„Weshalb ist das Land zu Grunde gegangen?“ — Die von den Weisen und Propheten nicht beantwortete, von Gott beantwortete Frage.
Diesen Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l aus Heft 10, 3. Jahrgang der Zeitschrift „Jeschurun“ aus dem Jahr 1857 hat sein Sohn Mendel Hirsch s“l auch in den „Gesammelten Schriften“, Band 3, aufgenommen und veröffentlicht. Er hat diesem Artikel die obige Überschrift hinzugefügt die sein Vater mit diesem Artikel zu beantworten versucht.
Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2941270
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.
„Wer ist der weise Mann, dass er dies zu ermitteln,
Wer, mit dem Gottes Mund gesprochen, dass er dies beantworten vermöchte.
Weshalb das Land zu Grunde gegangen,
Öde geworden wie die Wüste,
Menschenleer?“ [1]
Diese Frage wurde den Weisen vorgelegt und sie wussten sie nicht zu beantworten, den Propheten und sie wussten sie nicht zu beantworten, bis Gott sie selber beantwortete, (denn also heißt es:) [2]
„Da sprach Gott: weil sie meine Thora verließen, die Ich vor sie hingelegt hatte und dadurch auf meine Stimme nicht hörten und in ihr nicht wandelten!“ [3]
Auf Gottes Stimme hören und in ihr wandeln, ist dies nicht dasselbe? שֶׁלֹּא בֵּרְכוּ בַּתּוֹרָה תְּחִילָּה sie sprachen nicht zuerst Bracha[4] über die Thora, erläuterte es Rabbi Jehuda im Namen Raws.[5]
Jerusalem fiel, ist zweimal gefallen, und der siebzehnte Thamus bringt uns wieder den [6] צוֹם הַרְבִיעִי, den Fasttag von Jerusalems Fall.
Was würden diese Erinnerungsfasttage uns sein, wenn sie uns wären, was sie sein sollten! צוֹם[7], Tage des inneren und äußeren „Zusammennehmens“, Tage der inneren und äußeren „Sammlung“! Wie würde die innere Sammlung uns aus der Zerstreuung des Lebens, wie würde die äußere uns aus der Vereinzelung der Selbstsucht und aus der Zerstreuung eines falschen kosmopolitischen Wahns retten, wie würden wir ernster und bedächtiger, einheitlich gesammelter, wie würden wir begeisterter und von jüdischem Gemeinsinn erfüllter aus einem jeden solchen Fasttag hervorgehen! Und welcher Zeit wäre eine solche Sammlung aller Gedanken auf das eine, was nottut, dringender von Nöten als der unsrigen, welche Zeit fordert ernster auf, sich um das eine gemeinsame Heilige zu scharen und aus der Erinnerung der Vergangenheit und aus dem ewigen Quell der Gotteswahrheit sich die Fragen zu lösen, die über unsere Zukunft entscheiden!
Welche Zeit liefe mehr Gefahr sich an die mannigfachen Zwecke des in immer künstlicherer Verschlungenheit steigernden materiellen Bedürfnisses des Lebens und an die Irrtümer eines alles Jüdische als Partikularismus fliehenden, falschen Kosmopolitentums zu verlieren! Welcher Zeit wäre also wie der unsrigen zuzurufen: Verliert euch doch nicht in der übergroßen Hast euch selbst zu suchen! Kommt doch einmal zu euch und besinnt euch, was ihr denn wollt! Fragt euch doch einmal, ob ihr denn nicht in der Nähe habt, was ihr in der Ferne, und oft vergebens in der Ferne sucht, ob denn nicht vielleicht in eurem Innern, in diesem eurem eigenen, eurer Macht völlig hingegebenen Innern das Glück und der Friede zu finden wäre, das ihr mit so vielem Schweiß einer widerstrebenden äußeren Welt mühsam abkämpfen zu müssen vermeint! — Welcher Zeit täte es dringender not das Bewusstsein zu wecken, das kosmopolitische Weltenheil werde am besten befördert, so jeder seines Teils, an seiner Stelle, die ihm von Gott gewordene Aufgabe voll erfüllte, das kosmopolitische Heil liege völlig zu Boden, so jeder alles sein möchte, und darum vergäße, seinen besonderen, in dem Bereich des Möglichen umschränkten Kreis mit freudiger Hingebung auszufüllen!
קראו „צום“ ,קרשו „עצרה“, „Ladet zur Sammlung, heiligt Beschränkung!“ Das ist der Grundton jedes Aufrufs zum Fasten, und wenn wir nun an einem solchen Fasttage uns sammelten, unsere Gedanken einmal zurückriefen von dem Schweifen in die Ferne, von der Zerstreuung in das Weite, wenn uns einmal ein solcher Erinnerungs-Fasttag auf uns selbst und in uns selbst zurückführte, an unseren jüdischen Beruf (Aufgabe) und unser jüdisches Geschick uns mahnte und wir in einem Gedanken Aufschluss über unsere Vergangenheit, Würdigung unserer Gegenwart und Entscheidung über unsere Zukunft finden möchten, so dürfte keine Frage also geeignet sein, uns diesen Gedanken zu bringen, als die Jahrtausende alte Frage:
?עַל מָה אָבְדָה הָאָרֶץ
Wodurch ging denn das Land zu Grunde?[8]
Freilich wissen die Historiker sehr rasch über diese Frage Bescheid. In Judäas zweimaligem Untergang liegt durchaus nichts Wunderbares. Beide Katastrophen sind ganz nach dem natürlichen Lauf der Dinge erfolgt. Wie hätte das winzige Judäa der aufstrebenden assyrisch-babylonischen Weltmacht nicht zum Raub fallen sollen, wie hätte die winzige jüdische Macht den mächtigen römischen Legionen Widerstand leisten können! Hatte ja Judäa die unglücklichste Lage zur Bewahrung eigener Selbständigkeit für einen kleinen Staat. An der Grenzscheide des Ostens und Westens gelegen, musste es von jeder herüber und hinüber flutenden Machtströmung begraben und unter jedem Zusammenstoß des Ostens und Westens erdrückt werden. Und kam noch zu dieser natürlichen Ohnmacht die Schwächung feindseliger Teilung oder die Zerrüttung durch innere Parteikämpfe sich einander aufreibender Fraktionen, wie jenes dem ersten und dieses dem zweiten Falle vorangegangen, da hätte ja nur ein Wunder Judäa retten können!
Und diese Historiker haben vollkommen Recht. Nicht Judäas Untergang war ein Wunder. Ein Wunder war Judäas mehr als tausendjährige staatliche Existenz, zu welcher alle und jede natürliche Vorbedingung fehlte. Ein Wunder war Israels ganzes Werden, sein allererster Eintritt in den Kreis staatlicher Selbständigkeit, ohne eigene Macht, ohne eigenen Boden, ohne Aussicht auf Völkerfreundschaft und Bundesgenossenschaft, ja, im entschiedenen, widerspruchvollsten Gegensatz zu aller Welt, eben an einen Punkt hingeschleudert, über welchen die Heeresstraßen aller Welterobererzüge führten, und wo es von allen Seiten den feindseligsten Gelüsten ausgesetzt war. Israel fiel, Israel musste fallen, musste auf die natürlichste Weise von der Welt fallen, sobald das Wunder seines Daseins und seiner Erhaltung endete, sobald die Wundermacht es fahren ließ, deren Adlerflügel allein es in die Freiheit und Selbständigkeit gehoben und gehalten.
Das ist der Aufschluss, der uns überall im göttlichen Worte über Israels staatliche Erscheinung gegeben wird:
Denn Gottes Teil ist sein Volk
Jakob das Ihm anheimgefallene Erbe.
Er kommt ihm entgegen in der Wüste Land,
Der Einöde, wo die Wildnis klagt,
Er umgibt es, Er belehrt es,
Er bewahrt es wie seinen Augapfel.
Wie sein Nest der Adler weckt,
Über seinen Jungen schwebt,
Seine Schwingen breitet, es aufnimmt, es fortträgt auf seinem Fittich,
So leitet es Gott allein
Und mit ihm keine fremde Macht!
Er lässt es ersteigen die Höhen der Erde
Da genoss es die Früchte der Felder,
Da ließ Er es saugen Honig aus dem Fels
Und Öl aus Kieselgestein,
Rinder-Rahm und der Schafe Milch
Nebst Fett von Lämmern und Widdern aus Barchans Zucht und Böcken,
Nebst Nieren-Fett des Weizens;
Und Traubenblut trinkst du als Wein. (Dir reift alles vollendet von Gott zu, ohne dein künstliches Zutun![9])
Als aber Jeschurun fett wurde, da schlug es aus —
Ja, ja, so oft du fett wurdest
Wurdest du feist, und von der Fülle übermannt!
Und da verließ es Gott, der es gestaltet hatte,
Und verkannte gänzlich den Hort seines Heils.
Sie wecken Seinen Eifer durch Fremde,
Erzürnen Ihn durch Abscheulichkeiten,
Opfern den Dämonen, Ungöttern, Göttern, von denen sie nie etwas erfahren,
Neuen, in jüngster Zeit erst Aufgekommenen,
Vor denen euren Vätern nie gegraut —
Hat dich dein Hort erst geboren, dann vergissest du Ihn,
Hast du doch Gott vergessen selbst da er noch dich zeugte! —
Das sah Gott und zürnte,
Vor Kummer von seinen Söhnen und Töchtern,
Und sprach;
Ich entziehe nur mein Antlitz ihnen
Dann will ich sehen, was ihr Ende wird;
(5. B. M. K. 32. V. 9—20.)
Und nun lasst mich euch sagen, was ich meinem Weinberge tue, räume nur seine Umzäunung weg, so wird er vernichtet, reiße nur seine Hecke ein, so wird er zertreten! Ich lasse ihn brach liegen, er wird nicht beschnitten, nicht umgehackt, so geht er in Dorn und Distel auf, und den Wolken verbiete ich ihm Regen zu senden. Denn Gottes Weinberg ist Israels Haus und Jehudas Männer die Pflanzung seiner Freuden, Er hoffte auf Recht und findet Gunst, auf Milde und findet Geschrei. —
(Jesaias K. 5. V. 5—7.)
Israels Untergang erfolgte nach dem natürlichen Lauf der Dinge; sein Dasein und seine Erhaltung war das Werk der göttlichen Wundermacht. Aber eben warum diese Wundermacht es verlassen, warum sie nicht herbeieilte als die babylonische Macht es verschlang und die römischen Legionen es erbeuteten, das eben ist der Inhalt der Frage:
?עַל מָה אָבְדָה הָאָרֶץ
Und wiederum nicht nach den nahen und nächsten Ursachen, die Israel das Antlitz seines Gottes entzogen, kann hier in dieser Frage gefragt werden. Sie lagen ja offen zu Tage, hinsichtlich ihrer wären „die Weisen und Propheten“ die Antwort nicht schuldig geblieben. Ja, nicht die Weisen und Propheten hätte man darüber mehr zu fragen bedurft, längst vor dem Untergang hatte ja der Propheten Mund früh und spät Israel seine Irrungen und in ihnen den Weg zum Untergang enthüllt, ja, in den Mund des Volkes, in den Mund eines jeden jüdischen Knaben war ja längst Moschehs schauender Gesang gelegt, — [10] שִׂימָהּ בְּפִיהֶם — der Verirrung und Untergang im Voraus verkündete, und jene in die vielsagenden Worte zusammenfasste:
וְיִשְׁמַן יְשֻׁרוּן וַיִּבְעָט[11]
„Da Israel (Jeschurun) fett wurde, schlug es aus, — ja, so oft du fett wurdest, wurdest du feist und von der Fülle übermannt!“ Namentlich in diesem letzten allgemeinen Vorwurf liegt ja das traurige Geheimnis der ganzen jüdischen Geschichte: [12] „שָׁמַנְתָּ עָבִיתָ כָּשִׂיתָ“! Im Unglück und im Druck, in der Gefahr und der Verfolgung, in der Armut und im Elend hat Israel stets die ganze Wundergröße seiner geistigen Kraft und hingebendsten Ausdauer entfaltet. Dem Glück aber und der Fülle war es — bis jetzt — noch nie gewachsen. שמנת-עבית-כשית, war noch bis jetzt das Resultat einer jeden glücklichen Periode, die Gott uns gewährte. Wie der gesunde Körper jeden Zuschuss neuer Säfte nicht als totes Kapital aufspeichert, sondern in sich aufnimmt, mit lebendigster Energie verarbeitet, ja alle Fülle beherrscht und in nur gesteigerte Entfaltung aller Leidenstätigkeiten umwandelt, — also sollte Israel stets Meister seiner Fülle bleiben, Mittel und nichts als Mittel sollte sie in seinen Händen sein, in jeder größeren Freiheit, mit jeder größeren Selbständigkeit, durch jede größere Fülle von Gütern, nur in umso größerem Maße und in umso reinerer Vollendung die ihm von Gottes Gesetz gezeichnete Aufgabe zu lösen, und seine freie, geistige, göttliche Energie auf einem umso größeren Schauplatz Gott dienend zu betätigen. So sollte es sein, so war es aber nur selten und dauernd — nie. שָׁמַנְתָּ, so Israel fett wurde, so ihm neue größere Fülle von materiellen Gütern zuströmte, עָבִיתָ wurde es nicht lebendiger, kräftiger, entschiedener sein eigentliches Wesen entfaltend, wurde es feist und träge, schlief sein besseres Selbst, sein einziges geistig-göttliches Lebensprinzip ein, und, statt die Fülle beherrschend zu meistern, כָּשִׂיתָ wurde es von der Fülle bedeckt, wurde sein eigentliches Wesen von der Fülle begraben. Das war längst durch Moschehs Mund voraus verkündet, und alle Propheten nach ihm hatten nichts als die Wahrheit dieses Satzes in den Erscheinungen ihrer Zeiten zu dokumentieren. Wenn daher dennoch in der Stunde des Unterganges an die „Weisen“ und „Propheten“ die Frage gerichtet wurde:
?עַל מָה אָבְדָה הָאָרֶץ
und ´וַיֹּאמֶר ה, und nur Gott die Antwort zu erteilen vermochte, so konnte eben nur nach der einen tiefer liegenden, nur Gott offenbaren Ursache geforscht werden, warum denn Israel nicht durch alle Leidenserziehung hinlänglich für die Glücksprüfung erkräftigt hervorgegangen, warum denn alle die von Gottes Lehre für Geist und Herz dargebotenen Erziehungsmittel den Zweck nicht voll erreicht, Israel auch für die freudige Treue in der Freude und der Fülle zu rüsten, warum denn Gottes Wort nicht stark genug gewesen Israel für immer auf dem Gnadenfittich Gottes zu erhalten?
Und wenn nun aus Gottes Mund der Aufschluss erging:
עַל־עָזְבָם֙ אֶת־תּ֣וֹרָתִ֔י אֲשֶׁ֥ר נָתַ֖תִּי לִפְנֵיהֶ֑ם[13]
„Weil sie meine Lehre verließen, die ich ihnen vorgelegt —“ da konnte wiederum wie R. Jehuda zur Erläuterung der Worte Raws in Nedarim treffend bemerkt — nicht ein allen ja offen liegendes Verlassen der Erkenntnis und Übung der Thora gemeint sein; denn diese Versündigung hätten ja auch die Weisen und Propheten erkannt; ja, es hätte dazu nicht einmal der Einsicht der Weisen und der Prophetengabe der Propheten bedurft, war ja hiergegen die laute Gottesbotschaft durch den Mund der Propheten bereits seit Jahrhunderten ergangen. Es muss also ein tiefer liegender, nur Gott offenbarer Zug hier enthüllt sein, und den spricht das Wort der Weisen in der Erläuterung aus:
שֶׁלֹּא בֵּרְכוּ בַּתּוֹרָה תְּחִילָּה![14]
Nicht in der Zeit, wo ihnen bereits die Thora fremd geworden, wo sie schon der Kenntnis der Thora und mit ihr auch der Erfüllung den Rücken gewandt, ist die Wurzel des später einbrechenden Elends zu suchen. Da hatten sie bereits offenbar selbst den Stab über ihre eigene Zukunft gebrochen. Das Buch der Thora war noch in ihren Händen, als schon vor Gottes Augen der später vollendete Abfall aufkeimte. Sie beschäftigten sich noch mit der Lehre, erstrebten noch ihre Erkenntnis, aber לֹּא בֵּרְכוּ בַּתּוֹרָה תְּחִילָּה — das war der erste, verhängnisvolle Keim zum Übel! Und sollen wir spätergeborene Epigonen an einem Gedächtnistage des Falls Jerusalems uns nun nicht auf Zions noch unerbaute Trümmer niedersetzen und uns die Wahrheit klarzumachen suchen, die das Wort der Weisen birgt? Liegt Zion nicht noch in Trümmern, und gilt es nicht, seinen Wiederaufbau durch unseren eigenen geistigen Aufbau näher zu führen?
Der Mund der Weisen schläft, und nur aus der toten Schrift können wir uns ihre Gedanken wieder beleben. Daher dürfen wir wohl schwanken, indem wir ihre Meinung zu ergründen versuchen.
לֹּא בֵּרְכוּ בַּתּוֹרָה תְּחִילָּה, sie beschäftigten sich wohl mit der Lehre, erstrebten ihre Erkenntnis, erkannten sie auch als eine Wohltat und priesen Gott dafür, aber sie priesen Gott nicht zuerst für die Thora, לֹּא בֵּרְכוּ בַּתּוֹרָה תְּחִילָּה, das kann zuerst die Meinung der Weisen sein; und wie viel hätten sie uns nicht damit gesagt! Sie priesen Gott nicht zuerst für die Thora! Die Thora war ihnen auch ein Gut, auch eine Beschäftigung, auch eine Aufgabe, der sie zu genügen, auch eine Wohltat, für die sie zu danken hatten, aber sie war ihnen nicht — das Gut aller Güter, die alle anderen bedingende Wohltat, die Aufgabe, von der zu allen anderen der Ausgang zu nehmen sei, sie priesen Gott nicht zuerst für die Thora, es stand ihnen die Thora nicht in erster Linie und in dieser ersten Linie obenan! Und Gott hatte doch die Thora vor sie hingestellt — [15] תּוֹרָתִי אֲשֶׁר נָתַתִּי לִפְנֵיהֶם — jede Richtung, jede Lebensäußerung sollte sie zuerst zur Thora führen, bei jedem Schritt sollten sie der Thora zuerst begegnen und zu jedem Ziel zuerst den Weg nur über die Erkenntnis der Thora finden! Daran begann es zu fehlen, und als es daran zu fehlen begann, war schon der bedeutendste Schritt zu dem letzten traurigen Ende getan. Sobald die Liebe und Wertschätzung der Thora nicht unsere ganze Brust erfüllt, wir nicht nur aus Liebe zur Thora auch andere Kenntnis und andere Güter lieben und achten, weil sie die Erkenntnis der Thora fördern und die Erfüllung der Thora ermöglichen, sobald wir Kenntnissen und Gütern neben der Thora einen selbständigen Wert einräumen, so ist bereits alles getan uns sehr bald zur Vernachlässigung der Thora zu bringen. Wir werden sehr bald aufhören, die Ergebnisse anderer Geistesarbeiten nun an dem Prüfstein der Gotteswahrheiten der Thora zu messen und ihnen nur so viel Eingang in unser Gedanken-und Gefühlsleben zu gestatten, als eben diesen Gotteswahrheiten gemäß ist, werden sehr bald den Zwiespalt in unserem Innern erzeugen und nicht mehr Gott angehören mit ungeteiltem ganzen Herzen und ganzer Seele.
Die Güter, die wir erst neben der Thora und außer der Thora in selbständiger Wertschätzung zu achten und zu erstreben begannen, werden gar bald die Thora auch aus der bisherigen Gleichberechtigung verdrängen, wir werden gar bald am Scheidewege stehen und uns zwischen Vorteilen, Genüssen, Ehren und Menschenbeifall und Menschenfreundschaften, die jene Güter bieten, und der Thora zu entscheiden haben, die die Entsagung manchen Vorteils, manchen Genusses fordert und für die greifbaren Ehren-, Beifalls- und Freundschaftsbezeugungen der Menschen nur auf den stillen Beifall des eigenen Innern und auf die stille Seligkeit des Wohlgefallens unseres Gottes hinweist. Nicht umsonst hat uns Gott wiederholt gesagt, wie „eifersüchtig“ Er auf unsere Liebe und Anerkennung ist, hat uns nicht umsonst gewarnt, „du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Mit jedem Plätzchen, das wir irgendeinem Gut neben Gott und seinem heiligen Wort auf dem Thron unseres Herzens einräumen, führen wir einen Nebenbuhler unserer Gottesliebe und unserer Hingebung an Gott bei uns ein und geben unsere Gedankeneinheit, unseren Seelenfrieden und unsere Lebensreinheit preis.
Und hat erst dieser Zwiespalt die Gedanken und das Leben der Eltern ergriffen, wie werden die Kinder, wie wird das kommende Geschlecht Gott zublühen? Sie werden vor allem gelehrt werden, שֶׁלֹּא לְבָרֵךְ בְּתוֹרָה תְּחִלָּה, nicht Gott zuerst für die Thora zu preisen. Man wird zufrieden sein, wenn nur die Kinder nicht ganz unwissend in der Thora bleiben, man wird — um in der Sprache unserer Gegenwart zu reden — es für genug erkennen, wenn sie doch die heilige Sprache lesen und einiges vom Pentateuch und den Gebeten verstehen können — anstatt zuerst dafür zu sorgen, dass das Geistesleben der Kinder vorzugsweise auf dem Boden der Thora erblühe, — anstatt sich zumeist darüber zu freuen, wenn die Kinder in Kenntnis der Thora fortschreiten und dafür „zuerst Gott preisen“; man wird ängstlich darauf bedacht nehmen, dass sie nicht zu viel „Hebräisch“ lernen, wird in der Kenntnis der Thora nur einen Rivalen jener Kenntnisse erblicken, die greifbare Güter und Vorteile versprechen, wird vor allem ernstlich befürchten, es dürfte die Jugend an den Brüsten der Thora lernen, es ernster mit dem Gottesworte nehmen, und einen Geist gewissenhafterer jüdischen Pflichttreue sich aneignen, als es das zwiespältige Leben der Zeit verträgt — und es die „Ansichten“ der Eltern beabsichtigen. ——
Und nun das Leben, die Zukunft dieser Jugend — wer sieht nicht mit jener ersten Abweichung, in dem „Fortschritt“ der Geschlechter ganzen Weg zum vollendeten Abfall schon gebahnt ——!
לֹא לְבָרֵךְ בַּתּוֹרָה תְּחִלָּה — Es kann aber auch — und so haben es in der Tat die Kommentatoren dieser Stelle erläutert — es kann aber auch dieser Satz sagen wollen: sie haben nicht zuvor Beracha[16] gesprochen, ehe sie sich mit der Thora beschäftigt, und eine nicht minder ernste Mahnung enthielte auch dann wiederum diese Stimme aus der alten Erfahrung der Zeiten.
Sie sprachen keine Beracha, wenn sie zur Beschäftigung mit der Thora gingen. Sie gingen zum Studium der Thora, wie man zum Studium eines anderen Gegenstandes geht, es war ihnen nicht תּוֹרָתִי אֲשֶׁר נָתַתִּי לִפְנֵיהֶם, es war ihnen nicht die von Gott ihnen vorgelegte Thora, das von Gott Gegebene, es war ihnen Wissenschaft wie jede andere, ein Studium wie jedes andere; mit keiner anderen Anschauung, in keiner anderen Gesinnung schritten sie zum Studium des Gesetzes.
Wie mannigfach aber sind die Verirrungen, wenn nicht die rechte Anschauung und die rechte Gesinnung zum Studium der Thora mitgebracht werden, wenn beim Studium der Thora der Geist der Beracha fehlt!
Birchath Mizwa[17], — der Gedanke der Pflicht, die Gesinnung der Mizwaerfüllung soll uns leiten, zu Gott sollen wir erst hintreten, ehe wir das Buch seiner Lehre öffnen, [18] בָּרוּךְ אַתָּה ה‘ וכו‘ Ihm, der Erfüllung seines Willens, der Förderung seines Reiches auf Erden, nicht der eigenen Lust oder gar der eigenen Eitelkeit sollen wir mit dem Studium seines Wortes Segen werden wollen, lernen um damit die erste Mizwa aller Mizwoth desjenigen zu erfüllen, „der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat, uns mit den Worten seiner Lehre zu beschäftigen!“
Wo dieser Geist der Pflicht, dieser Beracha-Gedanke zur Thora führt, da wird die Thora [19]לִשְׁמָהּ gelernt werden, gelernt werden, in der einzigen ihr entsprechenden Absicht לִלְמוֹד וּלְלַמֵּד לִשְׁמוֹר וְלַעֲשׂוֹת „zu lernen, um zu lehren und zu erfüllen“, da wird die Erfassung des Inhalts, die Erkenntnis des göttlichen Willens, die immer vollständigere Beantwortung der Frage: wie haben wir unser Leben zu gestalten, auf dass es unserem Vater im Himmel gefalle, da wird dieser heilig große Zweck uns ganz durchdringen, wird unseren Geist auf das Eine, Wahre und Wirkliche konzentrieren, wird den Gedanken an unsere Persönlichkeit ganz zurückdrängen, wird uns ganz dem Gegenstand hingeben, und damit uns öffnen die Pforten der Wahrheit und uns schützen vor all jenen Irrgängen, in welchen der Geist der Ehrsucht und der selbstgefälligen Eitelkeit zu den Sophismen oder Skurrilitäten eines das Wort des lebendigen Gottes in Thorath Schaw[20] verkehrenden, wenn immer auch geistreich subtilen Spieles führt. Keiner kann sagen, dass er das Wahre gefunden. Jeder aber muss sagen können, dass er das Wahre gesucht.
Wo dieser Geist der Pflicht, dieser Beracha-Gedanke zur Thora führt, da wird auch die Thora wieder zur Pflicht führen, da wird das Lernen der Thora das Ziel fördern, um dessentwillen allein ihm ein Wert, und ein so bedeutender Wert innewohnet, [21]גָּדוֹל תַּלְמוּד שֶׁמֵּבִיא לִידֵי מַעֲשֶׂה! Da wird ein jeder es fühlen, wie mit jeder neueren, volleren Erkenntnis ihm eine neue, vollere Verpflichtung erwachse, er immer mehr und mehr zur Stufe des Chawer[22] gelange, der der [23]הַתְרָאָה nicht bedarf, weil jedes Wort der Thora, das er gelernt, ihn stets als mahnender Zeuge durchs Leben und einst jenseits vor Gottes Thron hingeleitet und ihn mit dem Vernichtungsvorwurf niederschmettern würde: Siehe, du hast mich gekannt und dennoch verlassen! Da wird jene unselige, heillose Teilung der Theorie von der Praxis, des Lamdans[24] von dem Jere Schamajim[25], der „Wissenschaft von dem Leben“ keine Stätte finden, da wird man den doppelt verachten, der zu dem Quell der Thora gewandelt, der mit Worten der Thora sich beschäftigt, der Worte der Thora in dem Munde führt — und sie im Leben verleugnet. Da wird man in dem rechten Wandel auch eine Garantie für die rechte Wissenschaft erblicken, wird die Lehre Gottes nicht in dem Mund ihrer Verächter suchen, wird der alten Warnung horchen: אִם דּוֹמֶה הָרַב לְמַלְאַךְ ה׳ צְבָאוֹת — יְבַקְּשׁוּ תּוֹרָה מִפִּיהוּ, וְאִם לָאו — אַל יְבַקְּשׁוּ תּוֹרָה מִפִּיהו! „Nur wenn der Lehrer als Gottesherold dasteht, suche man die Lehre aus seinem Mund“, nach dem Worte des Propheten: „Wenn des Priesters Lippen die Erkenntnis bewahren, sucht man Lehre aus seinem Munde, wenn er ein Herold Gottes ist“. Eines Achers[26] Lehre kann nie ohne Spreu des Irrtums und des selbstbestochenen Wahnes sein! Wer traut sich die scharfblickende Klarheit und Geistesschärfe R. Meirs[27] zu, stets an dem dargebotenen Granatapfel die Schale von den Körnern zu sondern?!
Wo dieser Geist der Pflicht, dieser Beracha-Gedanke zur Thora führt, da ist die Thora die Lehre, [28]אֲשֶׁר נָתַתִּי לִפְנֵיהֶם,, das von Gott Gegebene, das sich seinen Wert und seine Anerkennung nicht erst von dem Ergebnis unserer Prüfung zu verdienen hat, da spricht man Beracha [29]תְּחִלָּה man studiert, ja die Beracha, der Gedanke des hohen Wertes der Thora führt zum Thorastudium, nicht aber studiert man die Thora, um erst zu untersuchen, ob sie denn auch der Beracha wert, da steht die Thora in dem alten Wert des [30] נַעֲשֶׂה וְנִשְׁמָעund hat zu rechnen auf die alte Hingebung und die alte Treue im Leben. Da werden die Jünger der Thorawissenschaft ihre בַּעֲלֵי תְּרִיסִין, ihre gepanzerten Kämpen[31], ihre Vorkämpfer und Fürkämpfer, nicht aber ihre sie untergrabenden, verderblichsten Feinde, die ihre vermeintliche Kenntnis der Thora nur missbrauchen, um ihren in Praxi längst vollzogenen Abfall von der Thora in den Augen der Unkundigen zu legalisieren, und den Namen ihrer Gelehrsamkeit zu einem für den Abfall Propaganda machenden Herold in die Kreise des Volkes zu senden. Da lebt in der Brust der Lernenden und Lehrenden nur ein Wunsch, eine Bitte, [32]וְהָעֶרֶב נָא וְכוּ‘ וְכוּ‘, dass das Wort der göttlichen Lehre in ihrem Munde und durch ihren Mund „süß“, ansprechend, wert, beseligend und teuer werde, immer mehr Eingang in die Gemüter und Herzen gewinne und sich mit ihrem ganzen Wesen immer inniger verschmelze, auf dass in immer aufsteigender Linie die Geschlechter unseres Volkes zu immer größerer Gotteserkenntnis und zu immer vollerer Erfüllung der Gotteslehre erwachsen. Da dringt der Geist der Wahrheit und der Thorakenntnis also in die Gemüter des Volkes, wird also der beseligende Genius jedes Herzens und jedes Hauses, dass ein Jerobeam[33] vergebens seine goldenen Kälber in Beerscheba und Dan aufstellt, vergebens dem alleinigen Gotte und dessen alleinigem Heiligtum, Götter, Feste und Gottesdienste seiner Mache gegenüber und zur Seite setzt, und im Namen einer politischen verlockenden Lebensklugheit zu deren Verehrung lädt. Da weiß das Volk den Baalspfaffen von dem Gottespriester zu unterscheiden, da fühlt es die Wahrheit von der Lüge heraus und trägt seine Söhne und Töchter siegreich über den Abgrund empor, in welchen die sinnenschmeichelnden Verlockungen der Abgefallenen sie hinabziehen zu können sich träumen ließen. Da „geht das Land nicht zu Grunde“, nicht in die Wüste flieht mit verzweifelnder Klage Elijahu, in jeder Hütte findet sein Geist seine Stätte und erhält das junge und das alte, das alte und das junge Geschlecht in nie sterbender Begeisterung bei ihrem Gott.
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Soll darum die Erinnerung an Jerusalems Fall uns einen Entschluss des Aufbaues und der Erhebung bringen, so sei es der Entschluss, die Kenntnis der Thora wieder zu unserem und unserer Kinder Gemeingut zu machen, diese Erkenntnis aber nur im Geiste der Birchath Hathora zu pflegen, לְבָרֵךְ בְּתוֹרָה und לְבָרֵךְ בַּתּוֹרָה תְּחִלָּה, dann wird dieser Geist, dessen Mangel Jerusalems Fall bereitet, wundermächtig Gottes Heiligtum wieder aus Schutt und Trümmern neu verjüngt erstehen lassen. —
[1] Jeremia 9:11
[2] Nedarim 81; Bava Mezia 85
[3] Jeremia 9:12
[4] Segenspruch
[5] Nedarim 81; Bava Mezia 85
[6] 4. Fastentag
[7] Fasten
[8] Jeremia 9:11
[9] Fußnote von Rabbiner Hirsch
[10] Deuteronomium 31:19 „lege ihn in ihren Mund,“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[11] Deuteronomium 32:15 “Da ward Jeschurun fett und da schlug es aus —….“
[12] Deuteronomium 32:15 „….— so oft du fett wardst, wurdest du feist und übermannt vom Fett“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[13] Jeremia 9:12
[14] Bava Mezia 85b
[15] Jeremia 9:12
[16] Segenspruch
[17] Erfüllung der Gebote
[18] Gesegnet seist Du … usw.
[19] ihrer selbst wegen
[20] ????????????
[21] „Groß ist die Lehre, denn sie führt zur Tat“; s. z.B. Kiddushin 40 b
[22] Chawer=rabbinisch Gebildeten
[23] Warnung
[24] Wikipedia: Bezeichnung eines jüdischen Kenners der rabbinischen Literatur, der nicht beruflich als Gelehrter arbeitet.
[25] Gottesfürchtigen
[26] Wikipedia: Elisa ben Abuja (auch: Elischa ben Abuja, hebräisch: אלישע בן אבויה; Beiname: Acher, der Andere, genannt, um ihn als Apostaten nicht mit Namen zu nennen; * vor 70 in Jerusalem) war ein als Häretiker verrufener Tannait der sogenannten 2. Generation.
[27] Wikipedia: Rabbi Meir Ba’al HaNes (hebräisch Erleuchtender, Eruwin 13b; sein eigentlicher Name soll, ebenfalls gem. Eruwin 13b, Meascha gelautet haben; auch Wundertäter genannt, s. u.; – vom Namen Meir ist der jüdische Name Meier abzuleiten) war ein führender Tannaite der 3. bzw. 4. Generation (2. Jahrhundert), d. h. einer der Verfasser der Mischna.
[28] Die Ich euch vorgelegt habe
[29] bevor
[30] Exodus 24:7 Alles, was Gott gesprochen, wollen wir tun und hören. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[31] Kämpfer
[32] Aus dem Morgengebet
[33] Wikipedia: Jerobeam I. war laut biblischem Bericht im 10. Jahrhundert v. Christus der erste König des Nordreichs Israel.
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