Am 27. Tewet jährt sich der Todestag von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l. Über die Bedeutung dieses außergewöhnlichen Menschen für die deutsch-jüdische Orthodoxie ist viel gesprochen und bekannt geworden. Hier seine Verdienste nochmals aufzuzeigen wäre reine Zeitverschwendung, da sein Wirken, seine Schriften und seine Mahnungen weit über Deutschland hinaus fest mit der orthodoxen jüdischen Welt verbunden sind.
Es ist vor allem dem Verlag Morascha in Basel, der sich 1980 gründete, und hier der Familie Selig, zu verdanken, dass nach dem Krieg die Schriften Rabbiner Hirsch s“l wieder neu aufgelegt werden. Das Problem, dass die Schriften Rabbiner Hirschs in der heute nicht mehr geläufigen Fraktur-Schrift[1] gedruckt wurden, machte es vielen interessierten Lesern, besonders den nicht deutschen Muttersprachlern, unmöglich seine Bücher und Schriften im Original zu lesen. Die Fraktur-Schrift wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhundert durch das heutige lateinische Schriftsystem abgelöst.
1908, zum 100. Geburtstag Rabbiner Hirschs s“l wurde von der Zeitschrift „Der Israelit“ eine Jubiläumsausgabe herausgegeben. Der Verlag Morascha hat in dem Buch „Jeschurun, Samson Raphael Hirsch, Aufsätze zu seinem Leben und zu seinen Werken“ diesen Sonderdruck mit aufgenommen.
Am Ende dieser Jubiläumsschrift ist ein Gedicht von Hermann Schwab[2] veröffentlicht, der als Kind wohl Rabbiner Hirsch zu Jom Kippur in der Synagoge erleben durfte. Anlässlich der Herausgabe der Festschrift zum 100. Geburtstag wurde dann dieses Gedicht veröffentlicht. Das Gedicht erinnert an das letzte Jom Kippur Fest vor seinem Tode. In der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, die auch über eine riesige Judaika-Abteilung verfügt, habe ich diese Jubiläumsausgabe des „Israelit“ gefunden. Dem Gedicht wurde, wie Sie der Abbildung w. u. entnehmen können, eine handschriftliche Anmerkung hinzugefügt. Aus dieser Anmerkung geht hervor, dass der Drucker der Zeitschrift hier wohl einen Fehler gemacht hat und drei Zeilen des Gedichtes ausgelassen hat, die hier handschriftlich nachgetragen wurden. Auch in dem o. e. Buch des Morascha-Verlages fehlen diese Zeilen.
Ich gebe hier das Gedicht mit den ausgelassenen Zeilen, so gut ich sie entziffern konnte, wieder:
Die letzte Predigt
Des Abends Dümmer zieh´n mit leisem Rauschen
Durch´s Gotteshaus zu der Nëilohzeit,
Rings tiefes Schweigen atemloses Lauschen
Dem Meister rückt die Kanzel nun bereit.
Jetzt steht er oben – seine Augen schauen
In milder Klarheit, wie in fernes Land,
Den Sternen gleich, die an dem Himmel blauen,
Der ew´gen Heimat, die uns unbekannt.
Es rührt sein Geist ihr Tor – Minuten schwinden
Jetzt wird besiegelt dort auch sein Geschick,
Durch Engelreihen geht ein froh verkünden:
„Nach achtzig Jahren kehrt er uns zurück.“
Er ahnt es nicht – in seinen Augen sprühet
Der ew´gen Jugend ungebroch´ne Kraft,
In seinem Herzen heilig Feuer glühet
In seiner Rede ed´le Leidenschaft;
Die Arme streckt er aus und ruft es nieder
„….. dann sprechet אמן meine Brüder.
Das letzte אמן sprecht´s durch´s ganze Jahr.
O sprecht es aus, so wie es jetzt erklungen,
So dankerfüllt und freudevoll verschönt,
Sprecht´s immer aus, wenn ihr Euch selbst bezwungen
Und Eures Herzens Widerstreit versöhnt.
Sprecht´s aus, Ihr Brüder, wenn auch längst entschwunden
Die Weihestimmung, die uns heut erfüllt,
wenn aus Jaum Kipurs hehren Feierstunden
Auch nicht mehr tiefer Friede uns entquillt;
Sprecht´s aus und sehet da, es wird erstehen
Der heil´ge Tag in hoher Majestät,
Sein Fittich wird um Eure Schläfen wehen,
Wie leise jetzt der Tag zu Ende geht.“ –
Dann wird es still des Meisters Stimme schweiget,
Durch´s Gotteshaus die שמות Schauer zieh´n,
Der Klang des Schaufors sieghaft aufwärts steiget,
Gefolgt von trauten Alltags Melodien.
Und von dem Fuß der Kanzel, da zum Blicke
Des Meisters er voll Ehrfurcht aufgeseh´n,
Sieht einen kleinen Knaben man zurücke
Zu seinem Platze ernst und sinnend gehen.
Die Jahre wandern und die Zeiten eilen,
Verklungen ist des Meisters letztes Wort,
Doch in des Knaben Herzen wird verweilen
Die wundersame Predigt fort und fort,
Und wenn alljährlich die Nëilostunde
Aus Himmels Höh´n zur Erde kehret wieder,
Glaubt er zu hören seines Meisters Kunde;
Die Arme streckt er aus und ruft es nieder,
Und innig zu der großen Schar:
„….. dann sprechet אמן meine Brüder.
Das letzte אמן sprecht´s durch´s ganze Jahr.“
Seine Urenkelin, Frau Chawa Kruskal, geb. Breuer, beschreibt in ihrem Buch „Im Kampf für Gott, Samson Raphael Hirsch, Sein Leben und Wirken“ dass Rabbiner Hirsch bereits zu Jom Kippur 1888 geschwächt war, dass er trotzdem aber die Kraft aufbrachte Mincha und Nëila vorzubeten. Da nach Nëila noch Zeit bis zum Feiertagsende war, nutze Rabbiner Hirsch die Zeit zu einer Predigt „über das letzte „Amen“ nach dem Kaddischgebet am Ende von Jom Kippur und seine Worte drangen tief in die Herzen seiner Gemeindemitglieder. ….“
„Einmal mehr nahm die „Adass Jeschurun“ das Joch der Herrschaft Gottes willig und reinen Herzens auf sich und mit dem Schofarton kam der hohe Feiertag zu seinem Ende.“ So beschreibt Frau Kruskal den Ausklang des Jom Kippur Tages. Wie sehr diese Predigt die Anwesenden beeindruckt haben muss, beweist das Gedicht, dass fast 20 Jahre später in der Festschrift anlässlich des 100. Geburtstages des Rabbiners im „Israelit“ erschien.
Die Hirschinitiative e.V. plant zur Jahrzeit von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l am 27. Tewet 5785, 27. Januar 2025, eine Gedenkveranstaltung in Frankfurt am Main. Falls Sie Interesse haben teilzunehmen, melden Sie sich bitte an unter: 030 678 00 700
[1] Wikipedia: Die Fraktur (von lateinisch fractura „Bruch“, seit Mitte des 15. Jahrhunderts auch „gebrochene Schrift“) ist eine Schriftart aus der Gruppe der gebrochenen Schriften. Sie war von Mitte des 16. bis Anfang des 20. Jahrhunderts die meistbenutzte Druckschrift im deutschsprachigen Raum.
[2] Wikipedia: Hermann Schwab (geboren 7. April 1879 in Frankfurt am Main; gestorben 1. Juli 1962 in London) war ein deutscher Journalist und Begründer des Mitteldeutschen Presse- und Bilderdienstes. „Zweimal baute sich Schwab eine aussichtsreiche Pressekorrespondenz bzw. einen Bilderdienst aus kleinsten Anfängen auf, erst zerstörte ihm Hitlers Machtergreifung, dann Englands Eintritt in den Zweiten Weltkrieg das mühsam Aufgebaute.“