Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l wird nicht nur das Schawuothfest ausführlich besprochen, sondern auch begründet, warum das Judentum keine Religion ist.

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Jeschurun“, Heft 9, 1. Jahrgang, im Juni 1855.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2938721

זְמַן מַתַּן תּוֹרָתֵנוּ, שָׁבוּעוֹת

Am 6. und 7. Siwan ist זְמַן מַתַּן תּוֹרָתֵנוּ, ist das Fest unserer Gesetzgebung. Wo sind die Symbole dieses Festes? Wo ist die Bestimmung dieser Feier? Warum so kurz und flüchtig dieses Fest?

Pessach hat seine Mazzoth, Sukkoth Hütte und Lulaw, Rosch Haschanah seinen Schofar, Jom Kippur sein Fasten; wo hat Schawuoth seine Symbole?

Wie klar, bestimmt und deutlich die Schrift über Begriff und Bedeutung aller übrigen Feste; aber die Bestimmung des Schawuoth zum Fest der Gesetzgebung suchst du vergebens im schriftlichen Gotteswort.

Der Erlösung aus Ägypten eine ganze Festwoche, die in ihrer Vorbereitung und Ausführung fast einen ganzen Monat beschäftigt und das ganze häusliche Leben umwandelt — den Erhaltungswundern in der Wüste wiederum eine ganze Festwoche, deren Hüttenleben jedem Augenblick ihrer siebentägigen Dauer ihr äußeres Gepräge aufdrückt und die einst ein ganzes Volk mit den lautesten Kundgebungen des gottinnigsten Nationalgefühls durchdrang — und der Gesetzgebung, der Offenbarung der תּוֹרָה, diesem ersten, heiligsten, höchsten, alle anderen Heilswunder weit überragenden Grundmoment des jüdischen Nationaldaseins, diesem, Grund und Zweck und Ziel unseres ganzen Wesens in sich tragenden Faktum, diesem Fest aller Feste, dieser Feier aller Feiern, für welche wir die lauteste, feierlichste, prägnanteste, dauerndste Kundgebung aller Gefühle des freudigsten Bekenntnisses und der Hingebung und der Weihe hätten erwarten sollen — dieses Fest: Ein flüchtiger, lautlos und still vorübergehender Tag!

Woher gerade der תּוֹרָה diese Kürze, diese Stille, dieses Schweigen, diese Kargheit der Feier, diese Armut an Symbolen?

1. Einzigkeit der Thora

Warum kein Symbol der Thora? Aus demselben Grund, warum kein Symbol für Gott! כִּ֣י לֹ֤א רְאִיתֶם֙ כׇּל־תְּמוּנָ֔ה [1]Ihr habt keine Gestalt gesehen, als Gott zu euch am Horeb aus dem Feuer sprach!“ erinnert wiederholt und wiederholt Gottes Wort und warnt, warnt לְנַפְשׁוֹתֵיכֶם um des Heiles unserer Seele willen, Gott, diesen höchsten Gedanken des höchsten einzigen Wesens in keinerlei Bild, Symbol und Zeichen zu fassen. Bild, Symbol, jedes Zeichen umschränkt, begrenzt den Begriff des zu Bezeichnenden. Was Bild, Symbol, Zeichen soll ausdrücken können, muss mit irgend anderen Wesen in irgendeiner Gemeinschaft stehen, muss mit irgend anderen Wesen einem gemeinschaftlichen höheren Begriff unterliegen und von ihnen nur durch das Merkmal einer besonderen Eigentümlichkeit sich unterscheiden. Es muss dasselbe sein, was ein anderes ist; nur in einem höheren, geringeren Grad; in einer so und so verschiedenen, anderen Weise. Du nimmst das Merkzeichen jenes Allgemeinen, fügst das Merkmal dieses Besonderen hinzu, und sprichst: siehe, Das ist’s!

Gott aber, Gott, das Wesen, das Du, Jude, bei diesem Namen denkst, und dessen Gedanke dich mit dem Schauer der Seligkeit erfüllt, ist einzig, hat keine Gemeinschaft mit irgend anderen Wesen, ist von keiner Art, ist nicht auch ein Gott, etwa nur der höchste, mächtigste Gott unter Göttern, dass du das Zeichen eines sonst auch Hohen nehmen, und das Merkmal der besonderen Hoheit und Größe deines Gottes hinzufügen und dann etwa sprechen könntest: seht, das ist unser Gott!

So nicht! Gott ist einzig, ist nur Gott, ist ausschließlich Gott, ist so Gott, dass, wenn du bei diesem Namen Ihn, den Einzigen, denkst, du mit diesem Namen fortan nichts anderes bezeichnen kannst — und darum kannst du Gott mit keinem Bild, mit keinem Symbol bezeichnen, und darum verleugnest du Gott, wie du Zeichen und Symbol für Ihn aufstellen wolltest, und darum kannst du Ihn nur denken und sprichst nicht einmal in Gedanken seinen unaussprechlichen, unnahbaren Namen aus.

Also aber auch Seine Thora. Auch sie ist einzig wie Gott, ihr Schöpfer. Sie hat keine Gemeinschaft mit anderen Gesetzen, Lehren, Veranstaltungen, Institutionen, unterliegt nicht mit anderen einem höheren Begriff und unterscheidet sich von ihnen etwa nur durch die besondere Art ihres Seins, dass du nun etwa das Zeichen jenes gemeinschaftlichen Höheren nehmen, und das Merkmal dieses Besonderen hinzufügen und sodann sprechen könnest: siehe, das ist unsere Thora, das ist jüdische Thora!

So nicht. Die Thora hat keine Art, gehört zu keiner Gattung, sie ist einzig und, wie Gott, nur sich selbst vergleichbar. Sie ist einzig, ist nicht auch eine Thora, auch eine Religion, auch ein Gotteswort oder welch anderen Gattungsbegriff du wählen möchtest; sie ist nur sich selbst zu vergleichen, so einzig nur in ihrer Art, dass jedem Namen, bei welchem du sie, die Einzige, denken möchtest, du sofort zur Bezeichnung keines anderen Begriffes gebrauchen könntest. Für die Thora gibt es kein Symbol, kein Zeichen, fast kein Wort, — jedes Symbol, jedes Zeichen risse sie aus ihrer Einzigkeit, unterwürfe sie einer Gemeinschaft, die ihre Wesenheit bis zur Vernichtung verleugnete — und darum hat ihr Fest, hat Schawuoth, hat das Fest der Thora — kein Symbol!

Siehe da den Reichtum dieser Symbol-Armut! Siehe da das unerschöpflich Bedeutsame der Zeichenlosigkeit dieses Festes! — und siehe da den ersten Gedanken, mit welchem dieses Fest dich grüßt: Gedenke der Einzigkeit der Thora!

O, es hat nicht gutgetan, seitdem man diese Einzigkeit der Thora vergaß und sie in Symbol und Wortzeichen fasste. Seitdem בְּכָל יוֹם וָיוֹם בַּת קוֹל יוֹצֵאת מֵהַר חוֹרֵב …. אוֹי לָהֶם לַבְּרִיּוֹת מֵעֶלְבּוֹנָהּ שֶׁל תּוֹרָה [2], seitdem tönt die Klage täglich am Berge Horeb: weh den Menschen ob der Schmach und Verkennung der Thora!

Die Weisheit des Menschen besteht so sehr fast nur im Generalisieren, im Verallgemeinern, im Auffinden des allgemeinen Begriffs, dem sich  das Besondere, als Art, als Spezies, als Individuum unterordnet — er ist so sehr gewohnt, sein Bewusstsein von einem Gegenstand oder einer Erscheinung nur dann als eine Kenntnis desselben zu bezeichnen, wenn es ihm gelungen ist, den allgemeinen Begriff, welchem er den Gegenstand, oder das allgemeine Gesetz anzufinden, welchem er die Erscheinung einzureihen vermochte, — es ist ihm die Individualität eines jeden Wesens überhaupt ein so mit sieben Siegeln verschlossenes Rätsel — denn der Mensch kennt und begreift auch von jedem Individuum nur das Allgemeine — und nun gar ein Einziges, ein jeder Analogie sich Entziehendes, ein Wesen, eine Erscheinung, die nur individuell wäre, die sich mit nichts anderem einem gemeinschaftlichen höheren Begriff unterordnen, und auf welche daher keine der anderweitig erkannten Gesetze und Vorstellungen sich anwenden ließen, widerstrebt so sehr allen seinen in anderen Bereichen gemachten Erfahrungen — dass, als ihm nun im Judentum, — im Gott dieses Judentums, in der Thora dieses Judentums und in dem Juden, dem geschichtlichen Träger dieses Judentums, — ein solches Einzige, ein solches rein Individuelle entgegentrat, er nun nicht dieses Einzige in seiner reinen Besonderheit zu erkennen und zu würdigen sich bemühte, sondern mit rascher Gedankenlosigkeit auch diesem Einzigen das Netz seines anderweitigen Schematismus über den Kopf warf, auch dieses Einzige seinen anderweitig geltenden Gattungsbegriffen und Bezeichnungen unterwarf, damit aber sich für immer die Kenntnis und Erkenntnis dieses Einzigen vernichtete. Denn sofort nahm er nun diese Bezeichnung, diesen Namen, dieses Wort für das wirkliche Gepräge, für das wirkliche Wesen dieses Einzigen, wendete alle Schlüsse, alle Folgerungen aus diesem Namen nun auch auf dieses Einzige an, dem er doch nur gedankenlos diesen Namen ausgeprägt, und kam nie zu der Erkenntnis, dass ja die ganze Anwendung dieser Schlüsse und Folgerungen auf dieses Einzige eine Lüge — weil die Namengebung, die Bezeichnung unwahr.

2. Religion

Religion“ nennt man die Thora, jüdische Religion; bezeichnet doch dieser Name in allen übrigen Kreisen die Beziehung des Menschen zu seinem Gott oder seinen Göttern, ist doch dieser Name in allen übrigen Kreisen mit Würde und Heiligkeit bekleidet; konnte man einen ehrwürdigeren, heiligeren Namen für die Thora finden? Und doch hat man mit diesem Namen das Wesen der Thora getötet. So lange Menschen auf Erden atmen, hatten sie Religion. Der Heide, der seinen Fetisch anbetet, der Wilde, der sich seinen Gott aus Honigteig knetet und mit Menschenblut bemalt, der Grieche, der ihn aus Gold und Elfenbein meißelt und ihm die Erfindung seiner Künste und die Übung seiner galanten Laster andichtet, bis hinan zu den Bekennern der beiden Institutionen, die aus der Vermählung einiger Thoragedanken mit vorgefundenen Vorstellungen und Begriffen im Kreis der Menschen sich erzeugt — alle diese hatten und haben Religion. Selbst der Gottesleugner, der Religionsverächter hat noch vielleicht Religion; denn er leugnet vielleicht nur die Vorstellungen, die die übrigen Menschen von Gott haben, verachtet vielleicht nur die Religion, die er bei den übrigen Menschen vorhanden findet, oder vorhanden glaubt. Denn „Religion“ nennt man ja jede Vorstellung, die Menschen sich von der Gottheit und von ihren Beziehungen zu dieser Gottheit gebildet haben und bilden. Die „Religionen“ der Menschen sind daher menschliche Produkte, Erzeugnisse des menschlichen Geistes und Gemütes, und darum gibt es eine Genesis, eine Entwicklungsgeschichte der Religion und Religionen, wie es eine Geschichte der Sprachen, der Künste und Wissenschaften gibt. Die Religion eines Volkes steigt und fällt mit den übrigen Kulturstufen desselben. Die „Religion“ bildet selbst nur einen Teil dieser Kultur, ja ist ganz eigentlich bedingt durch dieselbe. Je vernünftiger, je veredelter die Menschen, um so vernünftiger und edler wird ihre Vorstellung von der Gottheit und ihren Beziehungen zu derselben sein. Keine „Religion“ kann daher bei ihrem Entstehen das Kulturmaß des Volkes überragen, unter welchem sie entsteht, keine „Religion“ in ihrem Beginn im vollendeten Widerspruch mit den Vorstellungen, Neigungen und Lebensansichten dieses Volkes stehen, keine „Religion“ die Geister und Gemüter dieses Volkes erst zu sich erziehen; denn sie ist ja eben nur Gewächs aus dem Boden seines Geistes und Gemütes; sie ist ja von der Kulturstufe des Volkes bedingt, und wird mit dessen Fort- und Rückschritten Schritt zu halten haben.

Und die Thora, die nicht aus der Brust der Sterblichen entsprungen, die das Wort des Gottes des Himmels und der Erde an den Menschen ist, die von vornherein so sehr die Kulturstufe ihres Volkes überragte, dass sie seit den mehr als dreitausend Jahren ihres Daseins noch nie eine Zeit dieses Volkes gehabt, die ihr ganz adäquat gewesen, in welcher sie bereits ihre volle Vollendung und Wirklichkeit gefunden, die vielmehr das über Jahrtausende hinaus hochaufgesteckte Höheziel ist, zu welchem dieses Volk durch alle Gänge seines Geschickes inmitten aller Volker erzogen werden soll, — die diese Mangelhaftigkeit und Erziehungsbedürftigkeit ihres Volkes von vornherein vorausgesetzt, ausgesprochen und voraus verkündet, — für deren Göttlichkeit und „Einzigkeit“ nichts daher also ewig zeugt, als eben der fortgesetzte, wiederholte Abfall, die fortgesetzten, wiederholten Kämpfe, in welchen diese Thora die ganze erste Generation ihres Volkes den Untergang finden lassen, sich erst  das jüngere Geschlecht zu ihrem Fortträger erwählen konnte und so auch noch heute fort und fort alle Geschlechter ihres Volkes überdauert und des künftigen Geschlechtes noch ausharrt, das einst am Ziel der Tage für sie vollends reif dastehen wird, — diese Thora, die daher von vornherein ihren außermenschlichen Ursprung dokumentiert, die daher keine Entwicklung und keine Geschichte hat, deren Volk vielmehr allein eine Geschichte hat und dessen Geschichte eben nichts anderes ist, als die fortgesetzte Erziehung zu der unwandelbar ewigen Höhe dieser Thora, — diese Thora, die daher nichts gemein hat mit allem was im Kreis der Menschen sonst mit dem Namen Religion“ bezeichnet wird, diese Thora sollen wir gleichwohl ,,Religion“ nennen, und sie mit diesem Namen in den Kreis menschengeschichtlicher Erscheinungen, in die sie nicht gehört, einreihen, und in deren Kreis man dann auch ihr mit der Frage begegnet: und du willst ewig dieselbe bleiben? alle Religionen verjüngen sich und schreiten fort mit dem Fortschritt der Völker, und nur die jüdische Religion will starr und immer die alte bleiben und sich den Ansichten einer erleuchteteren Zeit nicht fügen? usw. usw.

Alle diese Fragen hätten Wert und Bedeutung, wenn die Thora Religion der Juden“, d. h. die Vorstellung wäre, welche die Juden einer gewissen Zeit von Gott und von den Beziehungen der Menschen zu Gott gehabt. Alle diese Fragen sind aber gedankenlos und nichtig, weil die Thora einziges, ewiges Wort des einzigen, ewigen Gottes des Himmels und der Erde ist und nicht die Vorstellung enthält, die die Juden einmal von Gott und ihren Beziehungen zu ihm gehabt haben, sondern die sie nach dem Willen eben dieses einzig ewigen Gottes zu allen Zeiten haben sollen.

3. Religion

Religion“ nennt man die Thora, „jüdische Religion“ — aber was man in allen Kreisen sonst „Religion“ nennt,  das ist vorzugsweise ein Inneres, Gedanken sind es, wie wir gesehen haben, Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle, die der Mensch von der Gottheit und von seinen Beziehungen zu dieser Gottheit in seinem Innern trägt, — und was sich an äußeren Handlungen mit diesem Inneren verbindet, das ist dort nur Form, kann dort nur Form, und somit nur  das Unwesentliche, ja  das Gleichgültige sein; muss es ja auch in der Tat gleich gelten, in welcher Form — zu seiner eigenen Befriedigung — dieses Innere sich äußert; ist nur der Gedanke wahr, die Vorstellung richtig, die Empfindung rein,  das Gefühl edel, so ist jede Form die beste, in welcher dieses Innere sich am klarsten und befriedigendsten ausgedrückt findet, und so muss auch diese Form mit dem Wechsel und Wandel dieses Inneren wech- seln und wandeln —, und weil dies nun in allen anderen Gebieten so ist, und naturgemäß gar nicht anders sein kann, und weil man nun auch der Thora fälschlich den Namen „Religion“ gegeben und sie eben mit diesem falschen Namen mit in den Kreis jener Gebiete — in die sie nicht gehört — hinübergezogen, will man nun auch die Thora,  das einzige, ewige Wort des einzigen, ewigen Gottes in den Schmelztiegel eines solchen Scheidungsprozesses werfen, will man auch dort Wesentliches, Ewiges, von Vergänglichem, Gleichgültigem scheiden, will man auch dort ein paar Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle heraussondern und sprechen: seht, das ist der Kern, darauf allein kommt es an; alles andere ist nur Form, und somit gleichgültig, und muss wechseln und wandeln, wie wir im Wechsel der Zeiten uns wandeln und wechseln — —  Das ganze einzige Wesen dieser Thora und jedes Wort dieser Thora straft aber diesen ganzen Prozess gedankenlosester Vermessenheit Lügen!

Mitnichten zuerst hat diese Thora es vorzugsweise mit unserem Inneren zu tun, mitnichten ist ihr unser Inneres mit seinen Gedanken und Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen das Wesentliche, der eigentliche Kernpunkt ihrer Institutionen, um das sie alles andere nur als unwesentliche Form, als Rahmen, Schale oder Hülle füge! Was sie regeln will, ist nichts weniger als der ganze Mensch, der ganze Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen, aber auch mit seinen sinnlichen Trieben und Begierden, mit seinen sinnlichen Bedürfnissen und Genüssen, mit seinem seelisch-leiblichen Einzelleben, so wie mit den Beziehungen seines ehelichen, häuslichen Familienlebens und mit seinem menschengesellschaftlichen Gemeinde- und Staatenleben! Es ist das einzige Wort Gottes an den ganzen Menschen, für den ganzen Menschen!

Die speziellen Aussprüche dieser Thora für unser Gedanken- und Gefühlsleben ließen sich bequem auf die eine Seite eines mäßigen Quartblattes[3] verzeichnen und 99/100 ihrer 613 Sätze[4] wären nichts als vergängliche, gleichgültige Form!

Der hat ferner nie mit Ernst in diese Thora geblickt, der nicht wüsste, mit welchem Ernst, mit welch ernstestem Ernst — im Gegensatz zu allem, was sonst Religion heißt, und eben weil sie nicht Religion ist — sie gerade die Beachtung ihrer Vorschriften in Betreff äußerer Handlungen fordert, und ganz besonders in Beziehungen des leiblichsten, sinnlichsten Lebens, Beziehungen, die am weitesten fern ab von dem Gebiet liegen, in welchem das, was man sonst Religion nennt, seine Stätte findet, wie z.B. die Speisegesetze, die Gesetze über den leiblichen Umgang der Geschlechter usw., usw. Wahrlich, wahrlich, es müsste erst unserer Zeit gelingen, dem Volk Gottes das Buch seiner Thora in Wahrheit zu einem סֵפֶר חֲתוֹם, zu einem „dem Laien“ „verschlossenen“ Buch zu machen, ehe es ihr gelingen wird, ihm seine Thora zu entreißen und sie in dem Tiegel ihres scheidekünstlerischen Prozesses zu einer „Religion“ von ihrer Mache zu verflüchtigen!

Und endlich gerade diejenigen Gesetze dieser Thora, die sich selbst als Ausdruck eines Gedankens, somit als Symbol, oder, mit der Zeit zu sprechen, als „Form“ ankündigen, wie z.B. Sabbath, Feste, Opfer usw. wie ist gerade ihnen der offenste, klarste Gegensatz zu allem aufgedrückt, was der Name Religion bezeichnet, wie steht gerade da die Anwendung dieses Namens auf die Thora in ihrer vollen Nichtigkeit da? Wie steht gerade da die Form“ in ihrer Wesenheit, Ursprünglichkeit, Ewigkeit!

Weil „Religion“ der Gedanke des Menschen ist, der in symbolischer Handlung seinen Ausdruck findet, darum ist in der „Religion“ dieser Gedanke das Erste, Ursprüngliche, Wesentlichste und die äußere symbolische Handlung das Spätere, Erzeugte, Untergeordnete, Gleichgültige. Weil aber die Thora in diesen Gesetzen der Gedanke Gottes ist, den Gott dem Menschen in der von Ihm angeordneten symbolischen Handlung zur innigsten Aneignung darreicht, der also durch die symbolische Handlung in dem Menschen erst erzeugt werden soll, darum ist in der Thora diese symbolische Handlung das Erste, Ursprünglichste, Wichtigste, ist eine Gottessprache an den Menschen, ist ein Gottesdokument, das mit diplomatischer Genauigkeit und Authentizität zu erhalten und zu vergegenwärtigen ist, damit der Mensch es studieren und daraus die von Gott darin niedergelegten Gedanken schöpfen und sich aneignen könne.

Wer daher z.B. im jüdischen Kreis die Schöpfung der Welt von Gott mit Worten geleugnet, wurde noch nicht von dem Strahl der Strafgerechtigkeit der Thora getroffen; denn auch wenn er sie mit Worten bekannt, in Predigten verkündet und in lyrischen Gedichten gefeiert, hätte er noch seiner Thorapflicht nicht genügt. Beides erschiene nur eben als Religion“, als Gedanken und Vorstellung, als Glaube“ wie die Welt spricht, als momentanes Dafürhalten eines Menschengeistes. Der Geist des Menschen und sein Dafürhalten aber wechselt und wandelt. Der Gottesleugner von heute kann sich morgen zur Gotteshymne begeistern. Der Hymnendichter von gestern kann heute durch die indes fortgeschrittene „Naturkenntnis“ zu der „Überzeugung“ kommen, seine Hymne von gestern sei kindische Torheit gewesen. Wer aber den Sabbath in der symbolischen Gottessprache des [5] אִסּוּר מְלָאכָה gefeiert, hat eben diese Wahrheit der Weltschöpfung nicht als ein Dafürhalten der Menschen, sondern als eine Offenbarung dieses Weltschöpfers an den Menschen dokumentiert, und somit sich und der Menschheit eine Denksäule erhalten, auf welche noch die Söhne und Enkel sich zur freudigsten Gottinnigkeit empor zu retten vermögen, wenn ringsum der Irrtum und der Wahn einer die Grenzen ihres eigentümlichen Gebietes verkennende Forschung in trostlose Versunkenheit ihre Opfer begraben. Und hinwieder, wer diese symbolische Sabbathfeier verletzt, hat sich und anderen das Gottesdenkmal zertrümmert, das Gottesdokument zerrissen, das den Gottesgedanken nicht als „Religion“, nicht als ein menschlich Dafürhalten, sondern alsThora“, als fetische Gottesoffenbarung an den Menschen zu verewigen bestimmt ist.

Gerade diese „Formen“ der Thora sind es daher, die ihre Wahrheiten als Gottesoffenbarungen, als „Thora“, bewahren und sie vor ihrem Umschlagen in ihr gerades Gegenteil, vor ihrem Verflüchtigen in „Religion“ schützen; und da sie nicht die Zeichen sind, in welchen der Mensch seine wandelnden Gedanken und Gefühle ausdrückt, sondern die Zeichenschrift sind, in welche Gott Seine weiterlösenden und weltbauenden Wahrheiten für den Menschen niedergelegt, darum ist nichts so gerechtfertigt als die treueste, gewissenhafteste Erhaltung und Vergegenwärtigung dieser „Formen“, damit Geschlecht nach Geschlecht deren noch niemals ganz erschöpfte Inhaltsfülle sich zu immer vollerem Bewusstsein bringe — und darum ist nirgends die Willkür verderblicher, als  eben dort, da ein Nichtbeachten des בַּל תּוֹסִיף und בַּל תִּגְרַע [6] hinsichtlich der Bestandteile dieser Formen (האומר אין תפלין וכו‘ פטור, חמשה טוטפות וכו‘ חייב; סנהדרין כח‘ ב‘[7])  als Fälschung des heiligsten Gottesvermächtnisses an den Menschen dastehen würde.

4. Theologie

Wie aber der Name Religion der Thora verderblich wurde, weil man ihn derselben beilegte, ohne zu bedenken, dass ihren innersten Wesen nach sie im geraden Gegensatz zu dem ganzen Kreis von Erscheinungen steht die der Name Religion gemeinsam umschließt, und man sodann in gleicher Gedankenlosigkeit für sie aus diesem Namen Konsequenzen zog, als ob dieser Name in Wirklichkeit ihr Wesen enthielte, ebenso wird sie auch durch andere Bezeichnungen gefährdet, die man aus ganz anderen, ihr fremdartigen Gebieten auf sie oder ihre Institutionen überträgt, und ihr damit zugleich eine Charakteristik und Verhältnisse andichtet, die ihr, ihrem ganzen Wesen nach, auf ewig fremd sind.

Man nennt die Thora „Theologie„, „jüdische Theologie“, — Theologie bezeichnet aber die Lehre von „Gott“, das System dessen, was die Menschen von Gott wissen. Und weil nun „Gott“ der höchste Begriff ist, zu dem sich der denkende Menschengeist zu erheben vermag, und weil das, was die Menschen von den „göttlichen Dingen“ wissen, oder zu wissen vermeinen, dem gewöhnlichen Gedankenkreis so fern, dem gewöhnlichen Fassungsvermögen so hoch erschien, dass „der gewöhnliche“ Mensch diesem Wissen von den göttlichen Dingen, dieser „Theologie“ sich nicht zu nahen — wagte — brauchte — durfte, bildete sich ein eigener Kreis von Trägern dieses Wissens, die in diesem Wissen ihren „Beruf“ ihren „Stand“ und ihren — Nimbus fanden, der sie wie mit elektrischer Wolkenatmosphäre vom Volke schied, das von dem Wissen um die göttlichen Dinge nur die Brosamen aufzulesen hatte, die sie ihm von ihrer Höhe herab zu spenden — für gut und dienlich und heilsam erachteten. Kurz, die Theologie erzeugte und erzeugt überall Theologen, denen das Volk als Laien, als die Nichtwissenden, als die nicht zum Wissen um die göttlichen Dinge — Berechtigten? — Verpflichteten? — gegenüberstand — und steht.

Nun gibt es aber wiederum keine größere Gedankenlosigkeit als die Thora: Theologie,“ sei es auch jüdische Theologie“ zu nennen. Theologie enthält die Gedanken des Menschen von Gott und den göttlichen Dingen. Die Thora aber enthält die Gedanken Gottes von den Menschen und den menschlichen Dingen. Von „Gott und den göttlichen Dingen“ enthält die Thora nur wenig, von der Wesenheit Gottes an sich und von den überirdischen göttlichen Dingen an sich aber gar nichts; nur was Gott uns sei, was Er dem Weltall im Ganzen und jedem Wurm und jeder Menschenhütte und jedem Menschengeist und Gemüt insbesondere sei, aber vor allem was nun dieses Weltall Ihm, und in diesem Weltall die Erde, und auf Erden die Menschheit und im Kreis der Menschheit Israel, und was in Israel ein jeder von uns Ihm, Gott, dem, Weltall und Erde und Menschheit und Israel regierenden Einzigen, sei und sein solle, wie ein jeder von uns und wir alle zusammen alle unsere „menschlichen Dinge„, unsere geistigen, seelischen, leiblichen, häuslichen, gesellschaftlichen Verhältnisse auf Erden zu ordnen, zu entwickeln und zu vollenden haben, auf dass alle unsere menschlichen Dinge“, unser ganzes irdisches Sein und Streben ein gottgeweihtes Heiligtum werde und Gottes Herrlichkeit in unsere irdische Mitte einziehe und unsere Seligkeit nicht erst jenseits beginne, sondern schon hier auf Erden wir der Paradiesesseligkeit teilhaftig werden — [8] וְעָ֥שׂוּ לִ֖י מִקְדָּ֑שׁ וְשָׁכַנְתִּ֖י בְּתוֹכָֽם — diese Lehre von dem Menschen und den menschlichen Dingen offenbart die Thora, und ist daher für jeden da, spricht mit jedem von seinen eigenen, eigensten Verhältnissen, will ihm nicht zeigen, wie es im Himmel aussieht, sondern will ihm sagen, wie es in seinem Haus und seinem Herzen aussehen soll, und rechnet daher auf jeden und verpflichtet daher einen jeden zu ihr zu kommen und aus ihr zu schöpfen bei Tag und Nacht und kennt daher keine Geistlichen und Laien, kennt nur ein heilig Volk und ein ganzes Reich von Priestern und spricht zu jedem:

כִּ֚י הַמִּצְוָ֣ה הַזֹּ֔את אֲשֶׁ֛ר אָנֹכִ֥י מְצַוְּךָ֖ הַיּ֑וֹם לֹא־נִפְלֵ֥את הִוא֙ מִמְּךָ֔ וְלֹ֥א רְחֹקָ֖ה הִֽוא׃ לֹ֥א בַשָּׁמַ֖יִם הִ֑וא לֵאמֹ֗ר מִ֣י יַעֲלֶה־לָּ֤נוּ הַשָּׁמַ֙יְמָה֙ וְיִקָּחֶ֣הָ לָּ֔נוּ וְיַשְׁמִעֵ֥נוּ אֹתָ֖הּ וְנַעֲשֶֽׂנָּה׃ וְלֹא־מֵעֵ֥בֶר לַיָּ֖ם הִ֑וא לֵאמֹ֗ר מִ֣י יַעֲבׇר־לָ֜נוּ אֶל־עֵ֤בֶר הַיָּם֙ וְיִקָּחֶ֣הָ לָּ֔נוּ וְיַשְׁמִעֵ֥נוּ אֹתָ֖הּ וְנַעֲשֶֽׂנָּה׃ כִּֽי־קָר֥וֹב אֵלֶ֛יךָ הַדָּבָ֖ר מְאֹ֑ד בְּפִ֥יךָ וּבִֽלְבָבְךָ֖ לַעֲשֹׂתֽוֹ׃ [9]

„Was ich dir heute gebiete, liegt dir nicht zu hoch und zu fern, spricht nicht von himmlischen Dingen, dass du sprächest, wer erhübe sich für uns zum Himmel und  erfasste es für uns und gebe es uns zu verstehen, dass  wir es übten; spricht auch nicht von überseeischen Dingen, dass du sprächest, wer durchschiffte für uns das Weltmeer und erfasste es für uns und gäbe es uns zu verstehen, dass wir es übten; vielmehr dir selbst unendlich nahe ist mein Wort, mit deinem Munde und deinem Herzen, es zu erfüllen.“ —

Und also hat es gegolten in Israel, solange man die Thora nichtTheologie“ nannte. Seitdem sie „Theologie“ geworden, haben auch wir Theologen und Laien bekommen, und die Thora, die früher Hausschatz einer jeden Hütte und eines jeden Palastes in Israel gewesen und dadurch die Seele des ganzen Volkes war, hat sich aus den Hütten und Häusern und Herzen des Volkes — in die Studierstube und den Talar eines Theologenstandes geflüchtet und hat ihre Bedeutung fürs Leben verloren.

Warum lernt dein Kind nicht Chumasch?“ Es soll kein Theologe werden!“ Darin liegt der ganze Jammer der Zeit.

5. Kultus

Kultus“ nennt man die Institutionen der Thora, „israelitischen Kultus„. „Kultus“ aber bezeichnet überall gewisse Handlungen, wodurch Menschen zu gewissen Zeiten an gewissen Orten der Gottheit ihre Verehrung bezeugen. Und weil nun in diesen anderen Kreisen diese Handlungen, Zeiten und Orte fast die einzigen, oder doch die vorzüglichsten, höchsten Momente bilden, durch welche und in welchen die Menschen sich in Beziehung zu ihrer Gottheit setzen, weil somit diese Handlungen jedenfalls den Gipfel, die Blüte der Gottesverehrung bilden, stehen naturgemäß diese Handlungen als die heiligsten da, und diese Beziehung zur Gottheit prägte den Zeiten und Orten denselben Charakter der Heiligkeit auf. Gotteshäuser und Gottesdienst sind das Denkmal und der Ausdruck der „Frömmigkeit“, d.h. der gottverehrenden Gesinnungen der Menschen; die Pracht der Gotteshäuser, die Herrlichkeit des Gottesdienstes werden die Gradmesser dieser Gesinnung, denn sie dokumentieren ja, mit welchen Opfern und mit welcher Hingebung die Menschen der Gottheit ihre Verehrung bezeigen und welchen Wert sie auf diese Verehrungsbezeugungen legen.

Im jüdischen Kreis aber, in dem Kreis, der von den Institutionen der Thora getragen ist, bilden die Gotteshäuser und der Gottesdienst, bildet der „Kultus“ nur ein untergeordnetes Moment, ja hat gar nicht die Bedeutung, die anderweitig „Kultus“ bezeichnet und erfüllt hier gar nicht die Zwecke, deren Verwirklichung er anderweitig dient. Den Gottesdienst der Thora bildet das Leben, und Gott verehren heißt — Gott gehorchen. Nicht daran, wie du ihm Sein Haus erbaust, wie du ihm Seinen Tempel schmückst, wie du Ihm da Lieder singst, wie du Ihm da Hymnen betest — sondern daran will Er dich erkennen, ob du der Seine bist, daran: ob und wie du Ihm Dein Haus erbaust, ob und wie du Ihm dein Haus weihst, ob und wie du ihm da, im Leben, in deinem Haus, deiner Ehe, deiner Kindererziehung, deiner Familie, deinem ganzen menschengesellschaftlichen Verkehr, ob und wie du Ihm da mit deinem Denken und Fühlen, deinem Reden und Handeln, deinem Erwerben und Genießen, ob und wie du Ihm da mit diesem allen mit ganzer, freudigster Hingebung dienst, da Seinen dir geoffenbarten Willen erfüllst, ob, und wie du Ihm da gehorchst, daran will Er dich erkennen. Das Zeichen der Verehrung, das Er von dir erwartet, heißt Gehorsam, wie der Herr vom Diener, wie der Meister vom Schüler, wie der Vater vom Sohn. Tempel, Gotteshaus, Gottesdienst, Ihm bezeugen sie nichts, dir zu zeugen sind sie da, dich zu mahnen an deinen Gott, dir zu bezeugen deine Aufgabe, dich zu retten aus den Schwankungen des Lebens, dich zu sammeln vor deinem Gott, להת פלל , dich — zu — besinnen, dir das von Wahn und Irrtum ungetrübte, reine Bewusstsein von deinem Wesen und deiner Bestimmung und deiner ganzen Beziehung zu Gott immer neu zu schaffen, dich dort zu rüsten für die Verehrung deines Gottes im Leben, dazu sind die jüdischen Gotteshäuser. Nicht für Gott, für dich sind sie da. Denn Gott ist nur da und ist überall da, wo man ihn Gott, d.h. wo man Ihn Herrn und Meister und Vater sein lässt, wo man sich mit freudiger Seele Seiner Herrschaft und Leitung hingibt, wo man sich mit freudiger Hingebung von Ihm beherrschen und belehren und leiten lässt, wo man Ihm Diener ist und Schüler und Kind. Freilich aber darum auch, wenn dein Gotteshaus für dich da ist, dann ist es auch für Gott da, wenn du dort nicht Ihm Hymnen und Lieder und den verduftenden Weihrauch deiner Verehrungsandacht streuen willst, sondern, wie der jüdische Ausdruck ist, [10] מְשַׁעְבֵּד לִבְּךָ לְאָבִיךָ שֶׁבַּשָּׁמַיִם du dort dich ihm erneut hingibst, dort dein Herz, dein ganzes Wesen wieder erneut in den Dienst deines Gottes fürs Leben bringst, dann, wenn du dich dort wieder findest, und dort Gott dich wieder finden lässt, findest du auch Gott dort wieder. „Wenn Ich dort bin“ mahnte sich Hillel, dann ist auch alles da! Aber wenn Ich nicht dort bin, was und wer wäre denn da?!“

Hat doch die Thora nicht unsere Gotteshäuser und unseren Gottesdienst angeordnet, fordert doch die Thora nur einen Nationaltempel und ein dreimaliges Dorterscheinen[11] im Jahr, und war dieser Tempel und was dort geschah ja so durch und durch nur Gottes Zeugnis an uns, [12] , עֵדוּת so durch und durch nur symbolische Ansprache Gottes an die Nation und durch die Nation an jedes Glied derselben, war so durch und durch nur ewige offene Bezeugung dessen, was wir zu tun haben, auf dass unser ganzes Leben [13] לֶחֶם אִשֶּׁה „Nahrung des Göttlichen auf Erden werde“, und unser ganzes Wesen sich [14] לְרֵיחַ נִיחוֹחַ zum höchsten Wohlgefallen Gottes vollende, war so wenig geeignet Gott unsere Verehrung zu bezeugen, dass ja dem Ausdruck dieser Gesinnung gar kein Spielraum gelassen war, alles vielmehr bis auf das kleinste Gerät und die kleinste Handlung in festen Normen sich bewegte und Gehorsam“ der Grundtypus jenes Tempels und seines Dienstes ausmachte!

Synagogen, בָּתֵּי כְּנֵסִיּוֹת „Versammlungshäuser“, sind aus dem Bedürfnis der Nation hervorgegangen, in ihren einzelnen Kreisen sich täglich vor Gott — um die Thora — zusammen zu finden, sich durch gemeinsame [15] קְרִיאָת הַתּוֹרָה und [16] תְּפִלָּה täglich wiederholt an ihre gemeinsame große Aufgabe zu mahnen und sich gemeinsam für diese große Aufgabe zu rüsten, fern vom „Tempel“ sich das im Worte zum Bewusstsein zu bringen, was der Tempel und sein „Kultus“ symbolisch lehrte. Und eben weil unsere Gotteshäuser und unser Gottesdienst nicht unsere eigentliche Gottesverehrung ausmachen, sondern nur die Rüsthäuser und Rüstzeiten und Rüsthandlungen für die Verehrung Gottes durch das Leben bilden, darum sind auch Israels Gotteshäuser nicht Israels heiligste Räume, stehen vielmehr an Heiligkeit den [17] בָּתֵּי מִדְרָשׁ, jenen Räumen nach, die dem Lehren und Lernen der Thora, die dem Erforschen und Erkennen des göttlichen Willens für ein Gott verehrendes Leben geweiht sind.

So lange daher man in Israel noch eine höhere Gottesverehrung als die durch Gottesdienst im Gotteshaus kannte, so lange die Gottesverehrung nicht zu Ende war wenn man das Gotteshaus verließ, sondern die Gottesverehrung erst wahrhaft begann wenn man vom Gotteshause ins Leben zurücktrat, so lange die Thora nicht in den Aron Hakodesch gebannt, sondern in den Herzen und Hütten und im Leben Israels lebte, so lange verkannten und überschätzten unsere Väter nicht die Bedeutung und den Wert der Gotteshäuser, so lange legten sie nicht einen so unendlichen Wert auf den Eindruck, den  das Gotteshaus und der Gottesdienst auf andere machte, sondern freuten sich der Frucht, die ihnen im Gotteshaus reifte, so lange schmückten sie nicht Gotteshaus und Gottesdienst wie ein Opfer heraus, das sie Gott darbrachten und dessen äußeres kostbares Gepränge den frommen Sinn des Darbringenden zu bezeugen hätte — sie kannten ganz andere Opfer, die sie in den heißen Kämpfen des Lebens und in dem stillen, Gott dienenden Wirken und Schaffen des ganzen leiblich geistigen Strebens des Einzel-, Familien- und Volkslebens zu vollbringen hatten, und an denen allein Gott sie erkennen wollte, dass sie die Seinen seien. Sie gingen nicht ins Gotteshaus um zu singen, um — Gott ein Lied vorzusingen; sie gingen ins Gotteshaus um mit Gott zu sprechen, oder vielmehr um Gott mit sich sprechen zu lassen, Gottes Worte, Gottes Menschenleben gestaltende Gedanken in sich neu zu beleben; es war eine Arbeit, die jeder an sich zu vollenden hatte, was ihn ins Gotteshaus rief, sich neu in den Quell des Lebens zu tauchen, sein geistiges inneres Leben neu zu erfrischen, sein inneres geistiges Wachstum neu zu fördern — [18] שִׂיחָה geistiges Wachstum nannten die Alten תְּפִלָּה das Gebet, [19] שְׁתוּלִים  „pflanzen“ wollten sie sich, ihre Wurzeln befestigen im Gotteshaus, aber die Blüte und Frucht sollte „draußen in den Vorhöfen“, in der Umgebung, in dem Leben reifen,  das in dem Umkreis des Gotteshauses zu leben war. — Da hatte freilich ein jeder zunächst mit sich zu tun, diese geistige Arbeit an sich zu vollenden. Da hatten sie freilich nicht immer Zeit an den Nachbar zu denken, zu denken daran, dass sie nun auch das Wort, dass sie zunächst an sich zu richten hatten, es geistig in sich aufzunehmen, bei Leibe um keine Tonhöhe lauter als der Nachbar sprächen, hatten nicht Zeit darauf zu achten, dass jeder mit dieser geistigen Selbstbearbeitung auch im Takt mit dem Nachbar bliebe, noch viel weniger Zeit daran zu denken, was nun diese lebendig erregte Selbstbearbeitung einer Menge für einen Eindruck aus den kalten, fremden, nicht mitbetenden Zuschauer machen würde. — Wohl mochte mancher die seltsam laute Judenschule belächeln; aber er kannte nur die Dissonanz die seine Ohren traf, ohne die geistige Harmonie zu gewahren, die dieses gleichzeitige lebendige streben so vieler Geister und Herzen auf jeder Skale des Lebens und des Geschickes sich mit einem Gedanken, einem Gefühl zu durchdringen und zu einem einheitlichen Leben in Gott und vor Gott sich emporzuringen dem lauschenden Ohr, dem schauenden Auge ihres Gottes darbieten musste; aber er sah nicht die Läuterung, die Kräftigung, den Lebensmut und die Weihe der Kraft, die die Juden aus ihrer Judenschule mit ins Leben hinüber nahmen, in welchem sie es bewahrten, dass sie wahrlich nicht vergebens „in Schul“ gewesen; aber er vergaß, dass die „Judenschule“ eben nichts anders sein wollte, sein solle als „Schule,“ in welcher ein jeder sich selbst vor Gott in die Lehre zu nehmen hatte, und eben als Schule eine andere Aufgabe zu lösen hat, als Theater und Schauspiel — und auch als Tempel und Kirchen anderer Kreise.

Das ist freilich nunmehr anders geworden. Seitdem wir eine Religion und eine Theologie und auch einen „Kultus“ bekommen haben, seitdem die einzige wahre jüdische Gottesverehrung, die Erfüllung Seiner Thora, immer mehr und mehr aus dem Leben zu weichen begann, seitdem drängte man diejenigen unserer Institutionen in den Vordergrund, die mit denjenigen anderer Kreise eine Ähnlichkeit darboten, welche dort, in diesen anderen Kreisen, fast die Summe der ganzen Gottesverehrung ausmachen; man nannte sie Kultus, und gab ihnen die überwiegende Bedeutung, die der nichtjüdische Kultus in nichtjüdischen Kreisen genießt.

Je weniger man Gott die einzige von Ihm geforderte Verehrung, die Erfüllung seiner Thora im Leben, zollte, umso mehr fühlte man das Bedürfnis, doch irgendwie zu bekunden, dass das alte, durch den Wechsel so vieler Jahrtausende erhaltene Band noch nicht ganz gerissen, umso mehr konzentrierte man alles noch übrig gebliebene jüdische Streben in „Gotteshaus und Gottesdienst.“ Je weniger man aber selbst gesonnen war diesem Gotteshaus und diesem Gottesdienst den einzigen wahren Schmuck, die Anhänglichkeit eines steten, sabbathlichen, oder gar täglichen Besuches zu zollen, umso mehr konzentrierte man wiederum selbst die letzte Beurkundung eines vermeintlichen jüdischen Sinnes in reine Äußerlichkeiten, in die architektonische Form des Gotteshauses und die ästhetische Form des Gottesdienstes, meinte Wunder welch eine Verehrung man Gott und welch ein Denkmal frommer Gesinnung man sich gestiftet, wenn man Gott ein prächtiges Haus erbaut, und Ihm in diesem prächtigen Hause einen so prächtigen Kultus eingerichtet, — dass der feine elegante Sohn und die feine elegante Tochter, wenn sie einmal das Bedürfnis fühlen sich für  das unjüdische Leben eines ganzen Jahres in einer andächtigen Jomkippurstunde mit Gott zu versöhnen, sich von den Formen in ihrem Gotteshaus nicht abgestoßen fühlen, und selbst der nichtjüdische Besucher den israelitischen Kultus — voller Bewunderung — fast schon so schön wie den seinigen findet!

Aber man vergaß, dass, wenn die Verehrung Gottes in die gottesdienstliche Gottesverehrung im Gotteshaus aufgehen, wenn die gottesdienstliche Gottesverehrung im Gotteshaus nicht zu der einzigen von Gott anerkannten Verehrung, zur Erfüllung seiner Thora im Leben, führen soll, wenn man mit dieser Gottesverehrung im Gotteshaus die Verehrung Gottes im eigenen Haus zu ersetzen meint, und man darum Gott ein Haus, darum seiner Verehrung eine Stätte, eine prächtige, reiche, erhabene, entzückende Stätte bereitet, damit man Ihn und seine Verehrung dorthin verweisen, alle übrigen Räume und alle übrigen Zeiten aber anderen Bestrebungen geweiht erhalten könne, damit man mit beruhigten Gewissen  das ganze übrige Leben für sich hinnehmen könne, nachdem man ja auch Gott das Seine in so prächtigem Haus, auf so prächtige Weise bereitet habe — wenn man so Gott und Seine Verehrung in den Feiertagswinkel des Gotteshauses wirft und mit dem Eifer für „Sein Haus“ den verlorenen Eifer „für Sein Wort“, für die emsige gewissenhafte Erfüllung Seiner Thora, vergüten zu können glaubt — man vergaß, dass dann noch heute wie in alter Zeit das Prophetenwort gilt:

„Der Himmel ist mein Thron, die Erde meiner Füße Schemel — und ein Haus wollt Ihr mir bauen? und einen Ort mir anweisen zu meiner Ruh? Von meiner Hand ward ja geschaffen, was nur geworden ist im ganzen All! Und nur auf den schau ich nieder, der — selbst wenn auch arm, wenn auch gemütsgedrückt, doch nur eine Sorge kennt: Die Sorge um mein Wort![20]

Man vergaß, dass selbst der Gottestempel zu Zion in Trümmer ging, sobald man ihn zu überschätzen angefangen und sich an den Tempel, wie an das Ein und Alles der Gottesverehrung anklammerte, immer nur vom Tempel, vom Tempel הֵיכַל ה הֵיכַל ה‘, sprach und, wie der Prophet es ausdrückt, vergessen hatte, dass im Kreis der Thora, nicht der Tempel der Gottestempel, sondern der wahre Gottestempel,  [21] הֵיכַל ה‘ הֲמֹחַ jeder Jude mit seinem ganzen Gott verehrenden Leben sein sollte.

Man vergaß, dass die Thora entweder gar keinen Kultus kennt oder der Kultus der Thora das ganze Leben umfasst.

6. Israel

Wenn aber die Thora keine Religion und keine Theologie und kein Kultus ist, was ist sie dann? — Was sie ist? „Thora“ ist sie, (הורה rad. הרה wie ,(הלך  תּוֹרַת ה‘ von Gott in den Schoß eines Volkes gelegte Saat ist sie, aus welcher  das ganze Leben dieses Volkes in allen seinen einzelnen und Gesamtgestaltungen erblühen soll, eine Gottessaat ist sie, deren Produkt „Israel“ heißt, „״יִשְׂרָאֵל, ein Indivi-duum, das als Einzelwesen wie als Volksgesamtheit in allen seinen Lebensäußerungen die Herrschaft Gottes, wie in allen seinen Schicksalsgängen die Waltung Gottes bekunden soll, und das daher ebenso einzig in seiner geschichtlichen Erscheinung dasteht, wie die Thora einzig ist, die es belebt und die einzige Bedingung seiner geschichtlichen Erscheinung ist, und wie Gott einzig ist, der beide, die Thora und Israel, als die Offenbarung Seines Willens und Seines Waltens in die Mitte der Menschheit gesetzt יִשְׂרָאֵל גּוֹי אֶחָד בָּאָרֶץ, תּוֹרָה אַחַת, ה‘ אֶחָד.[22]

Je mehr aber das Wesen der Thora sich jedem Vergleich, sich jeder eingrenzenden Bezeichnung in Wort, wie jedem Ausdruck, durch Zeichen und Symbol, wegen ihrer doppelten Einzigkeit entzieht, weil sie, wie wir gesehen, einzig ist nach außen, und im ganzen Gedankenkreis der Menschheit sich keine Gestaltung findet, deren Art sie wäre und mit welcher sie einem gemeinsamen Gattungsbegriff untergeordnet werden könnte, und ebenso einzig ist nach innen, Israels einzige, sein Wesen durch und durch erfüllende und ausfüllende Lebensseele ist, und Israel nicht die Thora und noch anderes hat, dass man sagen könne: hier ist Kreis und Bereich der Thora, in dem anderen haben andere Prinzipien maßgebend zu walten — umso unerschöpflicher ist aber eben dieses Israel im Symbolausdruck der Heilsmacht und Segensfülle, in Lob und Preis der Wirkungen seiner Thora.

Sie ist ihm das erquickende Wasser und das läuternde Feuer, sie ist ihm die nährende Milch und der erfreuende Wein, sie ist ihm der Felsen sprengende Hammer, das Welten erobernde Schwert  und  das Haupt krönende Diadem und das Hals zierende Geschmeide. Sie ist ihm der Fuß stützende Stab und die wegweisende Leuchte, sie ist ihm der Genosse im Glück und der Ratgeber in Nöten, sie ist ihm der Gesang in der Nacht, das Wanderlied auf der Reise, das Licht am Scheidewege, der Wächter im Schlaf, der erste Gruß am jenseitigen Morgen. Sie ist ihm die unschätzbare Perle, der unaufwiegbare Reichtum, der unergründliche Schatz, das nicht zu durchwandernde Feld, das aus Schachtentiefe zu hebende Gold. Sie ist ihm die Quelle der Einsicht und des Verstandes, die Quelle des Lebens und des Friedens, die Quelle der Heilung und der Kraft, sie ist ihm das an sich Gute und der Baum des Lebens, der, wo er mit Ernst gepflanzt wird und gepflegt, das Paradies wiederbringt auf Erden — — —

7. Tradition

Und nun siehe! die Gedächtnisfeier dieser Thora, dieser Seele unserer Seele, dieses Lebens unseres Lebens, dieses Guts unserer Güter, dieses Grundes und Bodens, dieser einzigen Bedingung unserer ganzen Existenz, ohne welche alle die Güter, denen die übrigen Feste geweiht sind: Freiheit und Boden, Erhaltung und Blüte, Reinheit und Sühne, Dasein und Bedeutung verlören, gerade ihrer ist mit keinem Wörtchen in dem schriftlichen Gotteswort erwähnt, nur der mündlichen Überlieferung, nur der תּוֹרָה שֶׁבְּעָל פֶּה verdanken wir  das Offenbarungsfest der  [23] תּוֹרָה שֶׁבִּכְתָב , und sind sofort mit dem ersten Andenken der schriftlichen Lehre auf  תשבע“פ, auf die mündliche Lehre, auf die Tradition hingewiesen. Siehe da wiederum die tiefe Bedeutsamkeit des Schweigens der Thora von ihrem eigenen Feste! Die schriftliche Lehre selbst gibt sich preis, so wir die mündliche verleugnen möchten, die schriftliche Lehre selbst leistet Verzicht auf ihre Existenz, so ihr die Existenz der mündlichen nicht vorangegangen, die schriftliche Lehre überlässt das ganze Bewusstsein von ihrer Feier dem lebendigen Fortleben des mündlich von Gott überkommenen Wortes. So will die schriftliche Lehre nur gefeiert werden in einem Kreis, den der lebendige Hauch des gleich ihr göttlichen Wortes der mündlichen Lehre durchweht, und setzt das Dasein dieser mündlichen Überlieferung als Vorbedingung ihrer eigenen Existenz in Israel. So kündet sich die schriftliche Lehre selbst an als getragen und verbürgt durch die mündliche Lehre.  Das ist der zweite Gedanke, mit welchem das Schweigen der Thora vom זְמַן מַתַּן תּוֹרָתֵנוּ [24]  uns grüßt.

Ist’s ja auch überall nicht die mündliche Lehre, die Garantie und Bürgschaft in der schriftlichen zu suchen und zu finden hat; sondern es ist die schriftliche Lehre ganz allein uns nur durch die mündliche Überlieferung verbürgt.

Wenn wir diese Thora, deren Offenbarung wir an Schawuoth feiern, hoch aufheben, und ihr jauchzend zurufen: [25] זֹאת הַתּוֹרָה אֲשֶׁר שָׂם מֹשֶׁה לִפְנֵי בְּנֵי יִשְׂרָאֵל , dass dies noch die Thora, dieselbe unverfälschte, reine und echte Thora sei, die Mosche Israel gebracht, „von Gottes Mund durch Mosches Hand“, — wenn wir in der Zuversicht leben und sterben, dass dieses Kleinod uns rein und echt, unverkürzt und unverfälscht in allen Wechseln und Stürmen eines mehr als dreitausendjährigen Geschickes bewahrt und erhalten worden, wenn wir unser und unserer Kinder ganzes, zeitliches und ewiges Heil der Wahrhaftigkeit dieser Thora überlassen — welche andere Bürgschaft haben wir dafür, als die Wahrhaftigkeit der Überlieferung der Väter? als die Wahrhaftigkeit der Überlieferung derselben Väter, die uns zugleich mit dem schriftlichen auch  das mündliche Wort Gottes überliefert? Haben uns die Väter mit dem einen getäuscht, wie sollen sie uns als Bürgen in dem anderen dienen?! Und siehe, für die Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit eines geschichtlichen Faktums, eines in der Vergangenheit Geschehenen, gibt es ja überall keinen anderen Beweis, keine letzte Bürgschaft und Gewähr als die Zuversicht in treue Überlieferung. Du kannst alle Urkunden und Denkmäler, alle inneren und äußeren Umstände kombinieren und sprechen: es verhält sich alles so, dass man es für wahrscheinlich, für notwendig und gewiss halten müsse, dass dies oder jenes geschehen. Dass aber nun das, was dir als wahrscheinlich, als notwendig, als gewiss erscheint, auch nun wirklich geschehen, ja, dass selbst die Urkunden und Denkmäler, aus denen du solches erschlossen,  echt, dass das, was du aus ihnen geschlossen, nun eine Tatsache der Wirklichkeit, eine so wirkliche Tatsache sei, dass du für sie nun die volle Wirklichkeit deiner Gegenwart und die zu erhoffende Wirklichkeit deiner Zukunft einsetzen sollst, dafür kann dir einzig und allein die Zuversicht in treue Überlieferung bürgen. Dass nun aber die jüdische Überlieferung, diese auch in ihrer Art einzige, unvergleichliche Erscheinung, uns einzig und allein auf sich selbst anweist, und jede direkte Beurkundung aus der ebenfalls uns von ihr, und nur von ihr übergebenen Schrift verschmäht — obgleich für den Tieferblickenden fast jedes Wort dieser Schrift die mündliche Überlieferung voraussetzt — das ist wiederum das höchste und zuverlässigste Siegel ihrer Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit, hoher und zuverlässiger als irgendeine mit sieben Siegeln verbriefte und besiegelte Urkunde. Denn dass in der Schrift keine direkte Verbriefung der mündlichen Überlieferung enthalten, und dennoch ein ganzes Volk, eine ganze Nation ihre ganze geschichtliche Existenz von mehr als drei Jahrtausenden der Erhaltung und Befolgung dieser Überlieferung freudig geopfert, das ist das glänzendste Zeugnis, wie tief alle diese Geschlechter herab von der Wahrhaftigkeit dieser Überlieferung durchdrungen gewesen, wie überzeugt die Väter von der Wahrhaftigkeit dessen gewesen, was ihnen von den Vätern geworden, was sie den Söhnen überliefert, und was sie selbst mit ihrem ganzen Leben und Sterben besiegelt. Das ist zugleich der Beweis, wie tief und ruhig diese Überlieferung dem Bewusstsein dieses Volkes vertraute und vertrauen konnte, dass sie jede andere Legitimierung ihrer eigenen Wahrhaftigkeit verschmähte und verschmähen durfte. Was hätte es ihr auch genützt, ja, wie sehr hätte es sie gefährdet, wenn die Schrift, deren Authentizität selbst in ihrem letzten Grund nur auf der Treue der Überlieferung beruhen kann, nun auch ein direktes Zeugnis für die Autorität eben dieser Überlieferung enthielte! Hei, wie würden die gedankenlosen Leugner der jüdischen Überlieferung, die jetzt des Argumentes sich freuen: in der Schrift kein direktes Zeugnis für diese mündliche Überlieferung zu finden, wie würden die erst jubeln, wenn sich ein solches direktes Zeugnis in der Schrift vorfände! Wie würde man da von den Schicksalen dieser Schrift reden, von den Priesterhänden, durch welche sie gegangen, von Priesterlist und Pfaffentrug und falschen Dekretalen[26] munkeln, wie würde man aus einem solchen Zeugnis selbst gegen die Echtheit der Schrift argumentieren, und würde schon für die Schriftfälschung, mit der man die eigenen Ahnen brandmarkte, ein euphemistisches Mantelwort finden, und von frommer Schriftfälschung“ sprechen, wie man jetzt von frommem Traditionstrug“ sich zu sprechen nicht entblödet!

Der mündlich überlieferte Teil der Thora teilt das Schicksal der Thora im Ganzen. Wie sie leidet er durch Namengebung und unbedachtsame Schlussfolgerungen aus diesen Namen ohne Beachtung des unvergleichlich einzigen Wesens auch dieses Teils der Thora. Weil man in anderen Kreisen mit Tradition“, „Überlieferung“,  das Vage, Unzuverlässige, im Gegensatz zu dem schriftlich Bekundeten, zu bezeichnen pflegt, weil man in anderen Kreisen Traditionen verdächtigt, als deren Träger und Inhaber sich Einzelne gerieten, Einzelne, die diese Tradition als ihr Monopol verkündeten, Einzelne, zu deren Vorteil und Nutzen die von ihnen überlieferten Traditionen lauteten , Einzelne, die sodann zum Schutz des von ihnen mündlich Überlieferten, sogar das Schriftliche aus dem Bewusstsein des ihrem Gehorsam hingegebenen Volkes zu tilgen suchten, dem Volk sogar das Lesen der schriftlichen Urkunden untersagten — weil dies Alles also in anderen Kreisen sich verhalten soll, weil alle diese verdächtigen Erscheinungen der „Tradition“ in anderen Kreisen anhängen, schleuderte man mit demselben Namen auch dieselben Verdächtigungen auf die jüdische Thoraüberlieferung, ohne zu bedenken, dass hier nicht nur von allen diesen Umständen keiner vorhanden sei, sofern auch hier wiederum alles im geraden Gegensatz sich verhalte.

Kein Stand, keine Kaste, das ganze jüdische Volk war Träger und Inhaber der Thoraüberlieferung, — [27] תַּעֲמִידוּ תַּלְמִידִים הַרְבֵּה , die Kenntnis dieser überlieferten Thora bis in die letzte Schicht der Nation überall zu verbreiten, war die erste und heiligste von dieser Überlieferung gelehrte Pflicht,— jeder rechtschaffene Jude, und wäre er ein „Rinderhirt[28]“ oder ein „Weber vom Schuttor in Jerusalem[29]„, wurden als Träger und Inhaber der Tradition vor dem höchsten jüdischen Gesetzesforum angehört und beachtet, — keinerlei Vorteil war mit der traditionellen Gesetzeskunde verknüpft, bis in das dritte Jahrtausend ihres Bestehens ward erweislich kein Wort ihrer Lehre ums Geld gelehrt, kein Gesetz ihrer Lehre gegen Sold gehandhabt, und die eminentesten Träger derselben waren überall die Ersten alle Opfer zu bringen, die sie lehrten, alle Enthaltung zu üben, die sie heischten, und mit der Wahrhaftigkeit ihres Lebens die Wahrhaftigkeit dieser Lehre zu besiegeln; — Hand in Hand endlich mit der mündlichen Lehre reichte diese selbst jedem Juden nicht nur die Pflicht, den dreimaligen öffentlichen Vorlesungen der schriftlichen Thora in jeder Woche beizuwohnen, nicht nur die Pflicht sich in Besitz einer Abschrift dieser Thora zu setzen, sondern sogar die ernste, mit allen Segensverheißungen besonders anempfohlener Verpflichtung, die ganze schriftliche Thora jedes Jahr mindestens zweimal im Texte und einmal in der wörtlichen Übersetzung des Onkelos im Volksdialekt[30] durchzulesen!

Und diese, von der öffentlichsten Öffentlichkeit, von dem Gesamt-Volk selbst, dem sie galt, und nur um ihrer selbst willen getragene Tradition, wagt man mit irgendeiner anderen Erscheinung zu vergleichen, mit der sie nichts gemein hat als den Namen, und der sie in allen übrigen Beziehungen aufs vollendeste entgegengesetzt ist?!

Es ist ja auch eben die תשבע“פ, eben der der Mündlichkeit vorbehaltene Teil der Thora, und gerade wegen dieser Mündlichkeit, durch welchen die Thora jene unerschöpflich zu preisenden Wunder ihrer Wirkungen bewirkte! Wenn die Thora, deren Fest Schawuoth feiert, wenn sie die „allumfassende“, „Seelen erquickende“, „Herz erfreuende“, „Augen erleuchtende“, „reine“, „sich ewig bewährende“, „treue Lehrerin der Weisheit“ ist und der „Wahrheit“ und des „Rechts“ , — wenn sie sich als die Trägerin eines mehr denn dreitausendjährigen Nationallebens eines ganzen Volkes bewähren konnte, — wenn sie diesem Volk Ersatz bieten konnte für alles, was sonst das Leben verschönert und erhebt und beglückt und beseligt, — wenn sie dieses Volk mit einer Klarheit des Geistes, mit einer Reinheit der Sitten, mit einer Weichheit des Herzens, mit einem Familienleben sondergleichen, mit einem Wohltätigkeitssinn ohne Beispiel, mit einer Begeisterung für alles menschlich Reine, Gute und Edle, und zugleich mit einem Mut, einer Ausdauer, einer Standhaftigkeit und einer Opferfreudigkeit ausgestattet, die selbst seine Feinde ihm zuerkennen und um die es selbst seine Feinde beneiden, — wenn Ihr am Schawuothfest die Thora um aller dieser Segnungen willen preist, o, so täuscht euch doch nicht, so ist es ja gerade die תשבע“פ der der Mündlichkeit anvertraute Teil der Thora, dem wir diese Segnungen verdanken.

Nur die von Gott der Mündlichkeit überlieferte Offenbarung gibt erst den Geboten seiner Thora jenen Leben gestaltenden, Leben erfüllenden, Leben umspannenden Inhalt, der den Geist des Gottbewusstseins in alle Fugen des irdischen Daseins trägt, und dadurch die ärmste Hütte des Juden zu einem Gottestempel und seinen Tisch zu einem Gottesaltar und ihn selbst zu einem Gottespriester und seinen ganzen Wandel zu einem Gottesdienst und sein ganzes Leben und Streben zu einer Hymne der Gottverherrlichung umwandelt, und ihn mit jeder kleinsten Regung seiner Gedanken und Gefühle, seiner Worte und Taten, seiner Bestrebungen und Genüsse in die Bundesnähe seines Gottes setzt, in welcher er den Geist und die Kraft und den Mut und die Heiterkeit und den Frieden und die Freude und die Seligkeit findet, die ihm aller Wechsel und Wandel des Geschickes nicht zu rauben und zu trüben vermag.

Nur die von Gott der Mündlichkeit übergebene Offenbarung mit ihrem, das ganze Leben in allen seinen allgemeinen und besonderen Beziehungen umfassenden Inhalt, hat das Geistesauge des Juden geweckt und geübt, die kleinsten Seiten der menschlichen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit und des Rechts und der Pflicht, der Billigkeit und der Liebe, der Schuld und der Unschuld, des Erlaubten und Unerlaubten zu würdigen und zu ermessen, zu verbinden und zu scheiden, und hat eben durch den Charakter ihrer Mündlichkeit, Allgemeinheit und Öffentlichkeit so sehr die ganze Nation und in der Nation so sehr den ganzen Menschen in jedem Einzelnen erfasst, dass sie dem fast viereinhalbtausendjährigen Geistesleben einer ganzen Nation Nahrung gespendet, alle Geister derselben zur gemeinsamen Arbeit an einem großen geistigen Nationalbau wach gerufen, in dieses eine gemeinsame geistige Streben, alle Sonderungen, Verschiedenheiten und Abstufungen der Alters-, Standes,- Ranges-, und Geschicks-Unterschiede aufgehen ließ und alle, alle Juden zu einem einzigen geistigen Adel, in einen einzigen geistigen Orden vereinigte, in welchem jeder, auch der Ärmste, auch der „Rinderhirt“ und der „Schuttorweber“, seinen Wert und seine Geltung und somit das aufrechthaltende Bewusstsein seiner Bedeutung im Kreis seiner Nation zu finden wusste, und durch welchen der Baum der jüdischen Geistesentfaltung so heiter kräftig, so gesund und frisch gepflegt wurde, dass von dessen Mark noch unbewusst die heutigen Enkel zehren, die in ihrer stolzen Unwissenheit rüstig das ihrige tun, dass sich ihre Enkel einst nicht gleicher geistigen Erbschaft erfreuen mögen. —

Die von Gott der Mündlichkeit anvertraute Thora-Offenbarung ist es endlich, die die eminentesten Träger derselben zu einer solchen Höhe der Weisheit hob, dass sie jene bewundernswürdigen Institutionen, jene גְּזֵרוֹת und תַּקָּנוֹת im Geiste der Thora zu schaffen vermochten, die sich als Bollwerk und Schutz, die sich als Förderung und Hebel der Thora in unserer großen jüdischen Vergangenheit so glänzend bewährten, — die das jüdische Gemeindewesen also gründeten und regelten, dass, wo nur auf weiter Erde zehn Juden sich zusammen fanden, dort in lebenskräftiger Verjüngung das Bild die Gesamtnation sich wiederholte und ein gottgetragener Kreis sich schloss, in welchem die herrlichsten Keime der תּוֹרָה עֲבוֹדָה וגמ״ח der Gotteslehre, des Gottesdienstes, der Wohltätigkeit und Menschenliebe die hingebendste Pflege und Entfaltung genossen, — die endlich das Haus und die Ehe und die Familie mit solchen Formen regelten und mit einem solchen Geist der Zartheit und der Rücksicht, des Pflichtgefühls und der Sittsamkeit, der Liebe und der Treue, des Friedens und der Freude durchwebten, dass sich eben dort jenes herrliche jüdische Familienleben gestalten konnte, welches die jüdischen Hütten mit einer Paradiesesseligkeit erfüllte, um welche selbst ihre Verächter sie beneideten.

Oder meint Ihr etwa nicht? Ist es etwa doch nur das schriftlich Geoffenbarte, welches alle diese Wunder erzeugte? Seht, Christ und Muselmann haben seit Jahrhunderten das „schriftlich Geoffenbarte“ aus unseren Händen hingenommen; aber die geistig sittliche jüdische Höhe haben sie doch nicht erreicht, weil ihnen eben der Schlüssel und die Vollendung der mündlichen Offenbarung gefehlt.

Darum will die schriftliche Offenbarung nur an der Hand der mündlichen ins Leben geführt werden, darum kündigt sich die schriftliche Lehre selbst als nur von der mündlichen getragen an, und darum — hat sie selbst das bloße Gedächtnis ihrer Feier der mündlichen Lehre überlassen.

8. Schawuothfest

Aber diese Feier selbst so beschränkt, so still, auf die flüchtige Dauer eines einzigen, schnellvorrübergehenden Tages angewiesen! Und an diesem Tag selbst dieser Feier kaum ein sichtbarer Festausdruck verliehen, die ganze Feier fast nur negativ im Unterlassen der Werktätigkeit betätigt!

Nur einen Tag? Nur einen stillen Tag? Nur einen stillen Tag der Thora? — O, es haben die Feier und die Feste nicht nur Segen im Kreis der Thora gebracht! In ihrer Bestimmung nicht begriffen, in ihrer Bedeutung verkannt, in ihrer Übung missbraucht, wurde sie in Zeiten des Abfalls von den abgefallenen Söhnen selbst als Krücke ihres Abfalls missbraucht. Je schwächer das Geschlecht, je weniger es gewillt ist, den Ideen deren Größe und Wahrheit es doch nicht ganz zu verleugnen wagt, mit der Wirklichkeit seiner Tatkraft zu dienen, mit der Weihe seines Lebens zu huldigen und mit dem Opfer der Güter und Genüsse seines Daseins den Altar der Verherrlichung zu bauen, umso gieriger hascht es nach — leichteren — stellvertretenden — Gelegenheiten, sich mit der Anerkennung dieser Ideen zu schmücken, und baut Denkmäler, stiftet Feste, isst Zweck-Essen, — und berauscht sich, und beruhigt sich mit dem Duft solcher symbolischen Verehrung für den Verrat und die Verleugnung, deren es sich gegen eben diese Ideen, Gesinnungen und Zwecke im Leben der Wirklichkeit bewusst ist. Also auch im Dienst der großen Ideen, Gesinnungen, Zwecke und Wahrheiten der Thora. Verraten, verleugnen wir diese im Leben, haben wir gar nicht den Willen ihnen unser ganzes Leben zu weihen, ihnen mit all unseren Kräften und Bestrebungen, unseren Gedanken und Handlungen, all unserem Streben und Genießen im häuslichen und öffentlichen Leben das Denkmal und den Altar zu bauen und das Opfer zu vollbringen, — wollen wir gar nicht die Wahrheit der Thora im Leben, wollen uns gar nicht mit der Symbolik der Feste für diese Wahrheit rüsten, sondern feiern nur Feste, um doch noch wenigstens symbolisch uns zur Existenz von Wahrheiten zu bekennen, denen wir die Leben gestaltende Geltung längst abgesprochen, und denen unser thoraentfremdetes Leben den kecksten Hohn ins Angesicht schleudert — dann zürnt uns der Geist der Thora entgegen:  [31]  לֹא־אוּכַ֥ל אָ֖וֶן וַעֲצָרָֽה fort mit eurem Lebenstrotz und Festtagsfeier zusammenkuppelnden Treiben, [32] חׇדְשֵׁיכֶ֤ם וּמֽוֹעֲדֵיכֶם֙ שָֽׂנְאָ֣ה נַפְשִׁ֔י, eure Neumonde und eure Feste hasst meine Seele!

Siehe, darum ist die Thora eifersüchtig auf jede Regung der Verehrung und Huldigung, die der Gedanke ihrer Offenbarung in dir wecken dürfte, darum gestattet sie jeder solchen verehrenden Regung kaum einen Raum in Festtagsfeier und symbolischem Festausdruck, auf dass, wenn Schawuoth dir den Gedanken des Guts aller Güter, dieser Seele aller Seelen, dieses Lebens alles Lebens, dieser Thora deines Gottes bringt, und mit diesem Gedanken  das Gefühl der Verehrung und Huldigung erregt, die du dieser Thora schuldest, du diesem Gedanken und Gefühl durch kein Festbegängnis, durch keine Festesfeier Genüge schaffen könnest, und dir das Fest der Thora gleich an der Schwelle den Grundgedanken entgegentrage: Nicht das Fest genüge dieser Thora, sondern das Leben, und nicht mit der Weihe eines Tages, einer Woche, eines Monats werde ihr gedient, sondern mit der Weihe des ganzen Jahres und mit der Weihe aller Tage, Stunden und Augenblicke in diesem ganzen Jahre.

Seele unseres ganzen Lebens zu sein, [33] אשדת wie die unsichtbare Lebensglut unser ganzes Wesen zu beseelen, alle unsere Räume zu erfüllen, alle unsere Zeiten zu gestalten, hat Gott sie gesendet. Wie du aber für alle Sinne und Lebensfunktionen bestimmte, räumlich begrenzte Träger und Organe nachweisen kannst, vergebens aber nach dem Organ und Träger der Seele forschst, eben weil kein Teilchen des ganzen Organismus sie zu entbehren vermag, der ganze Organismus ihr Träger und Diener zu sein, sie in dem ganzen Organismus zu thronen und ihn beherrschend zu erfüllen bestimmt ist, ebenso ist der Seele Israels, der Thora, keine Woche, kein Monat in Israels Leben zugewiesen, weil ihr das ganze Leben angehören, sie das ganze Leben beherrschend erfüllen soll und jede Raumgebung innerhalb dieses Lebens ihre Herrschaft nur beschränken würde.

Warum keine Woche, kein Monat der Thora, und warum keine symbolische Feier der Thora? Weil nicht die Woche, nicht der Monat, sondern das Jahr der Thora gehört und weil sie nicht das Symbol, sondern das Leben, die Wirklichkeit heischt!

9. Schawuoth-Opfer

Wenn aber im Kreis der Einzelnen der Feier des Thorafestes kaum ein bemerkbar hervortretender Ausdruck verliehen war, so war ihr dennoch im Herzen Israels, im Nationalmittelpunkt des Tempels, ein tiefcharakterisierender Ausdruck durch שְׁתֵּי לֶחֶם und כִּבְשֵׂי עֲצֶרֶת [34] gegeben. Im Tempelkreis der Thora dürfte der neue Jahresertrag des Bodens nicht als Israels Eigentum in dem Huldigungsopfer der מְנָחוֹת [35] erscheinen, bevor nicht der Tag der Thoraoffenbarung gekommen und diese Thora ihre Huldigung in diesen charakteristischen Opfergaben gefunden. Denn Besitz und Selbstständigkeit und der Boden, der beides gewährt, sind für Israel nur durch die Thora bedingt, finden in Israel nur in der Thora ihren Boden, werden Israel nur von der Thora gereicht und gewährleistet durch die Thora.

שְׁתֵּי לֶחֶם zwei gesäuerte Brote und [36] שְׁנֵי כְבָשִׂים בְּנֵי שָׁנָה לְזֶבַח שְׁלָמִים zwei einjährige Schafe zum Friedensopfer sind aber der Huldigungsausdruck dessen, was Israel der Thora verdankt, was die Thora Israel bringen will, und enthält dieses charakteristische Opfer am Fest der Thora wiederum das Wesen derselben nach einer Seite hin, in deren Beziehung sie am meisten verkannt worden — und wird.

Hingebung und Sühne: [37] עוֹלָה und חַטָּאת — huldigendes Bekenntnis der ureigenen Unselbstständigkeit: [38]  , מִנְחַת מַצָּה — undfreudige Begeisterung in dieser Huldigung: [39] נְסָכִים das waren die Gedanken, die die קָרְבָּנוֹת צִבּוּר, die die Nationalopfer des ganzen Jahres durchwehten. Denn sie hatten Israel die Wege zu zeigen, die aus dem weihelosen חוּלִין-Zustand zur heiligen Thorahöhe führen, auf deren Gipfel dann das ganze Dasein, das Göttliche auf Erden nährend: [40]  לֶחֶם אִשֶּׁה zum Wohlgefallen Gottes in der Höhe sich vollende: לְרֵיחַ נִיחוֹחַ לָה‘

Aber diese Höhe ist keine schwindelnde, der Wirklichkeit entrückende Ekstase, auf welcher das irdische Dasein mit all seinen Beziehungen Wert und Bedeutung verlöre, diese Höhe heißt nicht „Askese„, welcher die Erde mit ihren Blumen und Blüten, mit ihren Reizen und Freuden, Tand und Sünde bedeutet, jene Hingebung heißt nicht Vernichtung, jene Sühne heißt nicht Kasteiung, jenes Bekenntnis heißt nicht Schwäche, jene Huldigung nicht Selbstverachtung, die ganze Summe der Thorahöhe heißt nicht verächtlicher Fußstoß der Erde um den Himmel zu erschwingen, sondern auf dem Gipfel ihrer Höhe reicht dir die Thora: [41] לֶחֶם חָמֵץ , das Brot der Selbstständigkeit und: [42] שְׁלָמִים jenen Zustand der vollendeten irdischen Seligkeit, der שָׁלוֹםFriede“ heißt, in welchem jeder Kampf und jeder Gegensatz und jeder Zwiespalt geschwunden, in welchem es keine Kluft mehr gibt zwischen Himmel und Erde, zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit, zwischen Tempel und Haus, zwischen Altar und Tisch, in welchem der Himmel und die Ewigkeit und die Seligkeit eingekehrt ist in alle deine irdischen, zeitlichen Beziehungen, dein ganzes leiblich-geistiges, seelisch-irdisches Dasein in die himmlische Ewigkeit hinübergerettet ist, und du mit Weib und Kindern, im frohen Bewusstsein eures in Gott gewonnenen, ewigen, göttlichen Wertes, dich um den Tisch deines Gottes sammelst und heiter und froh und selig und glücklich die flüchtigste Minute deines Hierseins als einen ewigen Moment deines ewigen Daseins vor dem Angesicht deines Gottes genießt.

Siehe da wiederum die allen Vergleiches spottende Einzigkeit deiner Thora! In allen anderen Kulten, Religionen, Theologien, oder wie man die von Menschen erträumten Beziehungen zu ihren erträumten Göttern nennen möge, im Anblick aller jener Götter, [43] דִּי שְׁמַיָּא וְאַרְקָא לָא עֲבַדוּ, die nach dem Ausdruck des Propheten die Himmel und Erde nicht erschaffen haben, verkriecht sich die Erde mit ihren Gütern und Reizen, mit ihren Freuden und Genüssen; Feinde der Selbstständigkeit sind die Götter, Feinde der Freude und der Heiterkeit ihre Lehren, und darum: 43 כִּדְנָה֙ תֵּאמְר֣וּן לְה֔וֹם אֱלָ֣הַיָּ֔א דִּֽי־שְׁמַיָּ֥א וְאַרְקָ֖א לָ֣א עֲבַ֑דוּ יֵאבַ֧דוּ מֵאַרְעָ֛א וּמִן־תְּח֥וֹת שְׁמַיָּ֖א אֵֽלֶּה, darum sagt ihnen: die Götter, die Himmel und Erde nicht gemacht, werden von der Erde schwinden und aus den von diesen Himmeln überspannten Räumen, — an der Wirklichkeit und Berechtigung der Erde wird ihre Lüge zu Schanden. Aber Er, der nicht nur die Himmel geschaffen, sondern mit gleicher Sorgfalt die Erde, Er, dem jeder in seinem Dienst verlebte irdische Moment ganz gleich wiegt mit jedem anderen Moment der einstigen himmlischen Seligkeit, Er, [44] עֹשֵׂ֥ה אֶ֙רֶץ֙ בְּכֹח֔וֹ מֵכִ֥ין תֵּבֵ֖ל בְּחׇכְמָת֑וֹ וּבִתְבוּנָת֖וֹ נָטָ֥ה שָׁמָֽיִם der mit seiner Schöpferkraft die Erde gebildet, mit seiner Weisheit die Menschenwelt auf Erden begründet und mit seiner Fürsicht die Unermesslichkeit der Himmelsräume um diese kleine Erde hüllend geneigt — Seine Thora, Seine Leben erzeugende Offenbarung, ist eine Lehre für diese himmelumspannte Erde, nimmt diese Seine Erde mit allen ihren von Ihm geschaffenen Beziehungen in  das Reich Seiner Seligkeit auf, will das Leben des Menschengeschlechtes auf Erden mit Seiner Weisheit regeln und die Erde für dieses Ihm dienende Menschengeschlecht zu einem Paradies des Heiles und des Friedens, der Heiterkeit und der Freudenseligkeit vollenden; auf der Höhe Seiner Lehre erhält erst der Mensch seine Selbstständigkeit, und die Erde ihre Bedeutung, [45]  לֹֽא־כְאֵ֜לֶּה חֵ֣לֶק יַעֲקֹ֗ב כִּֽי־יוֹצֵ֤ר הַכֹּל֙ ה֔וּא , unvergleichlich ist Jakobs Los; denn Schöpfer des Himmels und der Erde, Schöpfer des Weltganzen ist Er!

Nicht daher עוֹלָה und חַטָּאת , Ganzopfer der Hingebung und Opfer der Sühne; שְׁלָמִים, Genusopfer heiterer Friedensseligkeit bezeichnen die charakteristische Gipfelhöhe der Thora עוֹלוֹת ., Ganzopfer, bei welchen die Erde in „mitternächtiges“ Dunkel zurücktritt, hatte auch die Menschheit einst schon vor der Offenbarung der Thora gekannt. שְׁלָמִים aber, heitere Friedensmahle vor Gottes Angesicht, bei welchen die Erde im „hellen Sonnenstrahl“ fröhlich glänzt brachte nur das Judentum der Thora.

עורי צפון ובאי תימן, מסייע ליה לרבי יוסי בר חנינא דאמר עולות הקריבו בני נח, עורי צפון זה העולה שהיתה נשחטת בצפון, ומהו עורי דבר שהיה ישן ונתעורר, ובואי תימן אלו שלמים שהיו נשחטים בדרום, ומהו בואי דבר של חדוש. (ב״ר)[46]

Und שְׁנֵי כִּבְשֵׁי עֲצֶרֶת ,שְׁתֵּי לֶחֶם gepaart war der Ausdruck der Selbstständigkeit, gepaart das Opfer des Friedensmahls am Thorafest. Denn nicht etwa Nationalselbstständigkeit der Gesamtheit, Gesamtwohlfahrt der Nation heißt die Gipfelblüte der Thora, — etwa eine Selbstständigkeit der Nation nach außen, die mit Knechtung der eigenen Glieder im Innern erkauft wäre, oder ein Nationalwohlstand im Gesamterscheinen, bei welchem der Einzelne zerknickt verkümmern möge. Gelte es hier nur solchen Gesamtheitsgütern, solchen Nationalbeziehungen, so würden die Zeichen dafür die Zahl Eins, oder Sieben, den Ausdruck der Gesamtheit als geschlossener Einheit, tragen. Wo im Opfersymbol die Zahl zwei, das Paar, erscheint, da tritt Israel nicht alsגּוֹי  [47] nicht als Körpereinheit, sondern als [48] עַם , als Gesellschaft in allen ihren Gliedern auf, — und שְׁתֵּי לֶחֶם , Selbstständigkeit für jedes Glied ihres Volkes, שְׁנֵי כְּבָשִׂים לְזֶבַח שְׁלָמִים , selige Friedensfreude für jede jüdische Hütte reift auf dem sonnigen Gipfel der Thorahöhe; denn die Thora die von Zion ausgeht und das Gotteswort aus Jerusalem soll nicht nur Frieden zwischen „Nation und Nation“ nach außen bringen, sondern im Inneren der Nation soll jeder וְיָשְׁב֗וּ אִ֣ישׁ תַּ֧חַת גַּפְנ֛וֹ וְתַ֥חַת תְּאֵנָת֖וֹ וְאֵ֣ין מַחֲרִ֑יד [49]  soll jeder ungestört unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum sitzen; 49 כִּי־פִ֛י ה‘ צְבָאקוֹת דִּבֵּֽר denn es ist eben der Mund Gottes, der es gesprochen.

Dieser Zustand der Selbstständigkeit und der Glückseligkeit, den das Wort Gottes jedem Einzelnen bringen will, ist aber dann zugleich ein solcher, in welchem das Wohlwollen und die Liebe alle die beglückten Einzelnen dann brüderlich paart und eint, die sonst nur durch die Not und Bedrängnis zusammengeführt werden. Vielmehr fühlt jeder seine Selbstständigkeit nur voll in der gleichen Selbstständigkeit des Bruders, genießt jeder des eigenen Glückes nur im Bewusstsein der gleichen Segensblüte des Bruders, keine Selbstständigkeit des einen ohne des anderen, kein Wohlstand des einen ohne des anderen:[50]  שתי לחם מעכבין זה את זה und שתי כבשי עצרת מעכבין זה אח זה

10. Erstlingsfrüchte

Hatte aber am Thorafest die Gesamtheit für jeden Einzelnen ihrer Glieder im symbolischen Weihausdruck das Bekenntnis der am Baum der Thora zu reifenden Selbstständigkeit und Glückseligkeit auf Erden in des Tempel Stille dargebracht, dann zogen nun  בֵּין עֲצֶרֶת לְחַג,  von diesem Thorafest an bis zum Hüttenfest, an welchem die Nationalfreude in ihrer seligsten Begeisterung gipfelt, diese Einzelnen selbst mit den Zeichen ihres von der Thora verliehenen selbstständigen Wohlstandes zu den Toren Jerusalems ein, und legten diese Zeichen am Altar der Thora nieder und bekannten ihren unselbstständigen Urzustand und die Selbstständigkeit und den Segen, den ihnen die Thora gebracht.

Die erste Feige, die ihm reifte, die erste Traube, die ihm reifte, den ersten Granatapfel, der ihm reifte, merkte sich ein jeder und weihte jeden „Fruchterstling“ zum Ausdruck des ihm von Gott für die Thora verliehenen Bodens und Segens. Das ganze Land war in Kreise geteilt, und wenn die Zeit gekommen, versammelten sich die Bewohner jedes Kreises in der Kreisstadt, und blieben auch nachts auf dem freien Markt; denn unter keines Hauses Dach gingen sie ein, ehe sie die Hallen des Tempels erreicht. Und zum Aufbruch am Morgen erhob sich der Führer und sprach: „Auf, ziehen wir hinauf nach Zion zum Hause unseres Gottes!“

Die Nahen trugen die Feigen und Trauben frisch, die Fernen getrocknet, und der Stier des Friedenopfermahles ging voran, die Hörner vergoldet und mit Ölzweigen bekränzt, und voraus blies die Flöte, bis sie in Jerusalems Nähe gelangten.

In Jerusalems Nähe machten sie Halt, sendeten die Botschaft ihrer Ankunft nach Jerusalem, und schmückten inzwischen ihre Fruchterstlinge. Meister und Herren und Amtleute der Priesterschaft und des Tempels zogen ihnen, je nach der Anzahl der Kommenden, in entsprechender Anzahl entgegen. Selbst alle Lohnarbeiter in Jerusalem standen vor ihnen auf, wenn sie an ihnen vorüberzogen und grüßten sie: „Brüder aus dem und dem Orte, Friedensgruß eurem Kommen!“ Sie aber zogen vorüber mit der Flöte an der Spitze bis sie den Tempelberg erreichten. Am Tempelberg nahm jeder, und wäre es der König, seinen Korb auf die Schulter und trug ihn zur Vorhalle des Tempels, wo sie der Levitenchor mit dem Psalm empfing: „Dich erhebe ich, Gott, denn aus tiefster Niedrigkeit hast du mich gehoben!“[51] — Mit dem Korb aber auf der Schulter beginnt jeder das Nationalbekenntnis der jüdischen Geschichte, wie er mit diesen Früchten Zeugnis ablegen wolle, dass ihm der Landbesitz geworden, den Gott den Vätern verheißen; wie einst aber im Herrnhaus zu Aram die Knechteswiege seines Ahns gestanden, wie immer tiefer bis ins ägyptische Elend das Geschick der Väter dann gesunken, dort in Sklaverei und Elend, in Leid und Druck Israel zum Volk erwachsen und endlich Gottes Allmacht sie erlöst, zur Heiligtumsstätte seiner Thora sie geführt und ihnen das Land der Milch- und Honigfülle gegeben. — Dann legt er die Früchte am Altar seines Gottes, an der Stätte seiner Thora nieder, verbeugt sich und geht —— — (ביכורים,ג)

וְשָׂמַחְתָּ֣ בְכׇל־הַטּ֗וֹב אֲשֶׁ֧ר נָֽתַן־לְךָ֛ ה‘ אֱלֹקיךָ וּלְבֵיתֶ֑ךָ אַתָּה֙ וְהַלֵּוִ֔י וְהַגֵּ֖ר אֲשֶׁ֥ר בְּקִרְבֶּֽךָ

„Und freust dich dann all des Guten, welches Gott, dein Gott dir und deinem Hause gegeben, du, der Levite und der Fremde in deiner Mitte“ (5. B. M. 26.); denn שִׂמְחָה״“ Freude, ist die letzte ewige Heilsfrucht, die die Thora für dich zeitigen will — — —

11. Schawuoth

Siehe, so tritt dieser stille, schweigende, schmuck- und zeichenlose Tag der Thora in deinen Kreis und ist eben in seiner Stille so laut, in seinem Schweigen so beredt, in seiner Symbolarmut so bedeutungsvoll, und lädt dich zur ernsten Würdigung der Einzigkeit der Thora, die dieser Tag dir gebracht, zur Erwägung der ganzen Fülle von Leben und Heil, die diese Thora dir bringen will.

Dir — bringen will! Denn ach, die Flöte ist längst verklungen aus Israels Gefilden, nicht reift mehr die Feige, nicht glüht mehr die Beere, nicht füllt sich mehr die Granatfrucht, nicht lebt und webt mehr die Freude im Land der Milch- und Honig-Fülle. War ja überall nur kurz und spärlich die Zeit der Selbstständigkeit und der heiteren Lebensseligkeit, die Israel im Land der Thora genoss. Wohl streben noch die Berge, wohl rieseln noch die Flüsse, wohl dehnen sich noch die Ebenen, wohl wölbt sich noch derselbe Himmel über denselben Boden. Aber solange dorthin nicht Israel wiederkehrt, Israel als Israel, als Volk Gottes und Seines Wortes, solange die Thora dort nicht endlich zu ihrer vollen Wahrheit und Wirklichkeit gelangt, so mögt ihr vergebens dort Industrieschulen und Ackerbaukolonien stiften, so lange bleibt selbst der Boden des Paradieses — eine Wüste.

Und diese Thora, diesen gottgesandten Keim aller Heilszukunft, diese einzige Bedingung einer Selbstständigkeit und irdischen Seligkeit, die im Ganzen und Einzelnen vergebens auf irgend anderem Weg, vergebens durch irgend andere Mittel angestrebt werden, diese Thora, die noch kaum eine Vergangenheit gehabt und die die Zukunft aller Ewigkeit in ihrem Schoß trägt, diese „Thora“ wollt Ihr als antiquiert beiseiteschieben, wollt sie zu den abgelebten Dingen werfen, die ihre Zeit gehabt, die für ihre Zeit einmal gut gewesen, die aber von unserer Zeit — deren Paradieseszustände freilich zeigen, welche herrliche Selbstständigkeit und heitere Glückseligkeit auf Erden die internationalen Beziehungen und die Verhältnisse der Einzelnen den Völkern und Menschen auch ohne ״Thora“ zu bereiten vermögen! — längst überflügelt worden?!

Seht! Ein Symbol hatte das Fest der Thora euch nicht in die Hand zu geben, mit einer absonderlichen Feier nicht sein Andenken euren Seelen einzuprägen, aber mit zweien Namen tritt es euch entgegen, unter zweien Namen will es von euch gedacht werden, deren einer jene Seligkeitsblüten zeigt, deren Paradiesespflege die Thora bringen soll, deren anderer aber jeden solchen Gedanken einer Antiquierung mit zürnendem Ernst in die Nichtigkeit vermessener Lüge zurückschleudert.

יוֹם הַבִּכּוּרִים Tag der Fruchterstlinge, das ist der eine dieser Namen, dessen heiteren Inhalt wir uns bereits zu vergegenwärtigen gesucht.

חַג הַשָּׁבוּעוֹת, שָׁבוּעוֹת Wochen, Fest der Wochen, Wochenfest, so lautet der andere, dessen ernstestem Ernst wir die ernsteste Beherzigung schenken sollten.

Wie יוֹם הַבִּכּוּרִים das Fest der Thora nach der heiteren Zeit benennt, die mit ihm beginnt, so weist der Name שָׁבוּעוֹת  Schawuoth, Wochenfest, auf die Zeit der Vorbereitung hin, die ihm vorangeht.

Die Thora antiquiert? Unsere Zeit, irgendeine Zeit, schon über die Thora hinaus, schon das Ideal der Thora im Rücken, schon den Institutionen entwachsen? „Schawuoth„, „Wochen!“ ruft die Thora an ihrem Fest jedem Geschlecht, jederzeit Israels zu,שִׁבְעָ֥ה שָׁבֻעֹ֖ת תִּסְפׇּר־לָ֑ךְ[52] sieben Wochen, siebenmal sieben Tage musstest du zählen, ehe du den Tag meines Festes begehen konntest; sieben mal sieben Prüfungen, sieben mal sieben Leuterungen musst du noch erst durchgehen, ehe du die Höhe meiner Institutionen erreichst! Nicht die Vergangenheit, die ganze Zukunft ist mein, das hoch ausgestellte Ideal bin ich, zu dem alle eure Geschlechter emporzuringen haben, — auf Bergeshöhen leuchtet mein Feuer — — , בְּתַחְתִּית הָהָר   unten am Berg standet ihr — und steht ihr — und seid nie tiefer gesunken, als wenn ihr meine Höhen schon überflügelt zu haben vermeint„. — — —

Kennt ihr „das Geschlecht, das seinen Vater geringschätzt und seine Mutter nicht segnet, — das Geschlecht, das in seinen Augen so rein, und noch vom Unflat der Kindheit nicht gewaschen, — das Geschlecht, dessen Augen so stolz und dessen Blick so hochmütig“? [53](משלי ל׳) Das ist das Geschlecht, das die Thora seines Gottes und die Institutionen seiner Ahnen geringschätzt, und doch erst noch sieben mal sieben Umwandlungen und Leuterungen durchzumachen hätte, ehe es die Höhe zu erstreben vermag, auf welche diese Thora und diese Institutionen es rufen — — —

Wo im Kreis der Thora der Übergang aus einer Vorstufe zur höheren: aus der Gebundenheit zur Freiheit, aus der Weihelosigkeit zur Weihe, aus dem Naturstand zur menschlich göttlichen jüdischen Höhe also bezeichnet werden soll, das, diese Vorstufe erst als ganz überwunden erscheinen soll ehe in die höhere eingegangen werden durfte, da wird dieser Vorstufe der Unfähigkeit immer ein siebenzeitiger Zyklus eingeräumt, der erst durchgemacht sein muss, bevor die Zeit der Fähigkeit, der Freiheit, der Reinheit und der Weihe beginnt.

Erst nach sieben Tagen wird das Tier der Opferweihe fähig, erst nach sieben Tagen kann das Kind das Zeichen des Abrahambundes empfangen, erst nach sieben Tagen können Unreingewordene wieder in den Kreis der Reinheit des Heiligtums und der Ehe treten. Aber sieben mal sieben Tage hatte das befreite Israel zurückzulegen ehe es zur Thorahöhe emporblicken konnte, sieben mal sieben Tage das bodengetragene Israel von der ersten Sichelschwingung zu zählen ehe es das Fest der Thora feiern durfte, siebenmal sieben, siebenfältige Phasen der Prüfung und Läuterung hat Israel erst zu bestehen ehe es für die volle Wirklichkeit und Wahrheit der Thora gereift sein wird.

Denn nicht, wie die Kurzsichtigkeit spricht, für das damalige Geschlecht war die Thora berechnet, dass etwa ein späteres, etwa ein fortgeschrittenes, veredelteres Geschlecht derselben einst entwachsen sein könnte; [54] אֶת אֲשֶׁר יֶשְׁנוֹ פֹּה … וַאֲשֶׁר אֵינֶנּוּ פֹּה für das fernste Geschlecht ward der Bund der Thora geschlossen, für das fernste Geschlecht ward sie bestimmt, nicht der Ausgangspunkt, sondern der Höhe- und Zielpunkt für Israels weltgeschichtliche Entwicklung ist die Thora, und die ganze, mehr denn 3000jährige Geschichte Israels ist nichts anderes, als die große Phase seiner siebenfältigen Läuterung und Erziehung für die einst volle Erfüllung, für die einst volle Verwirklichung des Thoraideals.

Und diese Phase wird durchgemacht. In welche Knechtschaft geistiger Unfreiheit wir auch versinken, wie entfremdet wir dem heiligen Vatererbe auch werden mögen, mit welchen Reizen uns auch die in unjüdischer Unfreiheit erworbenen und genossenen Güter umstricken mögen, dass endlich das Ohr, das am Sinai das: „Du sollst keinen anderen Göttern dienen!“ vernommen, sich willig wie zur ewigen Knechtschaft an Tür und Pfosten unjüdischer Unfreiheit nageln ließe — nach sieben mal sieben Jahren erschien einst in Israels Kreisen das Jobeljahr, das mit Schofarruf alle Fesseln der Knechtschaft brach, alle Entfremdeten zur ureigenen Heimat rief und jeden wieder zu seiner Väter Erbe und zu seinen angestammten Familienbanden zurückführte,[55]  וְשַׁבְתֶּ֗ם אִ֚ישׁ אֶל־אֲחֻזָּת֔וֹ וְאִ֥ישׁ אֶל־מִשְׁפַּחְתּ֖וֹ תָּשֻֽׁבוּ nach sieben mal sieben Läuterungs- und Erziehungsphasen kommt das große Thorajobel einst, und es fallen die Bande unjüdischer Unfreiheit, es fallen die Fesseln unjüdischer Reize, alle, alle, die Entferntesten, die Entfremdetsten, vernehmen mit Schofargewalt den alten Gottesruf, und zurück, zurück, zurück kehren sie alle zum heiligen Väter-Erbe und zu dem unverlierbaren, heiligen Stammesberuf.

Nicht darum als ein bereits Erreichtes, als ein hochaufgestecktes, ewig anzustrebendes Ziel zeigt uns „Schawuoth“ die Thora und spricht:[56] שִׁבְעָ֥ה שָׁבֻעֹ֖ת תִּסְפׇּר־לָ֑ךְ, sieben Wochen zähle dir, siebenfältig reinige und läutere dich für dieses Ziel, für die lautere Höhe der Thora, — und hättest du alle anderen Ziele erreicht, wären alle Fesseln dir gefallen, wärst emanzipiert, hättest Bürgerrecht, und Bürgerboden, eigene Felder blühten dir wieder, eigene Äcker harrten deiner Sichel, damit, mit diesem allen  stündest du nicht am Ziel, ständest du erst am Anfang deines ewigen Berufes, dann erst recht hättest du dich neuerdings für die Erfüllung deiner Thora zu läutern, zu heben, zu weihen, dann erst, dann erst recht die Zählung deiner Thorawochen zu beginnen:

מֵהָחֵ֤ל חֶרְמֵשׁ֙ בַּקָּמָ֔ה תָּחֵ֣ל לִסְפֹּ֔ר שִׁבְעָ֖ה שָׁבֻעֽוֹת [57]


[1] Deuteronomium 4:15

[2] Pirkei Avot 6:2

[3] Kleines quadratisches Stück Papier

[4] Mitzvot

[5] Arbeits- und Werkverbots

[6] Du sollst nichts hinzufügen und nichts weglassen

[7] חֹמֶר בְּדִבְרֵי סוֹפְרִים מִבְּדִבְרֵי תוֹרָה, הָאוֹמֵר אֵין תְּפִלִּין, כְּדֵי לַעֲבֹר עַל דִּבְרֵי תוֹרָה, פָּטוּר. חֲמִשָּׁה טוֹטָפוֹת, לְהוֹסִיף עַל דִּבְרֵי סוֹפְרִים, חַיָּב: Die Auflehnung gegen die Worte der Schriftgelehrten ist eine schwerere Sünde als die gegen die Worte der Thora. Wer sagt: „es gibt keine Tephilinpflicht,“ um die Vorschriften der Thora zu übertreten, ist nicht strafbar; wer aber sagt: „es sind fünf Gehäuse nötig,“ umso zu den Worten der Schriftgelehrten etwas hinzuzufügen, ist schuldig. Sanhedrin 28 b (Übersetzung L. Goldschmidt)

[8] Exodus 25:8; „Sie sollen mir ein Heiligtum schaffen, so werde ich unter ihnen wohnen.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[9] Deuteronomium 30:11-14

[10] Wenn dein Herz deinem Vater im Himmel gewidmet ist

[11] Zu den Wahlfahrtsfesten Pessach, Schawuoth, Sukkot

[12] Zeugnis

[13] Numeri 28:24

[14] ebenda

[15] Thoravorlesungen

[16] Gebete

[17] Lehrhäusern

[18] Anruf, Gespräch

[19] Pflanzungen

[20] Jesaja 66:1

[21] Der „geistige“ Tempel

[22] Das Volk Israel ist einzig auf der Welt, die Thora ist einzig, Gott ist einzig

[23] Schriftlichen Überlieferung (Thora)

[24] “Die Zeit, an der uns die Thora übergeben wurde”, ein Pseudonym für das Wochenfest

[25] Deuteronomium 4:44; “…dies ist das Gesetz, welches Mosche niedergelegt hat vor Jisraels Söhne.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[26] Wikipedia: „Eine Dekretale ist eine in Urkundenform (epistula decretalis oder litterae decretales) veröffentlichte Antwort des Papstes auf eine Rechtsanfrage oder eine Entscheidung im Rahmen der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt, die in Kanones-Sammlungen aufgenommen und dadurch als allgemeine Norm rezipiert wurde.“ Hier: eine Rechtssammlung

[27] Sie stellten viele Schüler auf

[28] Anspielung auf den Propheten Amos und Rabbi Akiba, die beide von sich behaupteten Rinderhirten zu sein.

[29] Schabbath 15a: “Als darauf zwei Weber vom Misttor zu Jerušalem kamen und im Namen von Šema͑ja und Ptollion bekundeten, dass drei Log geschöpftes Wasser das Tauchbad unbrauchbar mache, bestätigten die Weisen die Halakha nach ihrer Aussage.” (Übersetzung L. Goldschmidt)

[30] aramäisch

[31] Jesaja 1:13; „ich mag nicht Sünde und festliche Weihe zusammen.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[32] Jesaja 1:14

[33] Siehe hierzu Deuteronomium 33:2; das Feuergesetz

[34] Siehe hierzu Sukka 37b

[35] Brot- (Mehl-) opfer

[36] Levitikus 23:19

[37] Emporopfer (Ganzopfer) und Sündopfer

[38] Brotopfer aus Mazzen, Brot der Armut

[39] Gußopfer (Wein)

[40] S.R. Hirsch: „ein durch Feuerhingebung zu gestaltendes Opfer zum Willfahrungsausdruck“

[41] Gesäuerte Brotopfer, Brot der Freiheit

[42] Friedensopfer

[43] Jeremia 10:11

[44] Jeremia 10:12

[45] Jeremia 10:16

[46] Yalkut Shimoni zu Noach 988:50

[47] Volkskörper

[48] Volk als Gesellschaft

[49] Micha 4:4

[50] Menachot 27a; DIE ZWEI LÄMMER DES WOCHENFESTES SIND VON EINANDER ABHÄNGIG; DIE BEIDEN BROTE SIND VON EINANDER ABHÄNGIG; (Übersetzung L. Goldschmidt)

[51] Psalm 30:2

[52] Deuteronomium 16:9

[53] Sprüche 30

[54] Deuteronomium 29:14; „… der hier mit uns heute steht…. der nicht hier mit uns heute ist.“(Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[55] Leviticus 25:10; „… und ihr kehret jeder zurück zu seinem Grundbesitze und jeder kehrt ihr zu seiner Familie zurück.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[56] Deuteronomium 16:9; „Sieben Wochen zählst du dir;“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[57] w.v.: „vom Beginn der Sichel am Getreide beginnst du zu zählen sieben Wochen“

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