(Zum Purimfeste)

In der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 25. Februar 1863, die von Rabbiner Dr. Lehmann in Mainz herausgegeben wurde, habe ich zum Purimfest folgenden Artikel gefunden.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:  https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2457020?query=Purim

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.

In der Geschichte des herannahenden Festes offenbart sich uns der besondere Schutz des allmächtigen Gottes. Ein armes, ohnmächtiges Volk hat Gott aus des Löwen Rachen gerissen, ein Volk ohne alle äußeren Hilfsmittel, welches bereits dem unvermeidlichen Verderben scheinbar rettungslos verfallen war, hat Er von seinen mächtigen Drängern befreit. Wir feiern das Andenken der Errettung, die bloße Erzählung desselben ist unser Lobgesang (Kriath Hamegilla[1] tritt an die Stelle des Hallel[2]), aber es ist unsere Pflicht zu lernen aus unserer heiligen Geschichte, fragend in unsere Brust zu schauen, um unsere religiösen Zustände zu verbessern, damit nicht auch wir Strafe verdienen.

Durch unsere ganze Geschichte zieht sich wie ein roter Faden der Kampf mit Amalek; וְהָיָה֙ כַּאֲשֶׁ֣ר תָּרִ֔יד וּפָרַקְתָּ֥ עֻלּ֖וֹ מֵעַ֥ל צַוָּארֶֽךָ [3] ist die alte Verheißung unseres Vaters Jizchak, welche das Emporkommen des Esawenkels, Amalek, an das Unterliegen Jakobs geknüpft hat; von dem Augenblick an begann der Kampf gegen Esaw, gegen Amalek. Amalek ist ohnmächtig, wenn Jakob seine Pflicht erfüllt, sobald aber der Königssohn Jakob den Weinberg Gottes verletzt[4], so wird die Kette Amaleks gelöst und ihm die Erlaubnis gegeben, Israel zu verwunden. Drei große Perioden der israelischen Geschichte rollen Paraschoth Sachor[5] und Purim vor unserem geistigen Auge auf. Der Thoraabschnitt — Paraschath Sachor — zeigt uns Israel in der Wüste, welches murrend ruft, „ist etwa Gott in unserer Mitte? “ und alsogleich kommt Amalek, der erste, welcher es wagt gegen Israel zu kämpfen.— Die Haftara[6] entrollt uns ein anderes Bild. Israel ist im Begriff unter seinem ersten König groß und mächtig zu werden — der unvollendete Vernichtungskampf gegen Amalek lässt diesen König verworfen werden vor Gottes Antlitz, ihn und sein Haus, und mit ihm muss Israel bluten auf den Höhen von Gilboa. — Die Purimgeschichte lässt uns unser Volk in der Verbannung finden, getrennt und zerstreut wohnend unter fremden Nationen, verlassend der Väter Sitte und vergessend Gottes Gebot — da ist es wiederum ein Amaleks-enkel, Haman, welchen Gott als Geißel schwingt, um sein sündiges Volk auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Ein so tiefer Einblick aber in das Wesen der Geschichte muss uns auf die Weltlenkung selbst aufmerksam machen und uns veranlassen, über die großen Ursachen großer Wirkungen nachzudenken. Dem prüfenden Verstand ergeben sich aber als Faktoren der Weltlenkung drei. Diese sind: 1) der natürliche Verlauf der Dinge; die natürliche Ursache hat eine naturgemäße Wirkung; 2) die Macht der freien Wahl; der Mensch im Besitz der Fähigkeit, frei zu wählen, durchbricht, hemmt, fördert den Verlauf der Dinge und kettet Ursachen aneinander nach eigenem Belieben; 3) die göttliche Vorsehung, die nach allweisem, unerforschlichem Plan des Schöpfers oft gegen den Verlauf der Natur und der menschlichen Berechnung vielfach zuwider, die höchste Leitung des Weltalls und des Menschen- und Völkergeschickes vollbringt. Das sind die Faktoren der Weltlenkung und auf sie führt uns der Midrasch, anlehnend an die ersten Worte der Megillath Esther. Dort heißt es nämlich: ויהי בימי אחשור‘ ר‘ שמו‘ בר נחמן אמר ר‘ יונתן פתר כל מקום שנאמ‘ ויהי בימי אינו אלא צרה ואמר ר‘ שמו‘ בר נחמן וחמשה הן – ויהי בימי אמרפל, עשו מלחמה – ויהי בימי שפוט השופטים, והיה רעב בארץ – ויהי בימי אחז, שאחז בבתי מדרש, אם אין גדיים אין תיישים, אם אין קטנים אין גדולים אם אין תלמ‘ אין חכמים אין הק“ב“ה משרה שכינתו בארץ הה“ד ואנוכי הסתר אסתיר את פני מכל הרעה אשר עשו – ויהי בימי יהויקים בן יאשיהו, שקרע ושרף מגילת ספר – ויהי בימי אחשורש, שגזר המן להשמיד ולהרוג ולאבד! Im Obigen macht der Midrasch die Bemerkung, dass fünfmal in der Heiligen Schrift [7] וַיְהִי בִּימֵי vorkommt und dass jedes Mal dadurch eine Leidensgeschichte eingeleitet wird: und es war in den Tagen Amrafels[8] — da führten sie Krieg; und es war in den Tagen da die Richter richteten — da entstand Hunger im Lande; und es war in den Tagen des Achas[9], welcher die Schulen schloss und die Kinder nicht in der Gotteslehre unterrichten ließ, um also den göttlichen Geist aus Israel zu verbannen; und es war in den Tagen des Jehojakim[10], des Sohnes des Josias, welcher einen Teil der Heiligen Schrift zerriss und verbrannte; und es war in den Tagen Ahasvers[11], da Haman befahl zu vertilgen, zu erschlagen, zu vernichten. In dem ersten der vom Midrasch erwähnten historischen Ereignisse ist uns, wie wir sehen werden, der natürliche Verlauf der Dinge dargestellt, in den drei folgenden die Erfolge der freien Wahl der Menschen, und in dem fünften die göttliche Fürsorge; wie und in welcher Weise sich das alles aus dem Erwähnten entwickelt, wollen wir nunmehr erörtern.

I.

Als Abraham austrat, für Gott zu wirken, war der Name Gottes auf Erden vergessen; als Abraham die Götzen in Ur Kasdim zerschlug, da hatte er nicht allein den mächtigsten König der Welt zu seinem Widersacher[12], sondern fast die ganze Welt. Also vollführte dann auch Abraham seine Laufbahn bald in stillem, bald in lautem Kampf gegen den natürlichen Verlauf der Dinge. Diesen natürlichen Verlauf der Dinge nennt man in unseren Tagen Zeitgeist[13]. Aus gewissen Zuständen der Völker und Menschen sind gewisse Ideen hervorgegangen, welche sich überall Bahn brechen, die Geister überwinden und sich der Herzen bemächtigen, so dass sie die Welt zu beherrschen scheinen. Wohl besitzen diese Zeitideen eine Macht, die man nicht unterschätzen darf. Es ist ungeheuer schwer, gegen dieselben zu kämpfen, während es ungemein leicht ist, sich ihnen anzuschließen und sich von ihnen tragen zu lassen. Derjenige, welcher sich diesen Zeitideen entgegenstellt, wie Abraham an das Uralte anknüpfend — er wird bald die ganze Welt zu seinen Gegnern haben. Feinde schließen sich aneinander an, um gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen וַיְהִי בִּימֵי אַמְרָפֶל so geschah es denn auch in den Tagen Amrafels, d. i. Nimrod, des alten Feindes Abrahams. Vier Könige kämpfen gegen fünf[14]. Unsere alten Symboliker finden in den vier Königen die vier Elemente und in den fünf Königen die fünf Sinne dargestellt. Die ganze Welt ist materiell und sinnlich geworden וַיָּשֻׁבוּ וַיָּבֹאוּ אֶל עֵין מִשְׁפָּט הִוא קָדֵשׁ, …. לְהִזְדַּוֵּג לְגַלְגַּל עֵינוֹ שֶׁל עוֹלָם …. שהוּא קִּדֵּשׁ להשם ית‘, sie alle vereinigen sich gegen den Einzigen, welcher das Panier des Geistes, das Panier der wahrhaften Gotteserkenntnis aufpflanzt, gegen Abraham, den Augapfel der Welt, welcher heilig ist dem Allmächtigen. Und wie kannst du, Abraham, trotzen wollen einer ganzen Welt? Wird es nicht der natürliche Verlauf der Dinge sein, dass du Einzelner, zertreten und zerdrückt werden wirst von der Gesamtheit, die du in die Schranken zu fordern wagst? O, ihr vergesst, dass nicht der natürliche Verlauf der Dinge allein Einfluss übt auf die Gestaltung der Weltgeschichte, dass es noch andere Faktoren gibt: die freie Wahl des Menschen, die dazu wählen vermag zwischen gut und bös und sich nicht blindlings zu unterwerfen braucht der Herrschaft der Zeitideen, wenn diese auf das Böse gerichtet sind, und dass vor allem die הַשְׁגָּחָה פְּרָטִית die besondere Fürsorge Gottes für seine Frommen wacht, um sie nicht untergehen zu lassen im Strome der Zeit.  וַיָּ֨רֶק אֶת־חֲנִיכָ֜יוAbraham bewaffnet die von ihm an die Ausübung der göttlichen Gebote Gewöhnten und bleibt Sieger. Abraham wird der Vater der Welt, der Verkünder der Erkenntnis für alle Zeiten; sein Werk bleibt, während die damals herrschenden Zeitideen und ihre Träger längst verloren und vergessen sind.

Seitdem haben die Träger der Abrahams-Erkenntnis sich stets im Gegensatz zu den herrschenden Zeitideen gefunden und somit zu dem größten Teil der Weltbewohner. Aus diesem Gegensatz entsprangen die Kämpfe, denen unser Volk so oft zum Opfer gefallen. Kein Weltreich, das seine Macht nicht erprobt hätte an Abrahams schwacher Nachkommenschaft; die Ägypter, die Assyrier, die Babylonier, die Perser, die Griechen, die Römer, die Germanen, die Romanen, die Araber, die Türken, und die Slaven. In neuerer Zeit hat dieser Gegensatz noch eine andere Gestalt angenommen; er findet sich in unserer eigenen Mitte. Seit der großen Umwälzung von 1789[15], ja, seit der Herrschaft jener Ideen, welche diese Umwälzung vorbereitet haben, ward auch Israel hineingerissen in den Strudel der allgemeinen Bewegung. In dem Drang nach weltlicher Bildung, durch das Sichbemächtigen der plötzlich sich öffnenden, bisher uns verschlossen gewesenen Nahrungszweige, ward das Studium der Gotteslehre vernachlässigt und die Erfüllung der göttlichen Gebote versäumt. Fast ein Jahrhundert ist seit den er-sten Anfängen dieser Periode verflossen; wir haben jetzt Zeit gehabt uns zu ermannen, wir haben uns ermannt und werden als Männer kämpfen. Kultur und Bildung haben wir uns erobert — wir werden uns auch unsere heiligsten Schätze, die Gotteslehre und die Gottesgebote zu wahren und zu schützen wissen. Auch uns tritt man höhnend gegenüber, bezeichnet uns als verlorene Posten, verheißt uns, zermalmt zu werden von dem unaufhaltsam dahinrollenden Rad der Zeit und sieht geringschätzig unserem Bemühen zu, den flüchtigen Zeitideen die ewige Wahrheit entgegenzusetzen. „Seit einem Jahrhundert, spricht man, fällt das alte Judentum unaufhaltsam in Trümmer; nicht Sabbat-, nicht Speise-, nicht Ehegesetze finden mehr Anklang selbst bei den Söhnen und Töchtern gottesfürchtiger Männer und Frauen. Wollt ihr euch von den Trümmern begraben lassen, oder den natürlichen Lauf der Dinge hemmen?“ Wohl, wir wollen es, denn es gibt noch andere Faktoren der Weltlenkung. Stark und kräftig ist der Wille des Menschen, und manchmal vermag sogar der die Wahrheit umfassende Gedanke des Einzelnen, sobald er zur mächtigen Tat wird, der gesamten Zeitrichtung eine andere Wendung, den Zeitideen einen andern Inhalt zu geben; denn die besondere Fürsorge Gottes ist am Ende derjenige Faktor der Weltlenkung, welchem allüberall der letzte Entscheid zusteht. Wohlan denn, möge jeder sich bewaffnen חֲנִיכָיו יְלִידֵי בֵּיתוֹ die von ihm im Gottesgeiste erzogenen, an die Gottestat gewöhnten Kinder und Schüler, damit sie siegreich kämpfen unter Gottes allmächtigem Beistand.

II.

Wir haben oben gesagt, dass, wenn auch der natürliche Verlauf der Dinge gewöhnlich das Schicksal der Menschen und Völker entscheide, dieser doch wiederum von des Menschen freier Wahl vielfach abhängt. Der freie Wille ist es, welcher die Ursachen hervorruft und dadurch die Folgen bedingt. Was ist freier Wille? Nach gewonnener Überzeugung das Gute zu wollen und zu tun. Der auf das Böse gerichtete Wille ist nicht frei, ihn binden Leidenschaften und Begierden. Die Freiheit kann auch nicht eine solche sein, welche nur für den Einzelnen, oder für Wenige existiert, sondern sie muss für die Gesamtheit da sein und ihr Ausdruck ist das Gesetz, „und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ Es gibt für die missverstandene Freiheit, für die Entartung derselben zwei Formen, die Anarchie und die Despotie. Wenn die Gesamtheit eines Volkes das Gesetz nicht mehr achtet, wenn die Vollstrecker des Gesetzes sich nicht mehr Gehorsam zu verschaffen wissen, da entsteht Anarchie, d. h. der Krieg aller gegen alle; das Eigentum wird unsicher, Zucht und Sitte hören auf zu existieren. Einen solchen Zustand schildert uns der oben von uns erwähnte Midrasch וַיְהִי בִּימֵי שְׁפוֹט הַשּׁוֹפְטים und es war in den Tagen, da man die Richter richtete מָה שֶׁהַדַּיָּן מְבַקֵּשׁ לַעֲשׂוֹת לְהַנְשְׁפט, הַנִּשְׁפָּט עָשָׂה לַדִּיִּין   was der Richter dem Verurteilten zu tun befahl, das vollzog der Verurteilte am Richter. War über den Verurteilten Leibesstrafe erkannt worden, so zog er aus mit seinen Söhnen und Knechten und ließ die Strafe an dem Richter vollziehen, welcher das Urteil gefällt hat. Israel war entartet, aus der Freiheit war die Willkür geworden.

 Auch in unseren Tagen herrscht wenigstens in religiöser Beziehung die Willkür, die Gesetzlosigkeit, die Schrankenlosigkeit. Sowohl auf der Kanzel alsauch in der Presse wird die Stimme des Mahners verlacht und verhöhnt. Der Redner sowohl wie der Schriftsteller sollen beide den Leidenschaften der Menge schmeicheln, vor ihren Torheiten die Augen schließen, ihre Ungesetzlichkeiten mit Stillschweigen übergehen, beileibe nicht jemanden verletzen, dem Sabbatschänder schmeicheln, dem Trefotverzehrer[16] zu Gefallen reden und überhaupt die Verletzung der Religion nicht zum Gegenstand eines Vorwurfs machen. Ja, wer also tut, der ist geliebt, geehrt und geachtet, das ist der echte Priester des Herrn, der Mann des Friedens, der Toleranz und der Menschenliebe. Weh aber demjenigen, der seine Pflicht tut, gegen ihn ziehen die Abtrünnigen aus mit ihren Söhnen und Knechten, geben ihn preis der Verleumdung und erschweren ihm seinen Beruf, wo und wie sie nur können. Aber der wahrhaft gottesfürchtige Mann darf sich dadurch nicht beirren lassen; wir haben leider keine Richter mehr, welche den Verletzer der Religion zur Verantwortung ziehen könnten בַּמָּקוֹם שֶׁאֵין אֲנָשִׁים הִשְׁתַּדֵּל לִהְיוֹת אִישׁ wo es an Männern fehlt, ist daher jeder verpflichtet sich zu ermannen und für die Erfüllung des Gesetzes zu streben.

Eine zweite Entartung der Freiheit ist, wie wir bereits erwähnt haben, die Despotie, die Willkür des Einzelnen, der sich über das Gesetz stellt und sich gegen das Gesetz wendet.

Einen solchen Zustand führt uns der Midrasch vor in den Worten וַיְהִי בִּימֵי אָחָז und es war in den Tagen des Achas. Ein böser König will Israel verderben; er legt die Hand an die Wurzel des Baumes, er schließt die Lehrhäuser und verbietet der Jugend sich mit der Thora zu beschäftigen, um so Israel von seinem Gott zu trennen. Kein Zeitpunkt war so schwer für Israel wie jener, von dem es heißt: (Jesaias 8:17) וְחִכִּ֙יתִי֙ לַה‘ הַמַּסְתִּ֥יר פָּנָ֖יו מִבֵּ֣ית יַעֲקֹ֑ב וְקִוֵּ֖יתִי־לֽוֹ und ich harre zu Gott, der da verborgen hat sein Antlitz vor dem Hause Jakobs und ich hoffe auf ihn. Was kannst du, tyrannischer König, erlangen? siehe der Prophet Jesaias (8:18) steht dir gegenüber und spricht: הִנֵּ֣ה אָנֹכִ֗י וְהַיְלָדִים֙ אֲשֶׁ֣ר נָתַן־לִ֣י ה‘ לְאֹת֥וֹת וּלְמוֹפְתִ֖ים בְּיִשְׂרָאֵ֑ל siehe ich bin da und die Kinder, die mir Gott gegeben hat, dass sie seien zu Zeichen und zu Wundern in Israel. Jesaias und seine Schüler stellen Israels Lehre wieder her in Chiskijahs[17] Zeit.

Auch in unserer Zeit ist eine ähnliche Despotie hervorgegangen aus Israels eigener Mitte. Die alten, berühmten Lehrhäuser sind geschlossen, und die Kinder werden dem Thorastudium entfremdet. Man sendet die Kinder in Schulen, in welcher sie der Synagoge entfremdet, in welchen sie nicht hingeführt werden zu den Quellen der heiligen Gotteslehre. Harren wir zu Gott, der da die Zeiten ändert, und hoffen wir auf ihn! Ihr aber, ihr Männer in Israel, die ihr noch Gott tragt in eurem Herzen, harret aus mit euren Kindern und Schülern und erzieht dieselben für eine Zeit, in der es uns vergönnt sein wird, der Krone der Gotteslehre zu ihrem alten Glanz wieder zu verhelfen.

Die furchtbarste Entartung der Freiheit ist die Frechheit und der Hohn. וַיְהִי בִּימֵי יְהוֹיָקִים; dem entarteten Könige Jehojakim wird vom Propheten Jeremijahu auf Gottes Geheiß der Teil der Gotteslehre vorgelesen, welcher die Strafen für Abfall und Sünde enthält. Er will nicht hören, er zerreißt und verbrennt die Heilige Schrift.

Auch in unsern Tagen macht sich leider dieselbe Frechheit und derselbe Hohn geltend; auch in unserer Zeit gibt es entartete Israelssöhne, welche die Thora zerreißen und verbrennen möchten. Noch stehen die heiligen Rollen unangetastet in den heiligen Schreinen unserer Synagogen; aber ihr Inhalt wird zerrissen von anmaßungsvoller Aftergelehrsamkeit[18], und die in ihr enthaltenen Gesetze werden verbrannt von Zügellosigkeit und Leidenschaft. Was folgte auf Jehojakims Trotz? Grenzenloses Unglück, Zerstörung und Verbannung unseres Volkes, und auf den Trümmern Jerusalems saß Jirmijahu und weinte. Wohl kann auch uns Trauer und Angst beschleichen und von Furcht niedergedrückt wagen wir es kaum der Zukunft zu gedenken. Gebe Gott Rückkehr der Verirrten [19]וְלֹא עַל יְדֵי יִסּוּרִים וְחַלָּאִים רָעִים, ohne dass es erst der bessernden Hand des Unglücks bedürfte.

III.

Der dritte, oder vielmehr der erste, allein maßgebende Faktor der Weltlenkung ist die göttliche Fürsorge; aus jeder Gefahr und Not rettet sie; aber es gibt Zeiten, in denen Israel die Rettung nicht verdient; so geschah es in den Zeiten des Achaschwerosch, da die Israeliten verbotene Speisen und verbotenen Trank genossen hatten. Deshalb beginnt gleich das Buch Esther mit der Erzählung des Gastmahls des Königs und seiner Herrlichkeit.

Gott hat für uns, sein auserwähltes Volk eine Auswahl der Speisen getroffen, damit unser Körper fähig werde, einem Geist zu dienen, welchem die höchste Aufgabe der Welt geworden. Der Zusammenhang zwischen Körper und Geist ist ein außerordentlich enger; der Genuss verbotener Speisen מְטַמְטֵם אֶת הַלֵּב verstockt das Herz; das Verbotene selbst wird ein Bestandteil von uns; der Körper wird dadurch unfähig dem Geist in Reinheit und Heiligkeit zu dienen, wie er es doch sollte, und der Geist selbst vermag die ihm gewordene hohe Aufgabe nicht mehr zu lösen. Der Genuss von הוּעֲבָה Gräuel (und ein Gräuel soll uns alles sein, was Gott uns verboten hat) macht den Genießenden selbst zum Gräuel; er wird zum unbrauchbaren Werkzeug und somit verworfen. Deshalb hatten die Israeliten zu Hamans Zeiten die Vernichtung verdient.

Und in unsern Tagen? Nicht allein, dass so viele unserer abtrünnigen Brüder בְּיָד רָמָה mit frech erhobener Hand schamlos sich entfernt haben von jüdischer Lebensweise, sich zu ganz anderen Menschen gemacht haben, in denen das jüdische Blut durch den Genuss von שֶׁקּצִים וּרְמָשִׂים טְרֵפָה וּנְבָלָה חָלָב וְדָם von Kriechtier und Gewürm, von krankem und gefallenem Vieh, von Unschlitt[20] und Blut verdorben ist — ach, auch viele der Frommen sind gar leichtsinnig in dieser Beziehung, denken nicht daran zu prüfen, ob das, was sie genießen, auch gesetzmäßig zubereitet worden, ob Schechitah und Bedikah gehörig gehandhabt wurde; dass es verboten ist den Wein der Nichtjuden, die ohne Aufsicht gelassene Milch usw. usw. zu genießen ist dem Heranwachsenden Geschlecht kaum noch bekannt. Möchte doch endlich wieder der Leichtsinn weichen der Gewissenhaftigkeit! denn in demselben Grade, wie wir verpflichtet sind, die Gebote zu halten, welche Gott uns unseren Nebenmenschen gegenüber gegeben, in demselben Grade, wie wir verpflichtet sind, Diebstahl und Betrug selbst in Kleinigkeiten zu meiden, ja, auch den bloßen Schein zu verhüten, ebenso sind wir verpflichtet, auch den übrigen Geboten Gottes nachzuleben. — Es ist eine alte Sitte in Israel, vom Purimfeste an und weiter für das Pesachfest und seine Pflichten zu sorgen. Diese Pflichten sind streng wie wenig andere עוֹנְשׁוֹ כָּרֵת אִסּוּרוֹ בִּימֵי הַפֶּסַח בְּמַשֶּׁהוּ Möge es uns bei dieser Gelegenheit vergönnt sein, an eine recht sorgfältige Vorbereitung für dieses Fest zu erinnern, damit vor allem die ungesäuerten Brote[21] so hergestellt werden, dass sie selbst nicht Chamez[22], dass nicht in der Erfüllung von [23] אֲכִילַת מַצָּה selbst große Sünde begangen wird. —

Als unsere Väter im Perserlande dem Mordbefehl Hamans preisgegeben waren, da wäre der natürliche Verlauf der Dinge gewesen, dass sie, die wenigen, zerstreut und getrennt im weiten Perserreich Wohnenden, dem drohenden Geschicke erlegen wären; aber Mordechai und Esther traten, den freien Willen auf die Herstellung des Guten gerichtet, im Herzen die untrügliche Hoffnung auf die allmächtige Fürsorge Gottes, den trüben Zeitverhältnissen entgegen; und siehe da, Gott half; ein umgewandeltes Geschlecht erstand, das Geschlecht, welches wieder das Gotteshaus in der Gottesstadt gründete.

So mögen auch wir mit ernstem Willen den trüben Zeitverhältnissen entgegentreten, mäßigen die Willkür, erziehen die Kinder zu echten Abrahamssöhnen, treten dem Hohn entgegen, halten den Körper von verbotenen Genüssen rein, unterwerfen den Geist dem Willen unseres Schöpfers. Dann wird Gottes Vorsehung für uns und über uns wachen und in Erfüllung wird wieder die Devise des herannahenden Festes gehen לַיְּהוּדִים הָיְתָה אוֹרָה וְשִׂמְחָה וְשָׂשֹׂן וִיקָר den Juden erstand Licht, Freude, Wonne und Würde.


[1] Vorlesung der Estherrolle

[2] Gebete der Lobpreisung Gottes an Neumond- und Feiertagen

[3] Genesis 27:40 erst wenn du dich demütigest, lösest du sein Joch von deinem Halse! (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[4] Dereinst, sagen unsere Weisen, legte ein König einen herrlichen Weinberg an und umgab ihn mit einer Mauer. Zum Schutze des Weinbergs brachte er in denselben einen Hund, indem er sprach: Jeden, der da kommen wird, die Mauer einzureißen, mag dieser Hund beißen. Nach einiger Zeit kam der Sohn des Königs, und fing an, die Mauer einzureißen; da überfiel und biss ihn der Hund. Er hätte ihn zerrissen, hätte nicht der König noch rechtzeitig den Hund zurückgerufen. So oft nun der König die Sünde seines Sohnes in Erinnerung bringen will, spricht er zu ihm: denk daran, wie dich jener Hund gebissen. — Der König aller Könige ist der Heilige gelobt sei Er; der herrliche Weinberg, den er gepflanzt, ist seine heilige Thora; sein Sohn ist Israel, und der Wächterhund, ist Amalek. So oft nun der Heilige gelobt sei Er, die Sünde Israels in Erinnerung bringen will, dass es gesprochen in Rephidim: „Ist etwa Gott in unserer Mitte?“ so spricht er: Denk daran, was Amalek Dir getan. — Als ein von Gott hingestellter, zwar als ein verruchter, aber doch als ein von Gott hingestellter Wächter steht Amalek Israel gegenüber, ist stets es zu verwunden bereit, darf aber nur dann seines Herzens Rachetrieb befriedigen, wenn Israel gegen sich selbst wütet, wenn es im blinden Wahne die ihm von Gott verliehene Thora verletzt. („Der Israelit“, Jg. 3, Heft Nr. 11)

[5] Der Schabbat vor Purim

[6] Der dem Wochenabschnitt zugeordnete Schriftvers der Propheten oder Schriften; hier Samuel I 15, 1-34

[7] Und es war in den Tagen

[8] Wikipedia: Amrafel (auch Amraphel) ist im Alten Testament nach Gen 14,1 und 9 zur Zeit Abrahams König von Schinar.

[9] Wikipedia: Ahas (hebräisch אחז, assyrisch Jauhazi, auch Achaz) war König des Südreiches Juda (735–715 v. Chr.),

[10] Wikipedia: Jojakim (hebräisch יְהֹויָקִים; * 634; † 598 v. Chr.) war einer der letzten Könige des Königreichs Juda vor dem babylonischen Exil.

[11] Achaschwerosch König von Persien siehe Buch Esther

[12] Nimrod; Wikipedia: Nimrod ist ein altorientalischer, im Tanach bzw. der Bibel und im Koran erwähnter Held und König.

[13] Siehe hierzu auch den Artikel von Rabbiner Hirsch „Der Jude und seine Zeit” in „Jeschurun.online“, 1. Jg. Heft 4

[14] Genesis 14:1-24

[15] Französische Revolution

[16] Ein Jude der die Speisegesetze nicht einhält

[17] Wikipedia: Hiskija (auch Ezechias, Hiskia oder Hiskias; hebräisch חזקיהו Ḥisqijahu; * um 750 v. Chr.; † 696 v. Chr.) war von 725 v. Chr. bis 696 v. Chr. König von Juda als Nachfolger seines Vaters Ahas.

[18] Pseudogelehrsamkeit

[19] bloß nicht durch Qualen und schlimmen Krankheiten

[20] aus geschlachteten Wiederkäuern und anderen Paarhufern gewonnenes festes Fett. Eingeweidefett, verschiedene Fette sind den Juden verboten, da sie als Opfer dargebracht wurden.

[21] Matze

[22] gesäuert

[23] Dem Gebot Matze zu essen

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