Frau Chawa Kruskal-Breuer, eine Ururenkelin von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l hat bereits vor einiger Zeit ein Buch über das Leben und Wirken ihres Ururgroßvaters herausgegeben. Es trägt den Titel מִי לַהּ‘ אֵלָי – Im Kampf für Gott. Es ist im Verlag Morascha Basel erschienen, aber leider z.Zt. vergriffen. In diesem Buch habe ich eine Korrespondenz zwischen einem Bäcker und Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l während seiner Amtszeit als Landesrabbiner von Böhmen und Mähren in Nikolsburg gefunden, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei dem Verlag Morascha für die Erlaubnis der Wiedergabe.
Folgender Brief eines Bäckers war an Rabbiner Hirsch adressiert:
Londenburg, ז‘ אדר ב‘ תר“ח (1848)
Verehrter und erhabener Landesrabbiner!
Die Gelegenheit, dem verehrten Herrn Rabbiner zu schreiben, bot sich als Antwort auf Ihren Brief, in welchem mir der Herr Rabbiner völlig grundlos vorwirft, am Schabbat meiner Arbeit nachzugehen. Tatsache ist, dass meine Bäckerei am Schabbat geöffnet ist. Doch nach bestem Wissen und Gewissen wird dabei nichts Verbotenes getan. Denn ein nichtjüdischer Bäcker ist für das Backen verantwortlich und dies ist nach verschiedenen Meinungen erlaubt.
Verehrter Herr Rabbiner, ich nehme mir die Freiheit, hierbei einige Dinge richtig zu stellen, welche auch der Jugend, jedenfalls der hiesigen, aus dem Herzen gesprochen sind.
Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung über die mich betreffenden Vorwürfe in Worte zu fassen. Ich bin erstaunt darüber, dass gerade der Landesrabbiner es ist, der mir die Entweihung des Schabbats vorwirft! Derselbe Landesrabbiner, in den unsere Jugend so viel Hoffnung gesetzt hatte.
Die Jugend war es, welche die fürstlichen Willkommens-Feierlichkeiten ausgedacht und organisiert hatte. Denn wir alle waren überzeugt, dass für uns nun eine neue Epoche angebrochen ist.
Wir meinten, dass Sie, verehrter Herr Rabbiner, als intelligenter und gebildeter Landesrabbiner sich mit der ganzen Ihnen zur Verfügung stehenden Macht dafür einsetzen werden, aus dem erniedrigten, minderwertigen und verachteten Juden, vor dem sich unsereiner und alle Christen ekeln, einen selbstbewussten Menschen zu machen.
Doch stattdessen verlangt der Herr Rabbiner, dass die Landesregierung mir das Backen am Schabbat verbieten soll?!
Hier soll ich dem nichtjüdischen Kunden, und der größte Teil meiner Kundschaft sind Nichtjuden, frank und frei sagen: „Heute gibt´s kein Brot, weil Schabbat ist“? Er wird doch das ganze jüdische Volk mitsamt seinen Gesetzen verfluchen anstatt mit Mosche Rabbenus Worten zu sagen: „Ist dies doch ein kluges und vernünftiges Volk“ — ! רַק עַם חָכָם וְנָבוֹן הוּא
Muss ich meine Arbeit niederlegen, nur um den Schabbat zu hüten? Meint der Herr Rabbiner wirklich, dass man heute den Schabbat wie vor hundert Jahren einhält?
Und wenn der Herr Rabbiner wirklich auf seine Meinung beharrt, dann sind wir alle verloren!
Ich bekunde hiermit mit allem Respekt, dass meine Worte nicht nur meine persönliche Ansicht, sondern auch die der hiesigen Jugend ausdrücken
und schließe in größter Hochachtung vor Ihren Ehren
Antwort des Herrn Rabbiner Hirsch an den Bäcker:
Sie haben in Ihrem Schreiben in wichtigen Zügen Ihren Glauben und den der Jugend Ihrer Stadt dargelegt. Mit der Erklärung Ihrer Erwartungen hofften Sie, dass ich diese in die Tat umsetzen würde.
Die Entscheidung betreffend der Schabbatgesetze muss ich Ihrem Ortsrabbiner überlassen, der für Ihre halachischen Fragen zuständig ist.
Was jedoch den grundsätzlichen Glauben betrifft, der als Maßstab für Ihr Verhalten gilt, fühle ich mich verpflichtet, in aller Freundschaft einige Worte an Sie zu richten:
Ich glaube wirklich daran, dass der Schabbat weiterhin zu den heiligsten Elementen unserer Religion gehört. Nicht nur wie vor hundert Jahren, sondern wie vor tausend Jahren. Die Mizwa, welche Schabbat heißt, ist uns heilig; nicht nur uns, sondern auch unseren Kindern und Kindeskindern bis ewig, genau so wie sie unseren Vorvätern heilig war. Nie hat es ein Mensch gewagt, diese Mizwa auch nur anzurühren. Für mich sind die Mizwot der Tora keine Wachsfiguren, die man je nach Laune und Epoche ändern kann. Für mich sind die Mizwot der Tora lebende Worte Gottes, welche uns von unserem ewigen Vater übergeben wurden, um uns zu stärken und unser Leben zu heiligen. Er hat uns befohlen, Schabbat zu halten. Diese Mitza — sowie auch alle anderen Mizwot — ist heilig und hat ihren Ursprung in Gott.
Diese Gewissheit lehrte ich schriftlich und mündlich. Um diese Gewissheit habe ich gekämpft und mir den Spott der modernen, im Zeichen der Zeit denkenden Zyniker zugezogen.
Deshalb ist es mir unverständlich, weshalb Sie und die ganze Jugend, welche angeblich ihrer Meinung ist, mich aus irrtümlichen Absichten so pompös empfangen haben. Doch muss ich weiter lehren, was ich vor Gott und vor meinem Gewissen verantworten kann. Ich kenne nur ein Ziel auf dieser Welt, und es gibt nichts Höheres als dieses: ein Jude zu sein, vollkommen und harmonisch in Geist und Herz, in Wort und Tat, das Leben in all seinen Situationen zur heiligen, das Wort Gottes in all seiner Tiefe zu lernen.
Schauen Sie, dies ist das Ziel, zu dem wir aufblicken sollten. Dieses Ziel steht wie eine leuchtende Säule vor uns, um uns den Weg zu weisen, dem Juden in seinen zerrissenen Kleidern wie auch jenem in seinem modernen Gewand. Dies ist das Ziel, das absolute Gute, das unsere Jugend, ihre Jugend anstreben sollte.
Allerdings, solange die Jugend, wie auch Sie, voller Verachtung auf die unkultivierten Juden in ihrer einfachen und altmodischen Kleidung als „erniedrigt minderwertig und verachtungswürdig“ herabschauen, solange sie alle meinen, dass der neue Rabbiner dazu da ist, wie Sie schreiben „aus dem Juden einen Menschen zu machen“ und nicht umgekehrt aus dem Menschen einen Juden zu machen, solange hat die Jugend keine Ahnung davon, welches Ziel wir vor Augen haben sollten.
Sehen Sie denn nicht, wie armselig diese Jugend dasteht? Armselig ist sie im Vergleich zu den Vätern, deren sie sich rühmt. Die Vorväter dieser Jugend schämten sich nicht, wie Juden zu leben, trotz der ihnen feindlich gesinnten Umgebung. Sie bewiesen den Mut, sich hartnäckig dem Beil und dem Galgen, dem Fußtritt und dem Speien entgegenzustellen. Sie verzichteten auf nichts in Gottes Tora.
Und ihr ängstlicher Enkel fragt allen Ernstes: „Was soll ich denn meinen Kunden sagen? Dass heute Schabbat ist und es deshalb kein Brot zu kaufen gibt? Wird er diese Tatsache annehmen? Wird er die Juden mit ihrer Religion nicht verfluchen?“
Ja! Jawohl! Sagt, dass heute Schabbat ist! Und mit dieser einfachen Antwort, die Sie einem Nichtjuden geben, beweisen Sie: בֵּינִי וּבֵין בְּנֵי יִשְׂרָאֵל אוֹת הִיא לְעוֹלָם „Zwischen Mir (Gott) und den Kindern Israel sei er (der Schabbat) ein ewiges Merkmal.“
Beweist, dass es Dinge gibt, die über dem Monatserlös stehen!
Beweist, dass ein Jude mit Freuden jegliches Opfer für seinen Glauben darbringt!
Wisset, dass Ihr Euch irrt im Christen, im wahren Christen, ebenso wie Ihr Euch im wahren Juden irrt.
Und Gott in seiner Güte soll Licht in eure Augen bringen.