Bringt es überhaupt etwas, wenn der Einzelne fromm, die Gemeinde aber liberal ist? Dieser Frage geht Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l in diesem Artikel nach, den ich in der Zeitschrift „Jeschurun“, Heft 2, des Jahres 1856 gefunden habe.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2940388

Eine verehrungswürdige Dame, welcher an den Arbeiten unserer Feder nicht weniger als alles und außerdem noch vieles missfiel, hatte auch an einem kleinen Strichlein Anstand genommen, das wir einmal dem Namen dieses Monats eingefügt und damit die Stammsilbe „Cheschw“ von der Bildungssilbe „an“ getrennt hatten.[1] „Warum denn Cheschw—an?“ hatte sie gefragt, und da wir sonst noch so vieles zu antworten hatten, hatten wir die Angelegenheit dieses armen Strichleins ganz vergessen, bis wir uns eben jetzt daran erinnern, indem wir wieder die Überschrift dieses Monats zu schreiben haben. In der Tat wollten wir durch Hervorhebung der Stammsilbe: חשו schon im Namen den Charakter des Schweigens, der Stille angedeutet finden, der diesen Monat in seiner unmittelbaren Folge auf den so laut in die Öffentlichkeit hervortretenden Fest- und Feier-Monat Thischri kennzeichnet. Mag man jedoch auch die Ableitung dieses Namens von [2]חשה, schweigen, still sein, bezweifeln, den Eindruck der Stille, des Eintritts in das stille Einzelleben, dürfte wohl der Gedanke dieses Monats auf jeden machen, der seinen Vorgänger, den Thischri, mit Geist und Gemüt durchlebt hat.

Brauchen wir daran zu erinnern, wie fast vier Wochen lang der Thischri unsere Väter aus ihren Weilern und Gauen, aus ihren Dörfern und Städten in den Mittelpunkt des Nationallebens zusammen berufen und zusammengehalten hatte, fast vier Wochen lang unsere Väter als Volk Gottes um Gottes Thora-Heiligtum vereinigt zu leben hatten, und erst mit dem 7. Cheschwan אַחֲרוֹן שֶׁבְּיִשְׂרָאֵל הִגִּיעַ לִנְהַר פְּרָת, der Letzte in Israel in die entfernte Heimat zurückgekehrt war[3].

Auch in Israels Gegenwart, wo seine Feste nur schwache Nach- und Vor-Klänge einer alten und einstigen Herrlichkeit sind, und das Entzücken einer nationalen Simchat-Beth-Haschoeba-Begeisterung[4] auf die bescheidene Seligkeit eines gemeinsamen Lulaw und Hüttenfestes, einer gemeinsamen Thorafreude einzelner kleiner Kreise zusammengeschmolzen ist, hat doch der Thischri den alten Zauber nicht verloren. Die gemeinsame Feier weckt doch immer frisch das gemeinsame Nationalgefühl wach, Privatfreuden und Privatsorgen gehen doch in die freudige Nationalstimmung auf, und wenn der Feststrauß abgelegt, die Festhütte verlassen ist und die drei abendlichen Sterne auch der letzten Thorafreude das Ende künden, zieht der Gedanke des fest- und feierlosen Winters mit seiner kälteren Vereinzelung der häuslichen Sorgen, des Familienlebens der Einzel-Arbeit, mit berechnendem Ernst in das Herz und lässt die jüdische Brust nicht ohne eine gewisse Wehmut aus den begeisternden Gesamtkreisen gemeinsamer Gottesheiligtümer in den engen Kreis des stilleren, mühevolleren Einzellebens scheidend zurückkehren.

An der Schwelle dieses Einzellebens möchten wir einen Beitrag zur Beantwortung einer Frage versuchen, die uns nicht selten entgegengehalten wurde, wenn wir in Gesprächen und sonst von der Verpflichtung zu sprechen wagten, die der einzelne Jude und die einzelne Jüdin für die gemeinsame Sache des jüdischen Heiligtums trügen, wenn wir die tiefe Überzeugung laut werden zu lassen wagten, wie nie und nimmer der einzelne Jude ganz, wie man spricht, ins Geschäft, in die Sorge für die Erhaltung des Hauses und der Familie aufgehen dürfe, wie seine Brust immer weit genug bleiben müsse um auch der jüdischen Nationalsorge Raum zu bieten, und wie der Jude seinen Beruf ganz und gar verkenne, der mit der Bestellung von Vorständen und Rabbinen und mit Entrichtung seiner Beitragsquoten sich der Verpflichtung und der Sorge für das jüdische Allgemeine entschlagen zu können meine.

„Was vermag denn der Einzelne fürs Ganze?“ pflegte man dann wohl entgegenzuhalten, „der Einzelne, ohne Bestallung, ohne Amt, ohne Vollmacht, ohne Einfluss? und zumal der Einzelne, mit seiner Fülle von Sorgen, mit den gesteigerten und immer mehr steigenden Anforderungen des geschäftlichen Berufs, die ihm in der Tat [5] מִקֹּצֶר רוּחַ וּמֵעֲבֹדָה קָשָׁה kaum eine freie Minute zu einem freien Atemzug lassen?“

Die Bestallung[6], die uns Gott mit dem Namen: Jude erteilt, hat nicht erst auf die anerkennende Bestätigung der Menschen zu warten, der Beruf (Aufgabe), den uns Gott mit dem Namen: Jude gegeben, kann durch keinen andern Beruf, den wir uns selbst gegeben oder von den Umständen uns geben ließen, aufgehoben oder auch nur in das Dunkel eines nichtsbedeutenden Schattens zurückgedrängt werden. [7] אָרוּר אֲשֶׁר לֹא יָקִים אֶת דִּבְרֵי הַתּוֹרָה הַזֹּאת לַעֲשׂוֹת אוֹתָם, „Wehe dem, der diese Thora nicht mit aufrecht erhält, sie zur Erfüllung zu bringen“, mit diesem Ruf hat Gott seinen Thora-Bund für alle besiegelt, und wie das Menschliche eines reinen griechisch-römischen Bewusstseins die schönen Worte sprach: homo sum nihil humani a me alienum puto, ich bin ein Mensch und nichts Menschliches achte ich mir fremd, so hat mit noch tieferem Ernst und noch freudigerer Begeisterung jeder Jude zu sprechen: Ich bin Jude, und achte nichts Jüdisches mir fremd!

Was vermag aber in der Tat der einzelne Jude fürs jüdische Ganze? — Unendlich vieles und nie mehr als gerade in einer Zeit, in welcher das Heiligtum trauert und die Thora in Sack und Asche sich hüllt, in welcher nicht viele für die jüdische Sache einstehen und in welcher mit doppeltem Gewicht in die Waagschale fällt, was der Einzelne Wahres und Treues für Gott und seine heilige Sache übt.

Wenn Judas Stämme alle begeistert zum Heiligtum hinaufströmen, mag der Einzelne unbemerkt in die Gesamtheit aufgehen und viel mehr von der Begeisterung der Gesamtheit empfangen, als er ihr durch seinen reinen Sinn und seine begeisterte Treue spendet. Wenn aber die Wege, die nach Schilo[8] führen, verödet liegen, Israels Söhne in ihren „Weinbergen und Olivenhainen“ ihre Reichtümer, und die Priestersöhne in Gottes Heiligtum ihre Pfründe erblicken, und die alte Sehnsucht nach Gott und seiner Lehre und seinem Heiligtum erstorben ist, und dann ein Elkana[9] hinaufzieht, mit Weib und Kind, und also hinaufzieht, dass an seinem Ernst, an seiner Freudigkeit, an seiner Begeisterung, sich nach und nach die Begeisterung seiner Verwandten, seiner Nachbarn, seiner Stadt, seines Volkes entzündet, dann schreibt Gott das Hinaufziehen eines solchen Elkana Epoche machend in das Buch Seiner Geschichte ein, dann erblüht an der Seite eines solchen Elkana eine Channa und aus solcher Ehe sprosst ein Samuel, an dem sich aufs Neue Judas Geist zu Gott und seinem Heiligtum emporrichtet.

Was der Einzelne vermöchte? Wir haben es schon gesagt: ein Elkana, eine Channa werden. Und was dazu gehört?

Einsicht zuerst. Es ist die Unwissenheit, die uns schlägt, es ist die Unwissenheit, die jeder Irrlehre, jedem Wahn Tür und Tor bei uns öffnet, die es möglich macht, dass die Leichtfertigkeit und die Eitelkeit auf Katheder und Kanzel sich breit machen, dem Volk die Wahrheit seiner Vergangenheit, die Aufgabe seiner Gegenwart und die Hoffnungen seiner Zukunft rauben und den Söhnen und Töchtern Israels die Lehre ihres Gottes als eine solche erscheinen lassen, denen man wohl Synagogen und Tempel, Chor und Predigt zu stiften aber das Haus und die Familie, das Geschäft und das Leben zu verschließen habe.

Lerne, Sohn Judas, lerne die Lehre deines Gottes, die Mahnung seiner Propheten, die Ergüsse seiner Begeisterten, die Überlieferungen seines Mundes, die Weisheit seiner Weisen, lerne das Schrifttum deines Volkes, damit du nicht Reuben und nicht Schimeon zu fragen hast über das, „was recht ist in den Augen deines Gottes und was Gott, dein Gott, von dir fordert“, lerne, damit du dir selber Rechenschaft geben und unterscheiden kannst die Wahrheit von der Lüge, die Sache des Ernstes von dem Leichtsinn, das Wort der Gewissenhaftigkeit von der Sünde. Lerne, Sohn Judas und lerne, Judas Tochter, damit der jüdische Geist in euch lebendig werde, und euch zu einem Elkana und einer Channa begeistere. Lernt, Söhne und Töchter Judas, richtet die jüdische Erkenntnis, die Kenntnis eures Gesetzes und eurer Weisheit wieder in euch auf; mit jeder wiedergewonnenen Erkenntnis hebt ihr einen Stein aus dem Schutt eures Heiligtums, fügt ihr eine Fuge in das Bollwerk der Wahrheit, schafft ihr eine Schuppe für den Panzer, an dem einst das Werk der Lüge zu Schanden werden wird.

Lernt, jüdische Geschäftsmänner, Gottes Sache ist gewonnen, so sein Volk wieder „lernend“ als sein Volk ersteht.

Lernt. Erringt euch, erkämpft euch, erhaltet euch die Minuten, die Viertelstunden, die Stunden zum Lernen, und haltet Cherubim-Wache um sie mit dem Flammenschwert eines ernsten Entschlusses; sie werden sich euch als die Blüten eurer Zeit, als die unverlierbaren Gewinne eures Strebens erweisen.

Seht eure Alten! Gefällt man sich nicht darin, sie euch als die Männer des Geschäftes, des Gewinnes, des „Massa Umatans[10]“ zu schildern? Gewöhnt man euch nicht, euch ihnen gegenüber als das Geschlecht der „Intelligenz“, der „Bildung,“ der „Wissenschaftlichkeit“ zu betrachten? Nun seht, ihnen, diesen Männern des Massa Umatans, war es tief in die Seele gegraben: [11]בְּשָׁעָה שֶׁמַּכְנִיסִין אֶת הָאָדָם לְדִין, wenn du einst dort oben zur Rechenschaft kommen wirst, wird allerdings die erste Frage sein:    נָשָׂאתָ וְנָתַתָּ בָּאֱמוּנָה „warst du auch redlich im Massa Umatan, auch redlich im „Nehmen und Geben“? Aber die zweite Frage wird sein: קָבַעְתָּ עִתִּים לַתּוֹרָה, „hast du dir auch bestimmte Zeiten fürs Lernen gehalten?“ Sie (die Alten) gingen nicht auf ins Geschäft, sie hielten jeden Tag für verloren, an welchem sie nur in die Bücher des Geschäftes geblickt, aber nichts aus den Büchern des göttlichen Gesetzes gelernt, jeden Tag für verloren an welchem sie vielleicht an Hab und Gut gewonnen, nicht aber auch zugenommen hatten an Kenntnis auf dem Gebiet der göttlichen Weisheit und der Lehre und des Gesetzes der Pflicht und des Lebens. Und daher kam es, dass der Jude, den sich das Volk nicht gerne anders als den Shylok[12] mit dem Geldbeutel dachte, vielleicht gerade das einzige Volk auf Erden war, das in allen seinen Schichten die Bildung des Geistes, und zwar eine nicht „Geld machende“ Bildung des Geistes mindestens gleich, wenn nicht höher achtete als Silber und Gold, und dessen Männer und Frauen an jedem Tag ebenso emsig bemüht waren den Schatz ihres Geistes und Herzens, als die Güter der materiellen Erhaltung ihrer Häuser zu mehren. Daher kam es, dass die jüdischen Männer und Frauen von einem Geist erfüllt waren, der dem mit allem Glanz und allem Schrecken der Gewalt und der Hoheit gerüsteten Wahn und Irrtum der Jahrhunderte den Zutritt in ihre Hütten zu wehren verstand und sie in der Stunde der Prüfung stark machte, Silber und Gold, den ganzen Reichtum der Erde hinzuwerfen, um sich und ihren Kindern die unveräußerlichen Schätze des Geistes und des Herzens zu erhalten. Und es war derselbe Geist, den die Männer aus den Folianten der Bibel und des Talmuds, wie die Frauen aus ihrem deutschen Chumasch[13], Zeena Ureena[14], ihrem Menorat Hammaor[15], ihren deutschen Psalmen und Thechinnot[16] schöpften, und der sie beide befähigte jenen Bau eines innigen Familien- und eines in Humanität wetteifernden Gemeindelebens zu vollenden, um den noch die heutige Welt sie beneidet.

War aber das Lernen die Grundbedingung des Lebens für alle in den Tagen der Alten, und ein Am Ha-arez[17], — unwissend zu sein in den Urkunden des jüdischen Geistes das am meisten Gescheute — selbst in einer Zeit, wo das Judentum so in die Wirklichkeit des Lebens übergegangen war, dass selbst der Ungelehrteste das Bewusstsein über die jüdische Aufgabe und die jüdische Pflicht überall aus dem Leben selbst schöpfen konnte, zu welcher Bedeutung muss die Pflicht des Lernens für jeden Juden in einer Zeit erwachsen, wo das Judentum aus dem Leben zu fliehen droht, in den Hörsälen der Gelehrten selbst nur noch als verstümmelter Leichnam unter dem Seziermesser des kritischen Anatomen zuckt, und wenn es für uns und unsere Kinder noch wieder entstehen soll, nur durch neues frisches Bewusstsein zu einem solchen neuen Leben geweckt werden kann!

Was darum der Einzelne für die Sache der Gesamtheit vermöchte? Lernen zuerst, קוֹבֵעַ עִתִּים [18]לַתּוֹרָה sein, sich losreißen von dem Aufgehen ins Geschäft, täglich sich eine Stunde, eine halbe, eine Viertelstunde nach vollendetem Tagewerke abgewinnen, oder vielmehr sein Tagewerk erst dann vollendet betrachten, wenn dem auch die [19] עֵת קְבוּעָה לַתּוֹרָה gefolgt, und der jüdische Mann, nachdem er dem redlichen Geschäft gelebt, dann auch die heiligen Minuten gefunden, in welchen er sich, seinem Geist, seinem Gott, seinem Volk angehört, und aus dem Born der ewigen Weisheit Geist und Herz mit den Gesetzen der Wahrheit und des Rechts, der Liebe und der Heiligung genährt.

Was aber die Sache der Gesamtheit gewönne, wenn der Einzelne sich erleuchtete und lernend immer mehr und mehr zum jüdischen Bewusstsein erstünde? Sorge nicht, wo ein Licht ist, leuchtet es hinaus, weckt mit seinen Strahlen schlummernde Funken, und trägt die Erkenntnis weiter. Und wo ein Licht ist, und wenn auch nur ein Licht ist, da bannt es doch die Schatten der Nacht aus einem bestimmten Kreis, da gibts wenigstens einen Kreis wohin sich das Dunkel der Lüge und Täuschung nicht wagt, da lebt doch ein Geist, der in seinem Kreis die Lehren des Wahns und des Irrtums, die Behauptungen der Eitelkeit und der Leichtfertigkeit, die auf die Unwissenheit der Zeitgenossen spekulierende Täuschung zu Schanden macht. Und besteht denn nicht die Gesamtheit nur aus vielen kleinen Kreisen und jeder Kreis nur aus vielen einzelnen, und wächst nicht von selbst in jedem Einzelnen, der wieder zum Bewusstsein jüdischer Wahrheit ersteht, der Gesamtheit eine Summe der Erkenntnis zu, und sollen wir denn nur an die Macht des bösen Beispiels glauben, wird nicht stillschweigend das leuchtende Auge des Einzelnen, der wieder von dem Honig der Lehre gekostet, seine Genossen ermunternd Jonathan gleich sagen: רְאוּ נָא אֹרוּ עֵינַי כִּי טָעַמְתִּי מְעַט דְּבַשׁ הַזֶּה. „Seht nur wie mir die Augen leuchten nachdem ich nur dieses Wenige des Honigs gekostet!“[20] und sie zu gleichem Versuche laden?

Und dem jüdischen Mann das jüdische Weib, dem Elkana seine Channa zur Seite! Meint ihr, dass Samuels Geist also seinem Volk vorangeleuchtet, wenn ihn nur ein Elkana gezeugt und nicht auch eine Channa ihn an ihren Brüsten genährt? Und könnt ihr darüber in Zweifel bleiben, welche jüdische Geistesbildung des echten jüdischen Weibes Anteil sein sollte, wenn ihr Channas Gebet, die Perle gelesen, mit welcher ein jüdisches Weib die Schatzkammern des jüdischen Geistes bereichert? — — —

Und was ferner die jüdischen Einzelnen vermöchten? Elkana und Channa gleich Mizwot, die jüdischen Pflichten erfüllen.

Siehe, wenn Elkana und Channa in Zeiten allgemeiner Gleichgültigkeit ihre Mizwa aus Gewissenhaftigkeit erfüllt hätten um ihrer Pflicht zu genügen; aber weil sie so allein mit ihrer Mizwa standen, so isoliert, so „veraltet“, so unmodern und modewidrig mit ihrer Gesinnung und Richtung waren, hätten sie sie still und zurückgezogen geübt, um nicht „aufzufallen“, „um keinen Anstoß zu geben“, um — nicht ausgelacht zu werden, sie hätten vor Gott als gesetzestreue Juden gelebt, hätten sich aber geschämt vor Menschen also zu erscheinen; nie und nimmer wären sie die Wiedererwecker der Gottesbegeisterung in Israel geworden, sie hätten vielleicht ihrer Einzelpflicht vor Gott genügt, aber für ihre Gesamtheit wäre ihr Wirken verloren gewesen.

Und wiederum hätten sie ihre Mizwa ohne Scheu vor aller Augen geübt, aber sie hätten sie also geübt, dass darin ihre Freudigkeit, ihre Hingebung, ihre Begeisterung, das ganze Herrliche, Beseligende der Mizwa nicht zu Tage getreten wäre; — oder es wäre außer der Mizwaerfüllung ihre Persönlichkeit keine würdige, keine im sozialen Kreis ihrer Zeitgenossen geachtete gewesen; ihre Treue hätte keine Treue geweckt und ihr Beispiel wäre ohne Nacheiferung geblieben.

Nun aber erzählt uns der Midrasch[21], Elkana sei [22] מִן הָרָמָתַיִם צוֹפִים, habe als Koraide[23] zu jenen gehört, die בְּרוֹמוֹ שֶׁל עוֹלָם, die auf der lichtigen Höhe der Zeit gestanden,  מִתַּלְמִידֵי נְבִיאֶיהָ in der Schule der schauenden Propheten gebildet, sei [24]אֶפְרָתִי gewesen, פַּלְטִיאֵנִי, מוּכְתָר בְּנִימוּס , von „feiner“ Bildung, ausgezeichnet an Sitte, und wenn er dann hinaufzog, zog er nicht allein, Frau und Kinder Familie und Verwandte nahm er mit sich, und sie versammelten sich auf dem freiesten Markt der Stadt, also dass es die Stadt erfuhr, und wenn man sie dann fragte wohin sie gingen, dann pflegte er wohl zu erwidern: zum Gotteshause in Schilo, von wo die Thora ausgeht und die Mizwot, und ihr, warum wolltet ihr nicht mit uns gehen, wir könnten zusammen reisen? Und das sagte er ihnen so, dass ihnen die Tränen in die Augen traten und sie sich zur Mitreise entschlossen. Im nächsten Jahr zogen schon fünf Familien mit, im folgenden zehn, bis sie alle mit hinauf wanderten. Jedes Jahr aber wanderte er auf einem anderen Weg hinauf bis man endlich von überall her wieder zum Heiligtum wanderte. Gott aber sprach zu Elkana, du hast Israel wieder zur Pflichttreue gebracht, hast sie zur Erfüllung von Mizwot herangewöhnt und so viele verdanken dir ihre Lebensreinheit wieder, darum schenke ich dir einen Sohn, der Israel zur Pflichttreue bringen, und sie zur Erfüllung der Mizwot heranerziehen wird. Lerne hieraus, dass Elkanas Verdienst wir Samuel verdanken, [25] הָא לָמַדְתָּ שֶׁבִּשְׂכַר אֶלְקָנָה שְׁמוּאֵל!

Wie viel, wie unendlich viel hätten wir hieraus zu lernen! Wenn es eine Zeit gab, in welcher das: [26]  הִתְנָאֶה לְפָנָיו בְּמִצְוֹת, zeige dich schön in der Erfüllung der Mizwot vor Gott, ״וְאָהַבְתָּ אֵת ה׳ אֱלֹהֶיךָ״, שֶׁיְּהֵא שֵׁם שָׁמַיִם מִתְאַהֵב עַל יָדְךָ liebe Gott so, dass sein Name auch bei andern durch dich geliebt werde“[27], zu jedem Einzelnen in Israel gesprochen ist, so ist es heute. Die Zeit ist gekommen in welcher das [28]קִדּוּשׁ הָשֵׁם in seiner vollen ursprünglichen Bedeutung zur Geltung kommen will, nicht nach außen für nichtjüdisches Bewusstsein, sondern nach innen, in eigenem jüdischen Kreis, [29]בְּתוֹךְ בְּנֵי יִשְׂרָאֵל, Gottes Namen zu heiligen, seine und seiner Thora Heiligkeit zur Anerkennung zu bringen. Und welch ein Feld unablässig herrlichen Strebens eröffnet sich dem Einzelnen hier für das Heil der Gesamtheit! Nicht von Konventikeln[30] und nicht von Grabesgeruch duftender inneren Mission ist hier die Rede. Mitten im frischen, lebendigen Leben soll jeder sich selbst die Mission für das große Werk des Judentums auferlegen und nicht durch Traktätlein[31] und zudringliche Predigten, nicht durch [32]מַכַּת פְּרוּשִׁים, nicht durch pharisäischen Heiligenschein und Leichenbittermienen, sondern durch ein frisches, volles, geistig heiter vollendetes jüdisches Leben, rein durchs Beispiel als leuchtenden Sendboten für Gottes heilige Sache sich bewähren. Elkana und Channa gleich sollten wir in allem Guten und Löblichen, in allem Reinen und Wahren auf der lichten Höhe der Zeit erscheinen, mit aller Hingebung als [33] אֶפְרָתִים die Feinheit der Bildung und den Anstand der Sitte erstreben, dass uns auch diejenigen ihre Achtung nicht zu versagen vermögen, die nur diese sozialen Vorzüge zu schätzen wissen. Und so ganz auf der sozialen Höhe der Zeit, im Lichtpunkt der Welt nun mit dem vollendetsten Ernst, mit der freudigsten Begeisterung Jude und Jüdin sein, die ganze Herrlichkeit eines durch und durch den Mizwot geweihten jüdischen Lebens zur Anschauung bringen, zeigen, durchs bescheidenstille, und doch so öffentlich leuchtende Beispiel zeigen, in welcher Schönheit das alte ungeschmälerte Judentum im Bund mit allem Herrlichen und Guten echter Bildung sich vollenden lasse, ja alles Gute und Schöne, alles Wahre und Edle der allgemeinsten humanen Bildung erst im Judentum, im alten, ungeschmälerten Judentum des göttlichen Gesetzes, seinen Gipfel und seine Vollendung finde, und welch eine Wahrheit es sei, dass Harmonie und Schönheit den Inbegriff aller vom jüdischen Gesetz gelehrten Lebensgestaltungen bilden, [34]  דְּרָכֶיהָ דַרְכֵי נֹעַם וְכָל נְתִיבוֹתֶיהָ שָׁלוֹם — wahrlich, mehr als Rabbiner und Predigt wirkt auch noch heute, wie zu Elkanas Tagen, das Beispiel eines gebildeten Juden, einer gebildeten jüdischen Familie, der es genügt, ja die ihren Stolz und ihre Seligkeit darin setzt, Juden zu sein.

Was die Einzelnen ferner vermöchten? Elkana und Channa gleich ihre Kinder fürs Judentum erziehen!

Von Gott sich für Gott Kinder erbeten, sich als „אֵמָתוֹ[35], sich im Dienste Gottes Vater und Mutter fühlen, [36] כָּל הַיָּמִים אֲשֶׁר הָיָה הוּא שָׁאוּל לה‘ , so lange die Kinder uns sind, sie als Gott geliehen, Gott geweiht, Gottes Eigentum betrachten und halten, das ist der Gedanke, der uns jederzeit, der uns vor allem in unserer Zeit unseren Kindern gegenüber beseelen müsste. O, wem Gott heutigen Tages ein Kind geschenkt, den hat Er berufen in diesem Kind ein Werkzeug seines Reiches, einen Streiter seines Kampfes, einen Diener seines Heiligtums zu erziehen,[37]  מִפִּי עוֹלְלִים וְיֹנְקִים יִסַּדְתָּ עֹז, auf den Geist unserer Kinder und Säuglinge hat er die Hoffnung seiner Zukunft und seiner Macht über die Gemüter der Menschen gegründet, in unseren Kindern können wir den Feinden des göttlichen Heiligtums den Sieg abgewinnen, [38]  לְהַשְׁבִּית אוֹיֵב וּמִתְנַקֵּם — Und wenn wir auch unsere Söhne nicht zu dem Hohenpriester in die Hallen des Tempels zu bringen vermögen, wir können sie doch so erziehen, dass ihnen das „Verlöschen der Lampe des Heiligtums[39]“ keinen Schlaf lasse, dass sie die Stimme ihres Herrn und Meisters im Gemüt vernehmen, und sie keine Ruhe finden so lange sie nicht nach ihren Kräften für die Erhaltung des göttlichen Lichtes gewirkt. Und wenn sie auch nicht Samuel gleich in die Reihen der öffentlichen Verkünder des göttlichen Namens zu nennen wären, zu welchem Berufe wir sie auch erziehen mögen, aus jedem Berufe werden sie sich den Beruf herauserkennen und erfüllen, Streiter im göttlichen Heer, Diener des göttlichen Reiches, Förderer der göttlichen Sache zu sein, und wenn auch die Chroniken der Menschen nichts von ihnen erzählen, Gott merkt doch auf ihr Reden und Wirken und schreibt sie ein in das Buch seines Gedächtnisses, als die Seinen, die ihm dienen für die Zeit, in welcher er wieder einen Kern um sich sammelt, וַיַּקְשֵׁב ה‘ וַיִּשְׁמָע וַיִּכָּתֵב סֵפֶר זִכָּרוֹן לְפָנָיו לְיִרְאֵי ה‘ וּלְחֹשְׁבֵי שְׁמוֹ. וְהָיוּ לִי אָמַר ה‘ צְבָאוֹת לַיּוֹם אֲשֶׁר אֲנִי עֹשֶׂה סְגֻלָּה [40]


[1] Das war in der Cheschwan-Ausgabe des Jahre 1854. Zum besseren Verständnis des hier Vorgetragenen siehe Bild. Die ehrwürdige Dame musste also 2 Jahre warten, bis sich ihr das Rätsel auftat.

[2] לַחֲשׁוֹת althebräisch: schweigen

[3] Taanit 10b: AM DRITTEN MARḤEŠVAN [BEGINNT MAN], UM REGEN ZU BITTEN; R. GAMLIÉL SAGT, AM SIEBENTEN DESSELBEN, FÜNFZEHN TAGE NACH DEM HÜTTENFESTE, DAMIT DER LETZTE IN JISRAE͑L (Der das Hüttenfest in Jerusalem feierte u. als letzter die Rückreise nach seiner fernen Heimat antritt) DEN EUPHRAT ERREICHEN KÖNNE. (Übersetzung Rabbiner Lazarus Goldschmidt)

[4] Wikipedia: Als der Tempel in Jerusalem noch stand, wurde an jedem Morgen des Sukkot-Festes ein einzigartiger Gottesdienst abgehalten: das Nisukh HaMayim (wörtlich „Ausgießen des Wassers“) oder die Wasseropferzeremonie. Laut Talmud ist Sukkot die Zeit des Jahres, in der Gott die Welt nach Niederschlag richtet; daher ruft diese Zeremonie,  … , Gottes Segen für Regen zur rechten Zeit herbei. Laut Mischna wurde das Wasser für die Trankopferzeremonie aus dem Teich Siloah in der Stadt Davids geschöpft und die Jerusalemer Pilgerstraße hinauf zum Tempel gebracht.

Danach versammelten sich jeden Abend Zehntausende Zuschauer im äußeren Tempelhof, um Simchat Beit HaShoeivah (Freude am Ort der Wasserschöpfung) zu sehen, während die frommsten Mitglieder der Gemeinde tanzten und Loblieder auf Gott sangen. Die Tänzer trugen brennende Fackeln und wurden von den Harfen, Leiern, Zimbeln und Trompeten der Leviten begleitet. Laut der Mischna „hat derjenige, der die Freude am Ort der Wasserschöpfung nicht gesehen hat, in seinem Leben noch nie Freude gesehen.“ Während Sukkot wimmelte es in der Stadt Jerusalem von jüdischen Familien, die zu dieser Pilgerfahrt kamen und sich zum Festmahl und zum Studium der Tora trafen. Zu diesem Anlass wurde eine Trennwand zwischen Männern und Frauen errichtet.

[5] Exodus 6:9; Mosche sprach also zu Jisraels Söhnen, sie hörten aber nicht auf Mosche, vor Geisteskürze und vor hartem Dienst. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[6] Einsetzung in ein Amt

[7] Deuteronomium 27:26

[8] Nach der Einnahme des Landes durch Joschua wurde die Bundeslade in Schilo aufbewahrt — so das zu den Walfahrtfeiertagen die Juden nach Schilo pilgerten.

[9] 1. Samuel 1 u. 2

[10] מַשָּא וּמַתָּן = geschäftl. Verhandlung

[11] Schabbat 31a

[12] Jüdischer Kaufmann in Shakespieres „Der Kaufmann von Venedig“

[13] Die fünf Bücher Moses

[14] Wikipedia: Ze’enah ure’enah (hebräisch צְאֶנָה וּרְאֶינָה) ist eine gegen Ende des 16. Jahrhunderts erschienene altjiddische Paraphrase zur Tora, den fünf Megillot (die Bücher Hohes Lied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester) und den Haftarot (zum Wochenabschnitt der Toralesung gehöriger Abschnitt aus den Neviim (Propheten)), verfasst von Jakob ben Isaak Aschkenasi aus Janów bei Lublin. Das Werk, benannt nach Schir ha-Schirim (Hohelied) 3,11: Ze’enah ure’enah benot Zijjon („… kommt heraus und seht, ihr Töchter Zions …“), schöpft seine Erzählungen nicht nur aus den verschiedenen Midraschim, sondern auch aus Kommentaren, wie den „Toledot Jitzchaq“.

[15] Wikipedia: Menorat ha-Maor (Leuchter des Leuchtens) ist der Name zweier jüdischer Schriften aus dem 14. Jahrhundert.

Isaac I. Aboab verfasste ein volkstümliches Kompendium der talmudischen Ethik. Von Israel Ibn al-Naqawa stammt eine unbekanntere Fassung mit einer Darstellung der jüdischen Ethik in 20 Kapiteln.

[16] Techinnot; Techinna »Bittgebet«: Frauengebete in jiddischer Sprache.

[17] ein Ungebildeter

[18] der sich Zeiten fürs Lernen festlegt

[19] die Zeit des Thoralernens

[20] 1. Samuel 14:29

[21] Yalkut Shimoni

[22] 1. Samuel 1:1 וַיְהִי֩ אִ֨ישׁ אֶחָ֜ד מִן־הָרָמָתַ֛יִם צוֹפִ֖ים מֵהַ֣ר אֶפְרָ֑יִם וּשְׁמ֡וֹ אֶ֠לְקָנָ֠ה בֶּן־יְרֹחָ֧ם בֶּן־אֱלִיה֛וּא בֶּן־תֹּ֥חוּ בֶן־צ֖וּף אֶפְרָתִֽי׃

[23] Nachfahre von Korach, den die Erde im Streit mit Moses verschluckte

[24] Rabbiner Hirsch erklärt schon in 1.Moses 49:22 die Abstammung des Wortes אֶפְרָתִֽי als einen „hoffähig, durch Sitte geadelten“ Menschen, und nicht etwa einen aus Efrat stammenden.

[25] Yalkut Shimoni

[26] Sukka 11b:13

[27] Joma 86a:12

[28] die Heiligung Gottes

[29] unter den Nachfahren Israels (Jakobs)

[30]  heimliche Vereinigung weniger Gleichgesinnter

[31] Abhandlungen

[32] „Pharisäerschläge“

[33] Siehe w.v. Fußnote 24

[34] Sprüche 3:17; Ihre Wege sind Wege der Lieblichkeit, alle ihre Pfade Frieden. (Siddur  Sefat Emet, Übersetzung Rabbiner Bamberger)

[35] Seine Wahrheit

[36] 1. Samuel 1:28; … all die Tage, die er lebt, ist er dem Herrn geweiht. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[37] Psalm 8:3; Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast Du (damit) eine unwiderstehliche Macht gegründet. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[38] Psalm 8:3; Feind und Selbsträcher endlich enden zu lassen. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[39] 1. Samuel 3:3

[40] Melachi 3:16 u.17; Gott hat es gehört und zur Kenntnis genommen, und auf Gottes Geheiß wurde eine Erinnerungsrolle für diejenigen geschrieben, die Gott verehren und den heiligen Namen ehren. Und an dem Tag, den ich vorbereite, sprach der Gott der Heerscharen, werden sie mein kostbarster Besitz sein.

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