Zu Tischri 5615 (1854) erschien die Zeitschrift „Jeschurun“ von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l zum ersten Mal. Der hier wiedergegebene Artikel ist somit auch der erste, den Rabbiner Hirsch für diese Zeitung veröffentlicht hat. Im Original, das Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2937900 finden, sind interessanterweise die hebräischen Worte transliteral wiedergegen. Ich habe mir erlaubt sie hier durch die hebräischen Vokabeln zu ersetzen und, sofern sie nicht von Rabbiner Hirsch erklärt werden, sie in den Fußnoten zu übersetzen.

Der Monat Tischri ist der siebente Monat im jüdischen Kalender. Im Monat Tischri, dem Herbstmonat, gibt es vier Festtage. Rosch HaSchana — das Neujahrsfest, Jom Kipur — das Versöhnungsfest, Sukkot — das Laubhüttenfest und Azeret — das Abschlußfest. Aber der Frühlingsmonat Nissan ist der erste Monat im jüdischen Kalender. Im Nissan feiern wir das Pessachfest — den Geburtstag des jüdischen Volkes. Auf alle diese Festtage geht Rabbiner Hirsch in diesem Artikel ein.

Wie immer wurde der Text dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Des Juden Katechismus[1] ist sein Kalender. Auf Flügeln der Zeit, die uns durchs Leben tragen, hat Gott die ewigen Worte seiner beseligenden Lehre gegraben, und Tage und Wochen und Monate und Jahre zu Herolden seiner Wahrheiten gemacht. Den scheinbar flüchtigsten Elementen hat Gott die Pflege seiner Heiligtümer anvertraut und hat ihnen damit unverwüstlichere Dauer und unbedingtere Zugänglichkeit gesichert, als Priestermund und Denkmals-Erz und Tempel und Altar es je vermochten. Priester sterben, Denkmäler verwittern, Tempel und Altäre zerfallen, aber die Zeit bleibt ewig und ewig frisch und ewig neu tritt jeder junge Tag aus ihrem Schoß. Nur zu wenigen kann der Priester wandern, Priester und Denkmäler, Tempel und Altäre müssen warten, bis du zu ihnen kommst, — und noch weit mehr bedarfst du ihrer ja, gerade, wenn du nicht zu ihnen kommst, wenn du nicht einmal den Zug zum Heiligtum fühlst, oder die Schranken des Elends dich vereinsamen. Nicht also die Kinder der Zeit. Sie warten nicht bis du zu ihnen kommst; sie kommen zu dir, unangemeldet, unabweisbar zu dir, sie wissen dich zu finden mitten im geschäftigen Markt des Lebens, mitten im rauschenden Gewühl der Freuden, oder in einsamer Kerkerstille, oder auf schmerzreichem Krankenlager, wissen dich zu finden und reichen dir überall das Wort deines Gottes, mahnend und warnend, beseligend, tröstend, — und allgegenwärtig wie die Gottheit, die sie sendet, treten sie zu allen zu gleicher Zeit heran und erfüllen in einem Moment, in Ost und West in Süd und Nord, auf jeder Höhe, in jeder Tiefe des Geschickes und Alters, Millionen in einem Moment mit einem Gefühl und einem Gedanken.

Siehe da den Monat Thischri, diesen „Anfang-,“ und „Löse“-Monat! Welch ein Gottesherold steht in ihm vor dir, und welch eine Fülle von Ernst und von Freude, von Erschütterung und Frieden, von Mahnung und Trost will er dir bringen!

Ein zweifaches Jahr hat der Kalender der Juden, so wie er auch einen zweifachen Tag kennt. Ein Jahr das mit dem Herbst beginnt, und, wie sehr es sich auch durch den Winter zum Frühling und Sommer hindurch ringt, doch wieder mit dem Herbst endet; — und ein Jahr, das mit Frühling anhebt, und wenn auch dem Sommer Herbst und Winter folgen, dennoch wieder zum heiter lachenden, sich neu verjüngenden Frühling hinführt. Und ebenso einen Tag, dessen Anfang die Nacht ist, wie über die Wiege der Schöpfung der Schleier der Nacht gewoben, und der, wie hoffnungsreich auch die Morgenröte dämmert und zum hellstrahlenden Mittag hinführt, dennoch wieder endet mit der Nacht; — und einen Tag, der mit dem Morgen anbricht und zum Mittag steigt und mitten durch die Schatten der Nacht doch sicher wieder zum Morgen geleitet.

Der Nacht-tag, der von Nacht zu Nacht führende Tag, ist der Tag der Erdschöpfung; nach ihm zählst du in allen Räumen alle Zeiten deiner irdischen Wallfahrt. Aber im Tempel deines Gottes, im מִקְדָּשׁ, im Heiligtum, gilt der Licht-tag, der dich von Morgen zu Morgen geleitet; alles beginnt dort mit dem Morgen und alles endet mit dem Morgen.

Das Herbstjahr, das mit Thischri beginnende Jahr, das mit dem Herbst einleitet und mit dem Herbst endigt, ist das Jahr der Erdschöpfung; nach ihm zählst du die Jahre der Welt, die Jahre deiner Welt, deiner Geschäfte, deines Schaltens und Waltens mit den Dingen der Erde. Das Frühlingsjahr, das mit dem Lenzmonat Nissan beginnt und mit dem Lenzmonat endet, ist das Jahr des Judentums, das Jahr der Israel- und Menschheitserlösung; nach ihm zählst du dein jüdisches Leben, deine jüdischen Monate und Feste.

Diese Doppelzählung der Jahre und Tage, siehst du nicht, wie sie der Posaunenruf des Todes und des Lebens, der Vernichtung und der Auferstehung, der Vergänglichkeit und der Ewigkeit ist, wie sie dich ewig wachrufen soll zu dem lebendigen Bewusstsein von deinem Doppelwesen, von dem irdisch Vergänglichen und ewig Göttlichen deiner Natur, von dem irdisch Vergänglichen und dem ewig Göttlichen aller deiner Beziehungen, von dem irdisch Vergänglichen und dem ewig Göttlichen des ganzen Menschheitswesens auf Erden?

Streiche weg aus deinem Leben alles, was dich zum Juden macht, streiche aus dem Leben der Menschheit weg alles, was ihr das Judentum gebracht, alles was dem Judentum entgegenreift, —und wahrlich du zählt von Nacht zu Nacht, und von Nacht zu Nacht zählt mit dir die Geschichte der Menschheit; blütenloser Herbst ist alles Entstehen und zum blütenlosen Herbst welkt alles zum Tode; und wie auch die Sonne der irdischen Hoheit steigt, der Schatten der Nacht hüllt zuletzt doch mit seinem endlichen Schleier alles ein; und wie auch der Baum des irdischen Lebens sich prangend entfaltet, dem üppigsten Sommer folgt der Herbst, die Zeit der Stürme kommt, und entblättert stehts das Prangendste. Was vom Staub geworden wird zum Staub, „auf der Weide des Todes gehen sie alle“ und „Vergänglichkeit“ predigt das Geröll und der Schutt der Zeiten.

Wehe dir, wenn du dich über diese Vergänglichkeit täuschst, wenn du an die Ewigkeit der Jugend, an die Dauer der Blüten, an die Erznatur des Markes, an den Bestand der Hoheit, an die Unverwüstlichkeit des Genusses und der Freuden, an die Sicherheit des Besitzes, an die Ewigkeit irdischer Größen glaubst, ihnen, als deinen ewigen Göttern dich in die Arme wirfst, nachwandelst dem Vergänglichen — und vergehst!“ Wehe dir, wenn du die Thischrizählung deiner Jahre erst am Ende deines Lebens, wenn es zu spät ist, lernst!

Dreimal aber Wehe dir, wenn dich der jüdische Geist nicht die Frühlingszählung deiner irdischen Jahre gelehrt, wenn dir die Erde ein Leichenhaus wird, in welchem dich überall Gräber anstarren, der lauernde Tod über alles das Grauen der Verwesung wirft, und die Heiterkeit die Sünde und der Genuss zum Verbrechen und die Freude eine Torheit wird, und du entmutigt dich zur Erde setzt und mit erstorbenen Blick und mit verkohltem Herzen nur den Seufzer kennst: „Alles, ach alles ist eitel!“

Denn siehe! im jüdischen Geist, im jüdischen Heiligtum ist nichts eitel. Nicht über Gräbern ward das jüdische Heiligtum gebaut, der Tod und die Zeichen des Todes blieben fern aus seinen Räumen. Nicht mit Trauerschmerz waren seine Hallen zu betreten, der Freude ward’s erbaut. Von Morgen zu Morgen zählte man in seinen Kreisen.

Nach Frühlingen zählt der jüdische Geist. Das Frühlingsparadies — nicht erst das jenseitige — setzt er an den Anfang der Menschengeschichte, und das Frühlingsparadies zeigt er als Ziel der Geschichte, um ein Leben auf Erden zu lehren, in welchem nichts vergänglich, in welchem alles ewig, alles vom Hauch ewiger, freudiger Göttlichkeit durchwebt wird, ein Leben auf Erden zu lehren, in welchem selbst Mühe und Arbeit, Trauer und Schmerz sich zu seliger Heiterkeit verklären und der vergänglichste Keim und die flüchtigste Minute, vom ewigen Gottesgeist des Menschen erfasst, als eine ewige Blüte in den Kranz der Vollendung sich fügt, und schon hier auf Erden die Seligkeit blüht und schon hier auf Erden die Ewigkeit tagt und mitten durch Sturm und Nacht einer ewig herrlichen Frühlings- und Tages-Verjüngung entgegenreift — von Morgen zu Morgen, von Frühling zu Frühling zählen und leben zu lehren, das ist die Summe der jüdischen Botschaft des Heiles.

Aber bevor die Seligkeitswahrheit Eingang finden kann, muss die Täuschung geschwunden sein, der Frühlingsbotschaft muss die Herbstposaune vorangeben, die Tischrizählung musst du beherzigt haben, wenn du die Frühlingsjahre zählen und erleben willst; darum tritt dir der Tischri entgegen am Anfang deiner irdischen Wallfahrtsjahre und will die Täuschung vernichten, und den Wahn verscheuchen und will dich lehren, auf von Täuschung und Wahn befreiten irdischen Boden, mitten in der Vergänglichkeit, mit dem Vergänglichen, heiter und selig die Hütte deines Lebens zu bauen.

Zerbrochen lagen einst die Tafelscherben des göttlichen Gesetzes am Sinai; denn es hatten die Väter wahnumnebelt das sichtbare Vergängliche über das ewig Unsichtbare gesetzt, hatten von dem ewigen Schöpfer und Walter ihr Herz der vergänglichen Kreatur zugewandt, hatten die sichtbare Natur im goldenen Kalb vergöttert, und „אֵלֶּה[2] diese sinnlich erkennbare Welt, dieser Kosmos, und seine irdisch waltenden Mächte, sie sind deine Götter Israel! hallte im sinnlichen Rausch der Jubel der tanzenden Chöre. Darum lagen zerbrochen die Tafeln des göttlichen Gesetzes. Denn wo aus der Brust des Menschen geschwunden ist das Bewusstsein seiner eigenen höheren göttlichen Natur, wo ihn dies Bewusstsein nicht über die sinnliche Welt zu dem einen Einzigen unsichtbar allgegenwärtigen Höchsten und Nächsten einen hebt, wo der Mangel dieses Bewusstseins den Menschen der sinnlichen Natur zu Füßen wirkt, der Natur zu Füßen, zu deren Herrn und Meister, nicht zu deren Sklave und Diener Gott ihn gesandt — da fehlt der Boden, auf welchem das göttliche Gesetz seine Stätte finden und ein göttlich menschliches Leben auf Erden erzeugen könnte, das durch und durch von Gottes Geist getragen, das ganze sinnliche Leben selbst zu einem Gott verherrlichenden Hymnus umwandeln und ein Heiligtum auf Erden bauen sollte, in welchem Gottes Herrlichkeit beseligend wohne. Da liegen zerschmettert die Tafeln des göttlichen Gesetzes.

Aber der Wahn ward vernichtet, der Schleier ward zerrissen, der Vergänglichkeit fielen die Verehrer des Vergänglichen anheim, Staub ward das Götterbild der Vergänglichkeit, und zu dem Ewigen richtete sich der Geist der Väter wieder auf, und סָלַחְתִּי“  „Ich habe verziehen“, rief die Gnade aus Himmels Höhen, und das Band ward wieder geknüpft, und des Gesetzes Tafeln kehrten wieder und die Hütte des Heiligtums war wieder zu erbauen.

Der 10. Thischri wars, als das: סָלַחְתִּי“ die Wiedererhebung aus verworfenster Sinnlichkeitsvergötterung besiegelte, und das drückte für alle Zeit dem Monat Thischri die Weihe des ernstesten Ernstes und der seligsten Freude auf.

תְּרוּעָה und תְּשׁוּבָה, סְלִיחָה, כַּפָּרָה und טַהֲרָה, אֱמוּנָה und שִׂמְחָה, Erschütterung und Rückkehr, Verzeihung, Sühne und Reinheit, Vertrauen und Freude, das ist das siebenfarbige Angebinde, dass der Neujahrsherold am Tischri jeder jüdischen Hütte, jeder jüdischen Brust läuternd und weihend, kräftigend, beseligend bringt; Theruah u. Theschuwah, Selichah, Kaparah u. Taharah, Emunah u. Simchah, das ist der Baum des Lebens, den der Thischri immer neu in unserer Mitte aufrichtet, und alle, alle in seinen Schatten lädt. תְּרוּעָה und תְּשׁוּבָה die Wurzel, סְלִיחָה, כַּפָּרָה und טַהֲרָה der Stamm, אֱמוּנָה und שִׂמְחָה die nährenden und beglückenden Früchte des Lebens. Willst du die Früchte pflücken, darfst du die Wurzel nicht scheuen. Sollen dir die Früchte reifen, pflanze die Wurzel mit Ernst in dein Gemüt.

Der Posaunenruf der תְּרוּעָה soll den Traum, die Täuschung zerstören, mit welcher die Sinnlichkeit uns in ihren Armen lullt, soll das Götterbild zerschmettern, das wir der Sinnlichkeit in unserm Herzen errichten, soll uns wachrufen, und aufrufen zu dem Einen, der unser wartet. Und die Tage der תְּשׁוּבָה lehren uns den Weg wiederfinden, der in die Arme des Vaters zurückführt und uns zum Jom HaKipurim leitet, der die Brücke mit der Vergangenheit abbricht, mit סְלִיחָה, כַּפָּרָה und טַהֲרָה uns einen reinen, neuen Boden gibt, auf dem wir am Suckoth-Fest ruhig und sicher, fröhlich und heiter die Hütten unseres Lebens bauen lernen.

Jom Theruah[3], der Tag des Posaunenrufs geht voran. Wie im Schofarruf Gott am Sinai uns zusammen rief, wie Gott mit Schofarruf einst uns wieder um sich sammeln wird, wie der Schofarruf den Sklaven zur Freiheit, den Armen zum Besitz, den Entfremdeten zu seiner Heimat rief, so ruft der Schofarton mit jedem Thischri uns alle, alle zu Gott, ruft den Sklaven der Sinnlichkeit zur göttlichen Freiheit, ruft Arm und Reich zum wahren Reichtum, ruft den Verirrtesten zur eigenen Heimat, ruft zur Jobelhöhe jedes Herz und jeden Geist.

Wie der rufende Thekiahton[4] die Väter zu dem Führer rief, die schmetternde Theruah[5] sie zum Aufbruch und zum Krieg lud, und der Thekiah schließender Ruf sie zu dem neuen Ziele leitete, wo Gott ihrer wartete und wohin die Wolke seiner Gnade und die Lade seines Bundes zog — so ruft uns die Thischri-Thekiah zu unserem Lebenshirten, den wir verlassen, und die Theruah schmettert uns zum Aufbruch und Kampf, — zum Aufbruch von jeder Stätte, zum Abbruch jedes Verhältnisses, auf welchen Gottes Segen nicht ruht, und zum Kampf wider alles, was sich scheidend stellt zwischen uns und unsern Gott — und wiederum die Thekiah lockt uns dorthin, wo das göttliche Gesetz seine Stätte findet, und die Herrlichkeit Gottes mit ihrer Segenswolke schirmend deckt.

Aber Theruah, der schmetternde Aufbruch- und Kampfesruf ist der Grundton des Tages. Vergebens erscheinst du auf seinen Ruf vor deinem Gott und deinem Führer, wenn du zu schwach bist seiner Theruah zu folgen, wenn dich seine Theruah nicht wachrüttelt aus deinem Schlaf, in welchem du sorglos am Abgrund träumst, wenn dich die Blumen, die Sodomsblumen, die am Abgrund blühen, so süß berauschen, dass du die Warnstimme überhörst, die dich retten will, dass du dich nicht losreißt aus den Banden des Vergänglichen, dass du vergötterst, nicht den Mut hast zu rütteln an liebgewonnene Gedanken, Pläne, Entschlüsse, Verhältnisse, Zustände, Bande, Vorteile, Genüsse, in denen Gott nicht wohnt, nicht den Mut hast zu kämpfen gegen Gewohnheiten, Leidenschaften, Triebe, die dich in die Fesseln der Vergänglichkeit jochen, nicht den Mut hast für Gott mit Vergänglichem zu kämpfen und doch den Mut hast für Vergängliches gegen Gott anzukämpfen, wenn dir dein Gott, zu welchem die Thekiah dich ruft, nur eine eitle Hoheit ist, der du doch einmal im Jahr deine Aufwartung machen müsstest, der du zum Neujahr wenigstens den Huldigungsgruß zu bringen hättest, und du den Ernst seiner Theruah überhörst, mit welcher er dein ganzes Wesen, deine ganze Zeit, deine ganze Kraft, das ganze Reich deiner Gedanken, Gefühle, Genüsse, Worte, Taten fordert, in alle Fugen deines ganzen Wesens dringt, alles umwandeln, alles umschaffen will, und allem Vernichtung gebietet, was nicht vor der Wahrheit in Seiner Prüfung, was nicht vor der Wahrheit Seines Wortes besteht, — um dich, dein ganzes Ich mit allen seinen Beziehungen für das Reich der Ewigkeit zu retten, und nicht das flüchtigste Moment deines irdischen Schaffens dem Grabesgang der Vergänglichkeit zu überlassen.

Und auf den Theruahtag folgt die Theschuwah-Woche — und Rückkehr, Rückschritt, heißt die Losung, die sie bringt.

„Rückkehr, Rückschritt?“ Wer wagt das Wort in unserer Zeit des Fortschrittes zu nennen, wer wagt zur Rückkehr, zum Rückschritt zu mahnen, wo alles dem Fortschritt huldigt? Wer es wagt? Gemach! Es ist dein Gott, der es wagt, es ist dein Gott, der dich zur Rückkehr ruft. Und bist du nicht ein Thor, dich von Wortgespenstern necken zu lassen? Wie? Wenn du nun dich geirrt, wenn nun etwa dein Fortschritt ein Rückschritt gewesen, wird dann nicht dein Rückschritt ein wahrer Fortschritt sein, wirst du dann nicht, wenn du auf deinem bisherigen Weg beharrst, nur ewig fortschreiten im Rückschritt, nur ewig fortfahren auf dem Weg, der dich immer mehr von dem eigentlichen Ziel deiner Vollendung entfernt, dem du im vermeintlichen Fortschritt den Rücken zugewendet? Kommt ja alles darauf an, ob du dein wahres Ziel vor Augen, oder hinterm Rücken hast. Ewig fortschreiten, so du auf dem rechten Wege bist, ewig zum rechten Weg zurückkehren, sobald du ihn verlassen, das ist die ganze Summe aller Lebensweisheit. Und du brauchst auch nur einmal in einem schwachen Augenblick vom rechten Pfad abgekommen zu sein, um, wenn du nicht umkehrst, dich ewig weiter von deinem göttlichen Ziel zu verlieren — und du wolltest nicht inne halten, wolltest dem „Zurück! deines Gottes vornehm sorglos entgegen lächeln, „ich irre mich nie!“ und nicht einmal die Möglichkeit zulassen, du könnest auf Irrwegen, auf Abwegen sein, wolltest nicht, wie der Theruahtag dich gelehrt einmal die prüfende Hand an alle deine Lebensverhältnisse, an alles Schaffen deines Geistes und deines Leibes, an deine Gedanken, Gefühle, Worte, Taten, Genüsse, Bestrebungen, an dein Haus, deine Ehe, deine Erziehung, dein Familien-, dein Gemeinde-, dein Bürgerleben legen, und im ganzen Ernst der Gottesmahnung dich fragen, ob du auch mit allem und jedem auf rechtem Wege, auf geradem Weg zum gottgefälligen Ziel, dass du mit allem und jedem im bisherigen Wege nur fortschreiten durftest um deines Zieles gewiss zu sein, — und wenn du den rechten Weg verloren, wolltest du nicht zurück, mit allem Ernst zurück?

Woran aber erkennen den rechten Weg? Wie aber wissen, wo das wahre Ziel? Wo der Kompass auf uferlosem Meer? Wo der Wegweiser, wenn in tausend Richtungen der Irrtum und der Wahn, die Leidenschaft und der Leichtsinn ihre Signale ausgestreckt, und keinem falschen Weg mehr der falsche Priester fehlt, der den falschen Pfad als den rechten preist?

Du kannst nicht irren! Deine Gesetzeslade ist die Bundeslade, auf deinem Gottesgesetz ruht der Gottesbund, und wohin die Bundeslade voran zieht, dort zieht auch die Gnadenwolke deines Gottes hin, dort liegt dein Weg, nur dort wohnt der Segen, nur dort dein und der Deinigen Heil. Schreite fort, wo deines Gottes Wort dir voranleuchtet, schreite zurück zu ihm, wo du sein Licht vermisst.

Aber du kannst nicht mehr zurück? Du hast schon zu sehr deinen Vater im Himmel erzürnt, Er kann dir nicht verzeihen, und verziehe Er dir, es nützte dir nichts mehr, zu sehr hast du bereits all dein Tun und Lassen, dein Haus und dein Gewerbe, deine Ehe, deine Erziehung, dein Familien- und dein Einzelleben auf Sünde gebaut, und wo Unrecht gesät, kann kein Heil aufblühen, und wo die Lüge gepflegt, kann der Fluch nicht ausbleiben; und wolltest du zurück, du könntest schon nicht mehr, es fesselt dich die falsche Scham es fehlt dir der Mut, vor deinem Weib, deinem Kind, deinen Freunden, deinen Genossen inkonsequent zu erscheinen, ihr mitleidiges Spötteln zu ertragen, — und mehr noch als alles, es fehlt dir der Sinn, du hast längst schon eingebüßt das Gefühl für Heiliges, Sittliches, Göttliches, stumpf fühlst du dich und fremd ist die die Seligkeit des Bewusstseins erfüllter Pflicht, und wild tobt die Leidenschaft und kraftlos stehst du den eigenen Feinden im eigenen Busen gegenüber — —

Und doch komme zurück! Jom HaKipurim[6] ist da! und wärst du ergraut in Sünde, und wäre jeder Gedanke, jedes Wort, jede Tat bis jetzt ein Verspotten deines Gottes gewesen, liegen längst auch die Gesetzestafeln deines Gottes zerschmettert in deinem Haus, und hättest du mit den Deinen nur im Taumel des Wahnes das goldene Kalb vergötterter Sinnlichkeit umtanzt, hättest überall nur Fluch dir gesät, und bis auf den letzten Funken, jede Lauterkeit und Reinheit des Denkens und Fühlens verlöscht — Jom HaKipurim ist da! Der Gott, der einmal סָלַחְתִּי“ gesprochen, Er spricht es wieder — Er verzeiht und führt und reinigt. Tue du nur das deine, mache nur gut, was noch wieder gut zu machen, den unrechten Pfennig schaffe aus deinem Haus, den beleidigten Bruder versöhne, den Gekränkten richte auf, das Ungesetzliche, Ungöttliche in dem Leben deiner Ehe, deiner Erziehung, deines Erwerbs- und Genusslebens verbanne, und dann komme zu Ihm, dem Einen, dich nie verstoßenden Vater, der, „so wahr ich lebe, ewig spricht, ich will nicht den Tod und Untergang des Sünders, sondern dass er zurückkomme und neues Leben gewinne,[7]“ der so gnädig ist wie Er gerecht ist, und so allmächtig ist wie gnädig, und darum nicht nur verzeiht mit seiner Gnade, sondern wenn er verziehen, mit seiner freien Allmacht eingreift in die Speichen deines Geschickes, eingreift in das Gewebe deines Innern, und jede Saat des Fluches, die du in den Acker deines Geschickes selbst gesät, ausreißt mit seiner Sühne, und jedes Gift der Sünde, mit dem du deine reine Seele befleckt, und trüb, siech und krank und stumpf gemacht, austilgt mit seiner Reinigung und Heiligung, und תִּטְהֲרוּּ „Seid wieder rein!“ zu allen und über alle spricht, die לְפָנָיו, die vor Seinem Angesicht die Wiederreinheit, den neuen Geist und das neue Leben suchen. Die ganze Zukunft ist wiederum dein; die ganze Vergangenheit übernimmt dein Gott.

Und hat dich so der Schofarruf geweckt und bewegt und zu deinem Gott dich gebracht, hast du תְּרוּעָה und תְּשׁוּבָה, סְלִיחָה, כַּפָּרָה und טַהֲרָה  errungen, und hat der Jom Hakipurim dich am Herzen deines Vaters im Himmel gefunden, siehe dann setzt dich dein Vater im Himmel wieder zum zweiten Mal auf seine Erde und lehrt dich: auf reinem, durch und durch gesühntem Boden, mit reinen, durch und durch erneuten Kräften, ruhig und mutig die Hütte deines Lebens bauen, und auf Erden, mit irdischen Gütern und Mitteln heiter und froh die Aufgabe deines Lebens zu lösen und dich zu freuen, וּשְׂמַחְתֶּם, auf Erden dich zu freuen vor dem Angesichte deines Gottes.

אֱמוּנָה und שִׂמְחָה, Vertrauen und Freude, das sind die Schätze, mit denen dein Vater im Himmel dich beglückt. Mit Emunah baust du Hütten und mit Simchah übst du deine Kraft und freuest dich deines Lebens und Strebens.

[8] סֻכָּה, der Hüttenbau, lehrt dich אֱמוּנָה, das Gottvertrauen! Auf welcher Stufe der Glücksleiter du dich auch befindest, ob reichlich oder spärlich dir die Güter der Erde zugemessen sind, dich blendet nicht die Fülle, dich schreckt nicht der Mangel, die Güter der Erde sind deine Güter nicht,  [9]מִפְּסֹלֶת גָּרׄונְךָ, mit dem, was andere verschmähen, verachten, baust du dir die Hütte des Lebens, weißt’s ja, dass in Hütten und Palästen nur Pilger wohnen, Hütten und Paläste nur דִּירַת עָרַאי, nur unsere vorrübergehende Heimat bilden, weißt’s ja, dass auf dieser Pilgerfahrt nur Gott unser Schutz, und seine Gnade uns schirmt, schreckst ja nicht, und müsstest mit Weib und Kind durch Wüsteneien du wandern, weißt’s ja, dass der Gott, der vierzig Jahre lang die Väter mit Weib und Kind durch die Wüste geleitet, in Hütten geschirmt, mit Manna gespeist, dass der Gott noch dein Gott ist, und auch mit dir durch Wüsteneien wandert, auch jede Seele deiner Hütte kennt und für jede das Manna seiner Gnade zu spenden weiß.

Und ob wir untereinander nach Maß des Besitzes uns tausendfältig auch abstufen[10], mit quadersteinernen Mauern der eine, mit bescheidenem Bretterzaun der andere sich abgrenzt, und dem Dritten nur [11]שְׁתַּיִם כְּהִלְכָתָן וּשְׁלִישׁ אֲפִילּוּ טֶפַח , zwei Wände zu bauen und die dritte nur anzudeuten vergönnt ist, in unserm eigentlichen Schutz[12], in dem, was uns deckt und schirmt, darin sind wir alle gleich, das ist nichts, was von Menschenkünstlichkeit zeugt, das ist nicht das, was [13] ְקַבֵּל טֻמָּאה  ist, was den Hauch der Vergänglichkeit zu scheuen hat, in den דְּפָנוֹת   [14]unterscheiden wir uns, im   [15]סְכָךְ sind wir alle gleich; denn es ist nicht der Menschenbesitz, und die Menschenkraft und die Menschenklugheit, es ist Gottes Gnade und Gottes Segen, der uns schützt, und Paläste und Hütten mit gleicher Liebe deckt.

Und nicht bekümmert und sorgevoll, nicht trübe und traurig, nicht [16]מִצְטַעֵר   lebt sich’s in der Hütte, die das Gottvertrauen erbaut und die Gottesliebe deckt. Was kümmert’s dich, dass es nur דִּירַת עָרַאי, dass es nur vergängliche Hütte ist, dass sie dich, oder du sie einmal verlässt; die Mauern mögen fallen, der Schutz im Sturm verwehen, hinaus dein Gott dich rufen, die schirmende Liebe Gottes ist überall und ewig mit dir, und wo sie dich weilen lässt, wo sie dich schützt, daתֵּשְׁבוּ — כְּעֵין תָּדוּרוּ[17] wohnst du im flüchtigsten Moment der flüchtigsten, vergänglichsten Stätte so ruhig, so sicher, als wäre sie für die Ewigkeit dein Haus.

Aber nicht nur ruhig und sicher will dich dein Gott, zur Freude, zur שִׂמְחָה, zur reinen, menschlichen ungetrübten Freude, hat Er dich berufen, lässt nicht umsonst die Blüten duften und die Früchte reifen, hat die Erde לֹא לְתֹוהוּ בָּרָאָה nicht zu einer Öde, zu einem Tal der Tränen und des Jammers, hat sie zu einem heiteren fröhlichen Wohnplatz fröhlich heiterer Wesen geschaffen, auf welchem jeder seines Daseins froh werden und seines Wirkens und Schaffens sich freuen solle. Freilich, vergötterst du die Erde, berauschen dich ihre Blüten, benebeln dich ihre Reize, dass du um Erdenblütenreiz deines Gottes und deines eigenen göttlichen Berufes vergisst — dann freilich, dann ist die Erde dein Feind, und Feind sind dir ihre Blüten, ihre Güter, ihre Genüsse, zur Sünde führt dich alles, und Sünde untergräbt dein Heil. Jedoch, wenn deines Gottes תְּרוּעָה die irdischen Götter von dem Altar deines Herzens gestürzt, wenn du zu dem Einen, Einzigen zurückgekehrt bist, nur Ihn allein verehrst, auf Ihn allein nur baust, nur die Erfüllung Seines Willens als die einzige Aufgabe deines Lebens kennst, in jeder Spanne Zeit, mit jeder Kraft, mit jeder Tat, mit jedem Gut, mit jedem Genuss nur Ihm dienen, nur die von ihm dir gesetzte Aufgabe lösen willst und das Bewusstsein dieser Aufgabe und das Bewusstsein ihrer Lösung und das Bewusstsein der Gottesnähe deine Seligkeit ist, siehe, dann reicht dir Gott selbst den Strauß der irdischen Blüten[18] und spricht: [19]וּלְקַחְתֶּם לָכֶם , nehmt euch nur, flieht nicht, was ich für euch reifen lasse, nehmt es euch, und lernt euch dessen freuen vor meinem Angesicht. Freude bringt’s euch, wenn es לָכֶם, wenn es rechtlich und redlich euer, wenn ihr es mit rechtlichem, redlichem Fleiß erworben, wenn ihr es mit reinen Händen fassen und vor Gottes Angesicht, das eure nennen dürftet. Freude bringt’s euch, wenn ihr nicht selbstsüchtig es nur euch und nur der Erde zuwendet, wenn es in euern Händen nur Mittel wird, damit eurer ganzen Umgebung in Ost und Süd und West und Nord Segen zu reichen, wenn ihr an euch zuletzt nur denkt, und wenn ihr es erst dem Himmel und für den Himmel der Erde weiht. Freude bringt’s euch, wenn ihr mit allem euch nur im Kreise des göttlichen Willens, im Kreise seines Wortes euch bewegt, sein Gesetz, sein Wort, sein Wille der Mittelpunkt bleibt, aus dessen Kreis ihr euch nicht mit dem kleinsten Gut, nicht mit der leisesten Tat entfernt. Freude ist euer Los, ewig ungetrübte Freude, wenn ihr erwerbt und nehmt, verwendet und genießt die Blüten und Früchte der Erde, wie es לְקִיחָה und נִעֲנוּעַ und  הַקָּפוֹתdes לוּלָב euch lehrt.

Und die Vollendung des Ganzen ist Azereth, das Fest des Verharrens, des Festhaltens, des Bleibens bei Gott, עַצָּרוֹ מִלָּצֵאת, dass du noch einmal dich sammelst vor deinem Gott und nun alle die großen Gedanken der Weihe, der Heiligung, der Ermutigung und Beseligung, die diese Tage und Wochen dir gebracht, noch einmal sammelst und festhältst, auf dass du sie mit hinüber nimmst in das dir nun geöffnete tägliche Leben des Jahres, und froh der Thora, des Gotteswortes froh, das solche Heiles- und Segenschätze fürs Leben dir reicht, dir es und deinem Gott gelobst, fest zu verharren bei Ihm, durch nichts dich von ihm reißen zu lassen, und in dem nun eröffneten Jahr, welche Stürme und Prüfungen es dir auch bringen möge, den Geist der Besonnenheit, der Heiligung, des Vertrauens und der freudigen Tätigkeit im Dienst deines Gottes zu bewähren, der dir am Eingang des Jahres als Herold deines Gottes entgegengetreten.


[1] Katechismus ist ein Buch der christlichen Heilslehre

[2] Exodus 32:4; אֵ֤לֶּה אֱלֹהֶ֙יךָ֙ יִשְׂרָאֵ֔ל Dies sind deine Götter, Israel.

[3] Tag des Posaunenschalls, ein weiterer Namen des Neujahrsfestes

[4] Langanhaltender Schofarton

[5] 7 mal unterbrochener Schofaton

[6] Der Versöhnungstag, der zweite Feiertag im Monat Tischri

[7] Jecheskiel 33:11

[8] Die Laubhütte

[9] Aus Dreschabfällen

[10] Beim Bau der Laubhütte

[11] Wenn die Laubhütte 2 Wände hat, die dritte aus einem handbreiten Brett besteht, ist die Sukka koscher

[12] Nämlich dem Dach der Laubhütte

[13] Zur Aufnahme von Unreinheit fähig ist

[14] Seitenwänden

[15] Dach der Laubhütte

[16] leidend

[17] Talmud Sukka 28b; sinngemäß: wenn du in der Laubhütte sitzt, ist es als würdest du dort wohnen

[18] Den Lulaw, ein Herbststrauß bestehend aus Palmenzweig, Myrthe, Weide und Paradiesapfel (Etrog)

[19] Und nehmt den Lulaw euch

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