Amen; so möge sein Wille sein.

Emden, 7. Tag Chanukka 5605.


[1] Das Protokoll dieser Versammlung können Sie sich hier herunterladen: https://leopard.tu-braunschweig.de/receive/dbbs_mods_00030590

[2] Die o.g. sehr einflussreichen Herren aus Holland baten 1844 etwa 78 orthodoxe Rabbiner in Deutschland, Böhmen, Mähren und Ungarn um eine Stellungnahme bzgl. dieser Rabbinerkonferenz der Reformierten Rabbiner. Einer unter ihnen war Rabbiner Hirsch. Die Stellungnahmen wurden in dem o.g. תורת הקנאות gesammelt und veröffentlicht. Interessant ist, dass Rabbiner Hirsch sein Gutachten auf Hebräisch verfasste.

[3] Ich habe hier nur die erste Seite des auf Hebräisch verfassten Gutachtes angehängt. Den vollständigen hebräischen Text können sie über den folgenden Link https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2551617 lesen.

[4] Gemara = Talmud

[5] Poskim = Gelehrte, die den Talmud kommentieren, erklären

[6] Apikorsim = Ketzer

[7] Wikipedia: das strikte Einhalten von Regeln in (meist religiösen) Gemeinschaften

[8] Bestandteil der militärischen Befestigung einer Ortschaft

[9] Avoda = Dienst an Gott, Gottesdienst

[10] Gemilut Cassadim = Dienst am Menschen, Nächstenliebe

[11] Religiöse Lehranstallt für junge Juden

[12] Gebote

[13] Derech Erez = Allgemeinbildung, eine der Hauptforderungen Rabbiner Hirschs, Thora im Derech Erez, Thora und Allgemeinbildung gehören zusammen!

[14] Hirschs Einteilung der Ge- und Verbote siehe hierzu sein Werk „Chorew“

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