2.  Ihr „Prinzip“

So steht es um die rabbinischen Autoritäten, die der Verfasser der Broschüre gleich beim Eingang seiner Fahrt invoziert[1]. Wir haben gesehen, er hat sich an die unrechten Schutzgötter gewendet. Sie kehren ihm freundlich den Rücken.

Und wie steht es nun um das Prinzip, das vielgerühmte, welterlösende Heilsprinzip: „Religion im Bunde mit dem Fortschritt?“

Soll es ein Prinzip sein — nicht nur ein leerer Wortschall, eine täuschende Gedankenlarve — soll es ein Prinzip sein, so muss es einen definierbaren Inhalt haben, und so muss es gestattet sein, sich diesen Inhalt zum klaren Bewusstsein zu bringen.

„Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt“ — offenbar ist hier der Zusatz: „im Bunde mit dem Fortschritt“ als Korrektiv der Religion gedacht, ja darin liegt der Nerv des Ganzen, nicht die Religion allein, sondern die Religion dann, wann und insofern und insoweit sie mit dem Fortschritt besteht, man mit ihr keinem Fortschritt entsagen muss. Also die Religion nicht unbedingt, ihre Anforderungen nicht absolut gültig. Ihre Geltung ist abhängig von dem Plazet[2] des „Fortschrittes“. Wer ist diese höhere Instanz, an welche zuvor „die Religion“ appellieren müsse, um Einlass zu erhalten? Wer ist dieser „Fortschritt“? Offenbar wiederum nicht ein Fortschritt im Gebiet der Religion, sonst hieße es ja, die Religion im Bunde mit sich selbst — ein Unding — vielmehr ein Fortschritt in einem anderen Gebiet, und so absolut dahin gestellt, sogar Fortschritt in jedem anderen Gebiet, zu deutsch also: Die Religion, so lange sie einen Fortschritt nicht hindert, die Religion, so lange sie nicht hinderlich, lästig, unbequem wird — weiß der Verfasser was das heißt: Kol hammeschatef schem schamajim wedabar achar neekar min haolam[3]? „Religion, heißt es, im Bunde mit dem Fortschritt.“

Denn, mache die Religion von welch‘ anderen Momenten abhängig, ordne sie irgend anderen Momenten unter, bedinge ihre Geltung durch ein anderes Moment — und du hast die Religion selbst geleugnet.

Wie? die Religion, also hier die jüdische Religion, die Thora, das Judentum wäre dir in Wahrheit: Gotteswort, Gotteswille, Gottes ausgesprochenes Gesetz — und du wagst es deinem Gott, seinem Wort, seinem Willen, seinem Gesetz noch ein anderes überzuordnen? wolltest mit deinem Gott, seinem Wort, seinem Willen, seinem Gesetz nur so lange gehen, als du damit auch in anderem fortschreitest? — Gestehe es nur! Nur weil dir „Religion“ nicht Gottes Wort ist, du in deinem Herzen die „Offenbarung leugnest, dir Gottes Wort nur die dem Menschen immanierende[4] Gottesstimme ist, es dir keine Offenbarung an den Menschen, sondern nur eine Offenbarung aus dem Menschen gibt, Religion, dir selbst nichts als Produkt menschlichen Geistes ist, kannst du auch wiederum den Menschen selber als Korrektor seines eigenen Werkes, den Menschen als Regulator seines eigenen Regulativs, Religion nur als Vehikel ganz anderer menschlichen Bestrebungen dahin stellen.

 „Religion im Bunde mit dem Fortschritt!“ wisst Ihr was das heißt? Tugend im Bunde mit dem Genuss, Redlichkeit im Bunde mit dem Fortkommen, Wahrhaftigkeit im Bunde mit dem Glück — Religion und Sittlichkeit heißt es, die auch im Bagno[5] und in der Spelunke gepredigt wird, Preisgeben heißt es Religion und Sittlichkeit dem jedesmaligen Ermessen eines jeden Menschen. Was ihm sein Lebenszweck dünkt, worin und wohin er fortschreiten will, das sei ihm das Höchste, und von der Religion nehme er nur so viel mit, als ihm zu seinem „Fortschritt“ nicht hinderlich ist, als ihm zu seinem Fortschritt dient, als sich mit seinem Fortschritt verträgt. Die alte Kardinalsünde ist es, die der alte Moses als das „zufällige Wandeln mit Gott“[6] bezeichnet.

Zivilisation und Bildung! Herrliche, unveräußerliche Güter der Menschheit! dass alles Herrliche und Gute und Wahre, was nur menschlichem Denken und menschlichem Wollen erreichbar, Gemeingut aller Menschen werde und sich das ganze Dasein aller Menschen also gestalte, dass überall das Menschenwürdige hervorleuchte — wen ließen sie kalt! Aber nun die Religion, die eben die Mutter und der Vater aller Zivilisation und Bildung sein soll, nehmen und sie vom Fortschritt in der Zivilisation und Bildung abhängig machen, heißt die Religion, die du so eben als Gottes Wort preist, selbst erst in den Schmelztiegel der Zivilisation werfen, heißt: die Wurzel in Blüte verkehren, heißt: was Grund und Eckstein sein soll, nur als Ornament am vollendeten Giebel des Menschenbaues gelten lassen wollen.

Ob wir das Prinzip auch recht verstanden? Ob wir in den gezogenen Konsequenzen ihm nicht zu nahe getan? Sehen wir´s in konkreter Wirklichkeit an.

Das Buch der jüdischen Religion, das nur im Bunde mit dem Fortschritt gelten soll, spricht scharf und klar ihre Anforderungen aus, z. B:

„Du und deine Nachkommen bewahret mein Bündnis für alle eure Geschlechter zum ewigen Bunde, acht Tage alt soll jeder deiner Söhne beschnitten werden und das sei mein Bündnis an eurem Leibe zum ewigen Bunde! wer die Beschneidung unterlässt, wird vernichtet aus seines Volkes Reihen, mein Bündnis hat er zerstört,“ spricht die Religion[7].

Die Mutter, eine Dame des Fortschrittes, spricht: welch‘ Barbarei, ein neugeborenes Kind zu verwunden! und ist humaner gegen ihr Kind, als Gott, der Schöpfer, dem sie das Kind verdankt.

Der Vater, ein Mann des Fortschrittes spricht: Die Zivilisation will Verschmelzung aller Menschenrassen und verträgt nicht mehr solche sondernde Abzeichen, und ist weiser und des Menschenziels bewusster, als Gott, der Schöpfer und Gründer der Menschheitsentwicklung, der doch in seiner Weisheit, obgleich Er selber die künftige Einigung aller Menschengeschlechter als Ziel aller Zeitentwicklung enthüllt, doch es in seiner Weisheit für gut gefunden, ein Volk, eben als Vehikel dieser Einigung auszusondern.

Vater und Mutter spricht´s, die Religion muss schweigen, — und der Diener der Religion[8] spricht mit himmelgewandtem Auge seinen Segen dazu.

„Für alle ihre Geschlechter zum ewigen Bunde sollen Israels Söhne den Sabbath halten[9]“, „der 7te Tag ist Sabbath dem Herrn deinem Gotte, keinerlei Arbeit darfst du dann verrichten.[10]“ „Ihr sollt kein Feuer anzünden am Sabbath-Tage[11]“, so das Buch der Religion.

Aber der „Fortschritt“ spricht: will man den Sabbath halten, muss man so manchem Gewerbe, so manchem Industriezweig, so manchem Geschäft, so manchem Beruf entsagen, die Zivilisation mit ihren gesteigerten Kommunikations- und Verkehrsmitteln duldet nicht das Rasten eines ganzen Tages von sieben; — auch der brennende Tabakstengel gehört zur Zivilisation; — die Zivilisation fordert’s, der Fortschritt gebietet’s, der Sabbath fällt, der Fortschritt siegt — — und der Diener der Religion drückt den Weihestempel auf eine Sabbathfeier ohne Sabbathruhe, weiht mit Orgelklang den geschändeten Sabbath ein, und wirft, was die Religion als ewige Norm gegeben, dem Elefantenfuß des Fortschritts als vergängliche Form zum Zertreten hin.

Nicht nur eure Geister, auch eure Leiber sind mein, spricht die jüdische Religion, eure Nahrung regle ich, eure Triebbefriedigung leite ich, haltet euch rein in allem, und mit allem, wie Ich’s euch lehre, damit ihr nicht unrein werdet und meinem heiligen Dienst heilig bleiben könnt — und wird nicht müde mit dem ernstesten Ernst vor jeder Übertretung der Speise- und Keuschheitsgesetze zu warnen, und spricht, wie im Hinblick auf die „fortschreitende“ Zeit: ewiges Gesetz bleibt es für alle eure Nachkommen in allen euren Wohnplätzen: esset kein Unschlitt und kein Blut!

Aber der Mann des Fortschrittes lächelt und spricht, wie kann ich fortschreiten, auf Reisen, in Gasthäusern, in Gesellschaften mich bewegen, wenn ich die jüdischen Speisegesetze halten müsste, der Fortschritt forderts, die Religion muss schweigen, und der Diener der Religion im Bunde mit dem Fortschritt spricht: fahrt nur fürs erste so fort, ich und meine Kollegen werden’s schon nachträglich legalisieren.

Schlagt das Buch der Bücher, schlagt die Thora auf, was bleibt übrig von den Geboten und Verboten eures Gottes, über das eure Religion im Bunde mit dem Fortschritt nicht fortschreitet? Die Sittengesetze? Meint Ihr? Ihr dispensiert eure Kinder vom 4ten Gebot[12] im Namen eures Fortschrittes; vom 5ten[13] und 7ten[14], werden sie sich im Namen dessen, was sie Fortschritt nennen, selber dispensieren. Warum sollten sie auch nicht? Wie sollten sie es euch nicht abmerken[15], dass es mit der Göttlichkeit dieses ganzen Gesetzes, das ihr so willkürlich abrogiert[16], euch gar nicht Ernst ist, gar nicht Ernst sein kann! Und spricht nicht aus ihnen derselbe Gott, der in eurer Brust wohnt, warum sollen sie nicht ihrem Urteil, ihrem Geschmack folgen, wenn ihr dem eurigen Folge leistet! Sie folgen ja euch nur, wenn sie das nur von der ganzen Religion, auch von dem, was ihr sie als Religion lehrt, halten, was sie in ihrem Fortschreiten zu ihrem Ziel nicht hindert. Der Erste, der die Religion im Bunde mit dem Fortschritt lehrte, hat von vornherein die Göttlichkeit der ganzen Religion geleugnet.

3. Unser Prinzip

Und nun wir? was wollen wir? gibt’s in der Tat nur die Alternative: entweder der Religion, oder jeglichem Fortschritt in allem zu entsagen, was die Zivilisation und Bildung der Menschheit Herrliches und Wahres und Edles und Schönes bietet? Ist die jüdische Religion in der Tat eine solche, dass ihre treuen Bekenner, Feinde der Zivilisation und Bildung sein müssen?

Ist es eine Wahrheit, dass wir Feinde und Gegner der Zivilisation und Bildung sind, dass unsere Synagoge und Schule im Bunde mit dem Rückschritt bleiben und wir dafür sorgen, dass die Israeliten sich in künftigen Zeiten wieder derselben Bildung und Gesittung, wie derselben Achtung erfreuen werden, die ihnen in früheren Jahrhunderten zu Teil ward?

Im Angesicht des Himmels und der Erde bekennen wir: Forderte unsere Religion die Entsagung dessen, was man Zivilisation und Bildung nennt, ohne Bedenken wären wir dazu bereit, eben weil uns unsere Religion Religion, weil sie uns Gottes Wort ist, und Gottes Wort gegenüber jede andere Rücksicht schweigen müsste.

Und wiederum im Angesichte des Himmels und der Erde bekennen wir es. Lieber möchten wir uns ein Leben lang als Toren schelten lassen, lieber auf allen Glanz und alle Herrlichkeit der Bildung und Zivilisation verzichten, als je einer solchen eingebildeten Afterbildung[17] teilhaftig geworden sein, wie hier der Präkone[18] der mit der Zivilisation verbündeten Religion an den Tag legt.

Wollt ihr sehen, wohin die Religion im Bunde mit dem Fortschritt führt? Wollt ihr sehen, wie sie aller Pietät, aller Menschlichkeit entkleidet und den thora-kritisierenden Geist in übermütigem Dünkel zum wahnwitzigen Toren blendet?

Seht hier einen Koryphäen dieser Fortschrittsreligion, seht, wie er auf den Särgen eurer Väter seine Jubeltänze aufführt, wie er die Leichen eurer Väter aus ihren Gräbern holt, ihnen ins Angesicht speit, sie zum Piedestal[19] seines Ruhmes zusammentürmt, und von ihm herab euch zuruft: „Eure Väter waren roh und ungesittet, und haben die Verachtung verdient, die ihnen zu Teil ward, folgt mir, auf dass ihr sittlich werdet und Achtung verdient!!“

Solcher elternschändende Wahnwitz blüht am Erkenntnisbaum dieser mit dem Fortschritt verbundenen Religion!

Hätten wir nur die Wahl zwischen solchem Wahnwitz und Unwissenheit, wiederum sprächen wir: „Besser unwissend unser Leben lang als so gottlos gelehrt einen Augenblick vor Gott.“

Ist es aber an dem? Der wahren Zivilisation und Bildung, war das Judentum nie fremd, fast zu jeder Zeit standen seine Bekenner auf der Höhe der Zeitbildung, ja, überflügelten ihre Zeitgenossen sehr oft. Und wenn in den letzten Jahrhunderten die deutschen Juden der europäischen Bildung mehr und minder fremd geblieben[20], so war daran nicht ihre Religion, so war der Zwang, die Tyrannei von außen daran Schuld, die sie gewaltsam in die Gassen ihrer Ghettos zwang und ihnen den Zutritt zu dem Weltverkehr versagte. Doch heute können sich unsere Söhne und Töchter kühn mit den Söhnen und Töchtern der von ihrer väterlichen Religion um des vermeintlichen Fortschrittes willen abgefallenen Familien im Schmuck der Sittlichkeit und Bildung messen, brauchen das Licht der Welt und das prüfende Auge der Zeitgenossen nicht zu scheuen, büßen nichts ein an wahrer humaner Bildung und Gesittung, wenn sie auch nicht am Sabbath ihre Zigarre rauchen, wenn sie auch nicht die Tafelfreuden ihnen von Gott verbotener Speisen teilen, wenn sie auch nicht um des Gewinnes und des Genusses willen den Sabbath schänden.

Ja wir sind sogar so kurzsichtig zu glauben, dass der Jude, der standhaft bleibt mitten unter den verlockenden und verhöhnenden Stimmen leichtsinniger Zeitgenossen, der stark genug bleibt, seinem Gott und dessen heiligem Willen das Opfer des Gewinnes, der Neigung, des Menschenbeifalls und der Menschenehre zu bringen, eine weit sittlichere Kraft, und darin eben eine weit wahrhaft menschenwürdige Bildung entfalte, als der leichtsinnige Sohn des jüdischen Jahrhunderts, dessen Grund-sätze an dem ersten Basiliskenblick[21] des Spottes, oder an dem ersten Glanz verlockenden Gewinnes schmelzen, und der Gott und seinem heiligen Wort und der Sitte der Väter untreu wird, um dem Kitzel eines Augenblickes zu genügen.

Und unsere Schule[22]? Nur ein Verleumder kann es zu behaupten wagen, dass sie eine dem Rückschritt, der Unkultur und der Bildungslosigkeit geweihte Anstalt sei. Ihre Lehrer können sich kühn in jeglichem pädagogischen und allgemeinen Wissen mit den Lehrern der gepriesensten hiesigen Schule messen, und es tut ihrer Gelehrsamkeit, Bildung und Tüchtigkeit keinen Eintrag, dass sie zugleich tüchtige Kenntnis der jüdischen Wissenschaft haben und die Anhänglichkeit unserer Religionsgesellschaft an die väterliche Religion mit treuer Hingebung teilen.

In ihrem Lehrplan wird die volle Bildung auf ganzer Höhe der Zeit erstrebt, wie sie nur der Stufe einer jeden höheren Bürgerschule entsprechend ist, und es steht diesem Ziel keineswegs hindernd im Wege, dass gleichzeitig eine tüchtige jüdisch religiöse Bildung gepflegt wird. Wie wacker aber Lehrplan und Lehrer und Schüler sich bewährt, davon hat bereits die öffentliche Prüfung das sprechendste Zeugnis abgelegt und glänzend dargetan, dass man eben kein Idiot im altjüdischen Wissen zu sein braucht, um mit dem von unjüdischer Anstalt erreichten Schulziel nach allseitiger Anerkennung wetteifern zu können.

Wenn demnach Zivilisation und Bildung auch in unseren Bestrebungen als gewissenhaft zu pflegendes Moment hervortritt, wenn wir mit der Devise unserer Gesellschaft: „Jafeh Talmud Thora im Derech Erez,[23]“ dieses unzweideutig bekundet, und damit eben nur dieselbe Grundlage gelegt, die auch unsere weisen Altvordern normgebend ausgesprochen, was wollen wir demnach, und was scheidet uns noch von den Bekennern „der Religion im Bunde mit dem Fortschritt“?

Eine ganze Kleinigkeit.

Sie wollen die Religion im Bunde mit dem Fortschritt — und wir haben gesehen, wie dieses Prinzip von vornherein die göttliche Wahrhaftigkeit dessen, was sie Religion nennen, negiert — wir aber wollen den Fortschritt im Bunde mit der Religion.

Ihnen ist der Fortschritt das Absolute und die Religion das dadurch Bedingte. Uns ist die Religion das Absolute und der Fortschritt das durch sie Bedingte.

Ihnen gilt die Religion nur, insofern sie mit dem Fortschritt besteht. Uns gilt der Fortschritt nur insofern er mit der Religion besteht.

Das ist der ganze Unterschied. Aber in diesem Unterschied gähnt die Kluft.

Das uns von den Vätern überkommene Judentum ist uns eine Gottesstiftung, Gottes Wort, Gottes unantastbares, keinem menschlichen Urteil zu unterwerfendes, keiner menschlichen Rücksicht unterzuordnendes Heiligtum. Es ist das von Gott für alle Geschlechter des Hauses Jakobs hoch aufgestellte, noch niemals erreichte, in aller Zukunft anzustrebende Ideal. Es ist der große Bau, für den mit allen Kräften und Mitteln in allen Zeiten und Lagen zu leben und zu sterben, jeder Jude und jede Jüdin geboren wird. Es ist die große Gottesoffenbarung, aus welcher alle unsere Empfindungen ihre Wärme, alle unsere Entschlüsse ihre Billigung, alle unsere Handlungen Kraft und Halt, Boden und Richtschnur zu finden haben.

Alle Vergleiche hinken. Das Judentum ist keine Religion, und die Synagoge ist keine Kirche, und der Rabbiner ist kein Priester. Das Judentum ist kein Zubehör zum Leben, Jude sein, ist kein Teil der Lebensaufgabe, Judentum umfasst das ganze Leben, Jude sein ist die Summe unserer Lebensaufgabe, in der Kirche und der Küche, auf dem Acker und im Gewölbe, im Büro und auf der Kanzel, als Vater und Mutter, als Sohn und Tochter, als Diener und Meister, als Mensch, als Bürger, mit Gedanken und Gefühlen, mit Worten und mit Taten, mit Genuss und Entbehrung, mit der Nadel und dem Grabstichel, mit der Feder und dem Meißel Jude sein, — ein ganzes vom Gottesgedanken getragenes, dem Willen Gottes gemäß vollendetes Leben — das heißt Judentum.

Toren darum ihr, die ihr meint, oder zu meinen vorgebt, eine Gebetsformel so oder so gefasst, eine Melodie so oder so gewendet, eine Andachtsstunde so oder so programmiert, bilde zwischen uns die Kluft. Nicht der sogenannte Gottesdienst, die Kanzel und die Schule scheiden uns, die Predigt, die Lehre, „das Prinzip,“ wie ihr es nennt, dass das Judentum, von Gott, dem Stifter, zum Beherrscher des ganzen Lebens bestimmt, in einen Feiertagswinkel wirft, und den jüdischen, ihrer göttlichen Bestimmung abgewandten Seelen, mit dem Bewusstsein ihrer Schuld, auch die letzte Hoffnung möglicher Umkehr raubt.

Je mehr aber das Judentum auf den ganzen Menschen rechnet, und in seiner ausgesprochenen Bestimmung das Heil der ganzen Menschheit umspannt, umso weniger lassen sich seine Anschauungen auf die vier Ellen einer Klause[24] und einer Behausung bannen. Je mehr der Jude Jude ist, um so universeller werden seine Anschauungen und seine Bestrebungen sein, umso weniger fremd wird ihm irgendetwas bleiben, was nur Edles und Gutes, Wahres und Rechtschaffenes, in Kunst und Wissenschaft, in Zivilisation und Bildung zu Tage tritt, um so freudiger wird er alles begrüßen, wo und wann immer er im Kreise der Menschen die Wahrheit und das Recht und den Frieden und die Veredlung der Menschen leben gestaltend hervortreten sieht, um so freudiger endlich selbst jede Gelegenheit ergreifen, nun in neuen, noch nicht betretenen Bahnen seine Sendung als Jude, die Aufgabe seines Judentums zu bewähren, um so freudiger sich selbst jedem wahrhaften Fortschritt in Zivilisation und Bildung hingeben — sobald er nur in diesem neuen Stadium sein Judentum nicht nur nicht zu opfern, sondern nur in noch herrlicher Fülle zu lösen haben wird.

Er wird stets den Fortschritt wollen, aber nur im Bunde mit der Religion.

Was er nicht als Jude kann, das wird er auch nicht wollen, das ist für ihn nicht da.

Ein Schritt, der ihn vom Judentum entfernt, ist ihm kein Fortschritt. Und schmerzlos übt er solche Selbstbeherrschung; will er ja nicht seinen Willen auf Erden erfüllen, steht er ja im Dienste Gottes; wo seines Gottes Bundeslade ihm voran nicht wandelt, da, weiß er, begleitet ihn auch nicht die Feuersäule Seines Lichtes und die Wolkensäule seiner Gnade.

Und wahrlich, wahrlich, wären nur die meisten Juden, Juden, siebenachtel der Zustände schwänden, die heutigen Tags dem Juden so manche Bahnen des Berufes versperren. Hielten nur alle Juden, die auf Reisen, alle Juden, die im Geschäftsleben sich bewegen, ihre jüdischen Pflichten, das Bedürfnis selbst würde, wie überall, die Abhilfe bringen; seiner Pflichten entsprechende Speisen, fände der Jude überall; die Geschäftsruhe am Sabbath wäre fast kein Opfer, und selbst in den Einrichtungen des Staats- und Bürgerlebens würden die erleuchteten Regierungen und Völker gerne einer Gewissenstreue Rechnung tragen wollen, die nicht eben ein unbedeutender Heilsbeitrag wäre, den ein Bürger seinerseits in den Allverein des Bürgerverbandes zu spenden vermöchte.

Nur die Untreue der Mehrzahl macht die Treue der Minderzahl zu einer so opfervollen Pflicht, der aber ein umso herrlicherer Kranz der Anerkennung winkt, je schmerzhafter eben die Dornen stechen, die eine Bruderhand in unseren Lebenspfad uns streut.

Fortsetzung folgt


[1] Das Herbeirufen falscher Götter

[2] Zustimmung

[3] Sukkot 47b: כׇּל הַמְשַׁתֵּף שֵׁם שָׁמַיִם וְדָבָר אַחֵר נֶעֱקָר מִן הָעוֹלָם wer den Namen Gottes mit einer anderen Sache verbindet, werde aus der Welt entwurzelt (Übersetzung L. Goldschmidt)

[4] anhängen, beinhalten, enthalten, innewohnen, umschließen

[5] Badehaus

[6] Levitikus 26:21; וְאִם־תֵּֽלְכ֤וּ עִמִּי֙ קֶ֔רִי וְלֹ֥א תֹאב֖וּ לִשְׁמֹ֣עַֽ לִ֑י וְיָסַפְתִּ֤י עֲלֵיכֶם֙ מַכָּ֔ה שֶׁ֖בַע כְּחַטֹּאתֵיכֶֽם Und wenn ihr mit mir im Zufall wandelt und euch nicht entschließt, mich zu hören, so füge ich noch einen Schlag auf euch, siebenmal wie eure Sünden. (Übersetzung S.R.Hirsch)

[7] Genesis 17:10-14

[8] der modere liberale „Rabbiner“

[9] Exodus 31:16

[10] Exodus 20:10

[11] Exodus 35:3

[12] Du sollst den Schabbattag heiligen

[13] Du sollst Vater und Mutter ehren

[14] Du sollst nicht stehlen

[15] abkucken

[16] Außer Kraft setzen

[17] Halb-, Pseudobildung

[18] “Lobpreisender“

[19] Wikipedia: höheres Gestell mit schräg nach außenstehenden Beinen, das für Vorführungen (insbesondere mit Tieren) im Zirkus genutzt wird.

[20] Vor allem in den osteuropäischen Ländern

[21] stechender, böser Blick

[22] Gemeint ist hier die von Rabbiner S.R.Hirsch 1853, also gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in Frankfurt, gegründete Realschule. Hier wurde nach seiner Idee von תורה עם דרך ארץ, bis zum Jahre 1933 unterrichtet.

[23] Gut ist der Zusammenfluss von Thora und allgemeiner Bildung

[24] Behausung eines Einsiedlers

  • Beitrags-Kategorie:Artikel