Diesen Aufsatz zum Monat Elul hat Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l in der Zeitschrift „Jeschurun“, Jahrgang 3, Heft 12, September 1857 veröffentlicht. Diesen m.E. so wichtigen Artikel, der bis heute seine Aktualität nicht eingebüßt hat, hat auch sein Sohn Dr. Mendel Hirsch s“l in den von ihm herausgegebenen „Gesammelten Schriften“ seines Vaters Band 3 aufgenommen. Er hat dort den Artikel zusätzlich übertitelt:

Der erste Elul in der Wüste. — Die Gefahren für die Erhaltung der jüdischen Wahrheit in dem Wechsel der Zeiten: — während des ersten und zweiten Tempels; während der Verfolgungen des Exils; während der milderen Zeiten freien Verkehrs.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2941492

Der erste jüdische Elul sah einst unsere Väter und Mütter an einem großen, ernsten Scheideweg. Eine ganze Vergangenheit, nicht bloß die ihre, eine Vergangenheit der Menschheit lag hinter ihrem Rücken. Sie selbst waren die Boten einer neuen Zukunft, hatten die Sendung übernommen, die Menschheit in eine neue Zukunft hinüberzuleiten und hatten bereits — die eigene Zukunft verscherzt. Noch leuchteten die Blitze, noch rollten die Donner um Horebs Gipfel, noch war der letzte Hall des großen „Anochi“-Wortes[1] nicht verklungen, das sie als das Wort des Lichts und der Erlösung der Menschheit bewahren sollten und schon hatten sie es verleugnet und hatten an der Schwelle der neuen Zukunft diese Zukunft selbst begraben. Die Tafeln des Gesetzes lagen am Fuße des Horebs in Scherben, und auf den Wellen des Baches, der vom Berg herabströmte, flimmerten die Goldstäubchen des toten Götzen[2] um den sie den einig einzigen lebendigen Gott verleugnet!

Kaum betreten, standen sie schon am Ende ihrer Sendung und starrten vernichtet in die dunkle Zukunft hinaus.

Sie standen am Scheideweg. Die Vergangenheit war verscherzt. Wird ihnen die Pforte zu einer neuen Zukunft geöffnet werden? Wird ihr Herr und Meister zum zweiten Male das große Werk ihren Händen anvertrauen? Zum zweiten Male ihnen die Tafeln seines Gesetzes zum Unterpfand für ihre Botschaft an die Menschheit übergeben?

Es war der siebenzehnte Thamus, der die Tänze um das goldene Kalb und die Gesetzestafeln in Scherben gesehen. Es waren die Monate Thamus und Aw, in welchen das Volk bange der Entscheidung über ihre Zukunft entgegenharrte. Es blieben die Monate Thamus und Aw alle Folgezeit, die ganze tränenreiche Geschichte der jüdischen Jahrhunderte hindurch, die Zeit, in welche fast alle Katastrophen fielen, die das Geschick dieses Volkes mit Schmerz und Trauer erfüllten. Und es war erst der neunundzwanzigste Aw, an welchem Gott zu Mosche gesprochen: „Mache dir zwei steinerne Tafeln wie die ersten, ich schreibe auf diese Tafeln dieselben Worte wieder die auf den ersten Tafeln gewesen, die du gebrochen. Sei bereit zum Morgen und steige am Morgen den Sinai hinan, und warte meiner dort auf dem Gipfel des Berges!“[3]

Und am ersten Elul stieg Moses mit zwei neuen Tafeln den Sinai hinan und es ließ sich die Herrlichkeit Gottes neben ihn nieder und verkündete ihm, wie der barmherzige Gott immer derselbe barmherzige Gott sei, vor der Sünde und nach der Sünde des Menschen, immer in seiner Allmacht bereit, aufs Neue den Boden und die Kraft zu einem ganz neuen Leben zu gewähren, barmherzig und gnadenvoll, langmütig und reich an Liebe und Wahrheit, die Liebe an tausend Geschlechter bewahrend, hinweghebend die Verkehrtheit, den Abfall und Fehl, aber auch nichts ungeahndet hingehen lassend, ahndend die Verkehrtheit der Väter an Kindern und Enkeln, an drittem und viertem Geschlecht! Da warf sich Moses zur Erde und sprach, o, dass du Gott in unserer Mitte wandeltest! Und ist es ein hartnäckiges Volk, so wirst du unserer Verkehrtheit und unserm Fehl verzeihen und uns dafür ganz als dein Eigentum hinnehmen![4] Und aufs Neue errichtete Gott sein Bündnis mit Israel, es mit seiner Wundermacht in die Mitte der Völker als sein Fingerzeig hinzupflanzen, warnte es aber vor der Verführung der Völker, warnte es vor ihren Altären und Denkmälern, vor ihren Göttern und Töchtern und ermahnte es sich an Seine Feste und Institutionen, an alle die geistigen Halte anzuklammern, mit welchen Er ihm sein ganzes Dasein, die Zeiten seines Jahres, die Ereignisse der Familie und das ganze alltägliche Leben, — im Tempel, auf dem Acker, in der Küche — durchwebt.

Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb Mosche dort bei Gott, am zehnten Tischri kam er herab vom Berge und brachte die erneuten Gesetzestafeln als Unterpfand des erneuten Bündnisses mit herab vom Berge, und Mosche wusste nicht, dass sein Antlitz strahlend geworden, indem Gott mit ihm sprach[5]

Die Scherben der zerbrochenen Gesetzestafeln lagen aber fortan neben den erneuten Gesetzestafeln in der heiligen Lade zur ewigen Erinnerung an die Gefahren der Sünde und an die bereite Gnade des Allmächtigen den Tiefstgesunkenen wieder zu sich empor in den Bund zu heben. —

 Und so oft seitdem der erste Elul in den jüdischen Kreis einkehrt, tritt mit ihm der ernsteste Ernst und zugleich die Gott entgegenzitternde freudigste Freude ein in die jüdische Brust. Es winkt ja immer aufs Neue der zehnte Tischri, und mit ihm immer aufs Neue Gott, Gott in seiner unwandelbaren Liebe, Barmherzigkeit und Gnade, der in seiner Allmacht immer aufs Neue uns einen neuen, von aller Vergangenheit ungetrübten Boden des Daseins und Wirkens setzen, uns immer aufs Neue in seine innigste Bundesnähe zu sich empor heben will, uns immer aufs Neue seine ewigen Gesetzestafeln entgegenreicht, wie oft wir auch die Tafeln seines Gesetzes zerbrachen — so wie nur anerkennen, dass sie zerbrochen, und dass sie durch unsere Schuld in Scherben liegen.

[6]זְכֹר אַל תִּשְׁכַּח , „vergiß nicht“, hatte uns Mosche in seinen letzten Tagen gemahnt, „vergiss nicht, wie du deinen Gott in der Wüste erzürnet, וּבְחוֹרֵב הִקְצַפְתֶּם אֶת ה‘, wie selbst am Horeb, am Fuße des noch im Gottesfeuer flammenden Horeb ihr Gott erzürntet!“ Und wahrlich, wir haben es nicht vergessen. Wir haben den Schofarhall aufgegriffen, der uns einst aus unseren Zelten um den flammenden Gottesberg zusammenrief und mit dem uns noch Gott alljährlich zum zehnten Tischri hinlädt, wir haben ihn aufgegriffen diesen Schofarhall und so oft der erste Elul uns grüßt, mahnen wir uns selber durch Schofartöne an die Zeit, die kommt, an das Ziel, das unser wartet und an die Arbeit, die wir solchem Ziel entgegenzulösen haben.

Denn nicht wie einer Geschichte alter, verschollener Zeiten sollen wir der Horebsünde nicht vergessen; an der Jahrgangscheide unserer irdischen Wallfahrt tritt uns das alte Gedächtnis entgegen, um im lebendigsten Kreis unserer frischesten Gegenwart Umschau zu halten, ob diese alte Horebsünde schon ganz abgetan, ob sie nicht immer wieder auftaucht, ob nicht der alte Kleinmut uns immer zu neuem Abfall verlockt.

Eine solche Umschau war zu jeder Zeit ein ernstes Geschäft, ernst für den Einzelnen, ernst für eine jede große und kleine Gesamtheit der immer großen, allweiten Gottesgemeinde. Denn leicht war es nie Jude und Jüdin zu sein. Nicht den schwächsten, zartesten, weichsten, den härtesten, festesten, unnachgiebigsten Menschenstamm, [7] עַז שֶׁבְּאוּמוֹת, hat sich Gott zum Träger seiner Gesetzestafeln erwählt und hat zu ihm gesprochen, bleibt diesem Gesetze treu, trotzt mit ihm den Verzweiflungen der Wüste und den Verlockungen der Paradiese, trotzt mit ihm dem Widerspruch der Jahrhunderte und dem Kampf in der eigenen Brust, trotzt mit ihm dem Anprall wutentbrannter Gewalten von außen und dem verführenden Beispiel abgefallener Schwächlinge nach Innen — und wenn Mosche gesprochen:   „כִּי עַם קְשֵׁה עֹרֶף הוּא, וְסָלַחְתָּ לַעֲוֹנֵנוּ וּלְחַטָּאתֵנוּ וּנְחַלְתָּנוּ [8] ist es ein hartnäckiges Volk, so wirst du unserer Verkehrtheit und unserem Fehl verzeihen und uns dafür ganz als dein Eigentum hinnehmen!“ so hat er vielleicht darauf hingewiesen, wie eben die Unbeugsamkeit des jüdischen Charakters, die wiederholt so oft die göttliche Langmut in Anspruch nehmen musste, doch zuletzt eben diejenige Tugend wäre, die, wenn einmal gewonnen, das jüdische Volk dann auch für immer Gott zum Eigentum hingeben und es zum ausdauerndsten, unnachgiebigsten Träger des göttlichen Gesetzes befähigen werde. Bis das Gesetz, — nicht der Glaube allein — bis das Gesetz die Welt überwunden, steht von selbst die Welt im Gegensatz zu diesem Gesetz und seinen Trägern. Bis dahin hat Israel auf keine Zeit zu rechnen, die ihre Verhältnisse seinem Gesetz, der Bestimmung und der Aufgabe seines Daseins und seines Lebens harmonisch entgegentrüge. Bis dahin gibt es für Israel keine Zeit, in der es leicht wäre, Jude und Jüdin zu sein. Nur bietet eine jede Zeit andere Hindernisse zu überwinden, andere Kämpfe zu bestehen, andere Opfer zu bringen; Überwindung aber, Kampf und Opfer fordert jede.

Galt es in Palästina während des ersten Tempels der Gott verleugnenden Unsittlichkeit der umliegenden asiatischen Staaten, so wie dem Gesetz verleugnenden Abfall des diesem verführerischen Beispiel erlegenen eigenen Staates zu widerstehen; so galt es während des zweiten Tempels der hellenischen Verlockung und der römischen Politik, so wie dem durch beide im eigenen Innern erzeugten Verderbnis und Irrtum Widerstand zu leisten. Galt es in den dunkelsten Jahrhunderten des Exils trotz Kerker und Scheiterhaufen, trotz Vertreibung und Niedermetzelung Jude und Jüdin zu bleiben und der Verachtung und dem Hohn einer selbst in die schmählichste Barbarei und erbärmlichste Verblendung versunkenen Welt mit der Ägide des in Gott gefundenen Selbstbewusstseins und der in Gott gewonnenen Selbstachtung Trotz zu bieten; so galt es in Perioden wie der spanisch-arabischen Zeit der milden Luft des Hoflebens, den Verlockungen der Üppigkeit, sowie Verirrungen Widerstand zu leisten, die einerseits aus der Teilnahme an den auf nichtjüdischem Boden und nicht auf jüdischen Prinzipien erwachsenen wissenschaftlichen Bestrebungen sich erzeugten, anderseits aus den Geistesarbeiten der aus einem halben Judentum hervorgegangenen Sprossen des Christentums und des Islams in die Auffassung des Judentums selbst hineingetragen wurden. Galt es noch in den späteren Zeiten des Mittelalters und dem Anfang der neuern Zeit sein Judentum die Möglichkeit Jude und Jüdin zu sein, mit dem Ausschluss von aller Teilnahme an den aufblühenden Bestrebungen der Wissenschaft und Kunst, mit der Nichtbeteiligung an allem Staatenleben, mit der Verkümmerung des Familienlebens, mit der Beschränkung der Nahrungswege, mit der verhöhnenden Abschließung in das von allem Weltverkehr abgepferchte Ghetto-Leben zu bezahlen, so wie allen Verlockungen zu widerstehen, die ein erfindungsreicher Wahn mit erkünstelten Hindernissen Verkümmerung wünschend, Bekehrung hoffend, jedem redlichen und sittlichen Streben des Juden gewaltsam in den Weg geschleudert; so gilt es in der neuesten Zeit, mitten im freiesten Weltverkehr, in vollster Beteiligung an allen Bestrebungen der Wissenschaften und Künste, des Handels und der Gewerbe, der Bildung und des Staaten-Lebens sich selbst zu beschränken sein Judentum zu bewahren, Jude und Jüdin zu bleiben, freiwillig das Opfer einer jeden Beteiligung zu bringen, die nur mit Verletzung jüdischer Pflicht zu erkaufen wäre, — mitten in dem Andrang der verschiedenartigsten Ideen, Ansichten, Wahrheiten und Wahrheitslarven sich den Blick für die eine, jüdische, Wahrheit zu erhalten, — mitten in dem Wogen eines auf den verschiedenartigsten, von Erkenntnis oder Gewohnheit, von Überzeugungen oder dem Interesse des Augenblickes eingegebenen und mit dem Interesse des Augenblickes verschwindenden Prinzipien sich bewegenden Lebens auf dem einen, ewig alten und ewig, jungen Prinzip des jüdischen Gottesgesetzes festzustehen, — das Jahrhunderte lang den Augen der Welt entzogene und darum von der Welt verkannte Judentum nun in vollster Öffentlichkeit zur Verwirklichung und Anerkennung zu bringen, die ganze Herrlichkeit seines welterleuchtenden und welterlösenden Geistes in alle Beziehungen des entfaltetsten Menschen- und Völkerlebens hineinzuleben, nicht aber sich von den überflutenden Wogen nichtjüdischen Denkens und Handelns begraben zu lassen; sowie zugleich dem Abfall Widerstand zu leisten, der auf allen Gassen und an allen Enden, in Häusern und Tempeln, in Schulen und Hörsälen, mit Wort und mit Schrift und mit voranschreitender Tat im eigenen jüdischen Kreis von denen geübt wird, die von der Freiheit und dem ungewohnten wogenden Leben — seinen Interessen, seinen Genüssen, seinen versprechenden Aussichten — berauscht, dem alten unbeweglichen Fels der jüdischen Gotteswahrheit Lebewohl sagend, sich hineingestürzt haben in den Strudel des sie umflutenden unjüdischen Lebens und von denen gepredigt wird, die nun hintendrein den vollzogenen Abfall beschönigend, nicht in dem Widerstand, in dem sich selbst Aufgeben das letzte Ziel des gottgesandten Judentums lehren, und uns die Schwierigkeiten, die Hindernisse, die auch unsere Zeit der treuen jüdischen Pflichterfüllung bietet, nicht als Prüfungen und Versuchungen, wie sie jede Zeit in ihrer Weise gehabt, sondern als ebenso viele Gotteszeugen von uns begriffen wissen wollen, die das endliche Ende eines Gesetzes verkündeten, das durch alle Zeiten durchzutragen, Gott uns gesandt, und das eben in unserer heutigen Treue seine glänzendsten, leuchtendsten Triumph feiern sollte.

Denn wahrlich nicht weil die Zeiten milder, die Opferung freiwilliger und die Beschränkung eine Selbstbeschränkung geworden, ist darum die Versuchung eine geringere und der Wert der Treue ein minder gewichtiger. Nicht weil die Kämpfe von den Schlachtfeldern und den Gassen in die Tempel und Familien, von dem Gegensatz nach Außen in die Gegensätze im eigenen Innern verlegt, ist darum der Kampf minder schmerzlich und der Sieg minder bedeutungsschwer. Nicht endlich, weil das nichtjüdische Leben und die Gestaltungen der nichtjüdischen Welt bereits vielfach bewusst und unbewusst von jüdischen Gedanken durchdrungen und der geistige Gegensatz nach außen bereits ein minder schroffer geworden, ist darum die Gefahr für die Erhaltung der jüdischen Wahrheit im Geiste und im Leben minder drohend und die obsiegende selbstbewusste Festigkeit minder des Kranzes wert.

So lange die Welt um uns her heidnisch den Göttern des Wahns und der Unsittlichkeit die Knie beugte, war es unschwer im jüdischen Bewusstsein aufrecht bei dem einen Einzigen und seiner Lehre und der Wahrheit des Rechts, der Heiligung und der Liebe zu bleiben.

So lange die Welt um uns her in mittelalterliche Barbarei und Rohheit versunken, die ihnen überkommene Kunde von dem einen Einzigen mit heidnischen Wahngebilden versetzt zu einer Lehre gestaltet, die ihre Kraft nicht in Erlösung der Menschheit von Rohheit und Gewalttat, nicht in Erleuchtung des Geistes und Veredlung des Gemütes bewährte, die uns ihre Jünger immer nur mit dem Schwert und der Brandfackel in der einen, mit dem Götterbild in der anderen Hand entgegensandte und uns an der Knechtung der Völker, an der Willkür der Herrscher, an den Tränen und Seufzern, an dem Krieg, Mord und Brand um uns her — und an der Einäscherung unserer eigenen Hütten, an der Niedermetzelung unserer Frauen und Kinder, an der Vertreibung unserer Familien, an der Verkleinerung und Zerstörung unseres ganzen irdischen Glückes unaufhörlich erkennen und fühlen ließ, wie weit, weit ab von der Mission, sie sich bezeuge, die Erlösung der Welt in Wahrheit und Liebe zu vollbringen, wie lange, lange noch nicht der Erlöser gekommen, der den Wolf zu dem Schaf und den Leoparden zu dem Lamm führen, die Schwerter und Sensen umwandeln, die Erde in Gerechtigkeit richten und sie mit Erkenntnis des Einen, Einzigen füllen werde, wie die Flut des Meeres Becken deckt — so lange stand die Welt trotz des jüdischen Buches der göttlichen Welterlösung in ihren Händen in so schreiendem Gegensatz zu dem ganzen Inhalte der jüdischen Weltanschauung und des jüdischen Bewusstseins von Gott und der göttlichen Menschenwürde und von der Heiligung des ganzen Menschenlebens in Gott, dass sie uns in der Tat von selbst zurückwarf in die Burg des eigenen göttlichen Heiligtums, dass sie es uns in der Tat leicht machte, einer solchen Welt gegenüber, Jude und Jüdin zu bleiben, als Juden zu leben und — so es galt — als Juden und fürs Judentum zu sterben.

So lange endlich die Gegensätze uns nach außen klafften, aber innen, innerhalb der vom Hass umfriedigten Judengassen der Friede und die Einheit blühte, ein Gott, eine Lehre, eine Wahrheit, eine Überzeugung alle begeisterte, ein Grundsatz das Leben aller trug, ein Gesetz das Leben aller regelte, um ein, einziges Heiligtum sich alle scharten, da wuchs in dieser Gemeinsamkeit der Gedanken und Empfindungen die Entschiedenheit und damit die Kraft der Überzeugungen, da wusste jeder, wofür er lebte und starb, und schöpfte aus dem Born der Gesamtbegeisterung die Stärke und den Mut jeder seines Teils für das Gesamtheiligtum also zu leben und zu sterben.

Die Zeiten sind anders geworden. Das Judentum hat nach außen wie noch nie an Boden gewonnen. Das Judentum hat im Innern wie vielleicht noch nie an Boden verloren. Beides zusammen hat die alten Kämpfe, aber auch den alten Mut gebrochen. Die alten Gefahren und Versuchungen sind nicht mehr, aber neue hat die Gegenwart gebracht, — schwerere, unausgesetztere, — schwerer, weil die Gemeinsamkeit fehlt, weil es den Einzelkampf gilt, weil sie gegen die eigenen Brüder zu bestehen sind; unausgesetzt, weil die Gefahr und Versuchung mit jedem Atemzug verwebt, in alle Beziehungen des häuslichen, Familien- und Gemeindelebens gedrungen, und fast ein jeder jüdisch treue Schritt — nicht den Schwert- und Fackelbrand-Gefahren — wohl aber den Reizen des Genusses, den Verlockungen des Gewinnstes, den Berechnungen der Lebensklugheit, und dabei den Verführungen, Verlockungen, Verhöhnungen und Widerstrebungen der eigenen Brüder abgerungen werden muss. Die Gefahren sind da. Die Versuchungen sind gegeben — soll die neue Zeit nicht auch zu neuen Triumphen führen? Nicht neue Kämpfer, neue Begeisterung und neue Siege lehren?

Wie am ersten Elul einst stehen wir ratlos in der Wüste. Uns war auch eine hohe Sendung für eine neue Zukunft anvertraut und — wir haben diese hohe Sendung kaum begriffen, meist verscherzt. Was Jahrhunderte, Jahrtausende lang unter Druck und Hohn, unter Schmerz und Marter in Verkümmerung, in Verkennung und im Widerspruch gegen eine ganze Welt siegreich von uns erhalten worden, das hätten wir jetzt in der Freiheit und in der Freude, im Licht einer uns besser verstehenden und ihre Anerkennung nicht versagenden Welt, getragen von einem Schatz neuer nie geahnter, geistiger und materieller Kräfte und Mittel, zur volleren, heiter glücklichen Verwirklichung bringen können; — hätten der Welt, bei welcher endlich der in sie gestreute Funke vom jüdischen Gott- und Menschen-Bewusstsein aufzugehen und an der Erlösung der Menschheit von Barbarei und Knechtschaft, von geistigem Wahn und sittlicher Entwürdigung zu arbeiten begonnen, das volle Licht der jüdischen Gottverherrlichung durch ein durch und durch Gott geweihtes Menschenleben entgegentragen können — hätten Juden, freie Juden, gebildete Juden, geachtete Juden sein und die ganze Herrlichkeit dieses Juden-Seins und Lebens zum leuchtenden Wahrzeichen einer ein neues Wahrzeichen suchenden Zeit erheben können; — und was haben wir von allem diesen getan? Was sind wir von allem Diesen geworden?

Statt uns und das von unsern Vätern mit ihrem Herzblut erkaufte Gottesgesetz als die Erlösung der Zeiten zu begreifen, haben wir die Zeit als unsere Erlöserin von uns selbst, als die Entbinderin von unserer gottgeprägten Eigentümlichkeit, als die Befreierin von dem uns von Gott gegebenen Gesetz begrüßt.

Statt die neugeöffnete Welt mit allen ihren Blüten und Schätzen, mit all ihren Erkenntnissen und Gaben als einen neuen, günstigeren Boden zu betreten, auf welchem nun mit umso frischerer Begeisterung und umso freudigerer Hingebung das alte Gottesgesetz zur Verwirklichung kommen solle, haben wir sie als ein Terrain betrachtet, dessen Heimatrecht nur durch Aufgeben des alten Gottesschatzes zu erkaufen sei.

Statt in der nun freieren, lichteren Zeit, zu welcher wir endlich an der Hand des alten Gottesgesetzes gelangt, eben die Offenbarung der erhaltenden und schützenden Wundermacht dieses alten Gottesgesetzes zu verehren und dieser Wundermacht jubelnd nun mit doppelter Hingebung entgegen zu jauchzen—[9] בִּישׁוּעָתוֹ  זֶה ה‘ קִוִּינוּ לוֹ נָגִילָה וְנִשְׂמְחָה—  „Dies ist unser Gott, auf den wir gehofft, wir wollen nun freudig heiter uns seiner Hilfe freuen!“ — haben wir ihm zum Dank den Rücken gewendet und dem goldenen Kalb, zu dessen Rundreigen wir nun freien Zutritt haben, jubelnd zugerufen „ אֵלֶּה [10]אֱלֹקֶיךָ יִשְׂרָאֵל das sind deine Götter Israel!“

Dem Kalb gelten unsere Tänze, dem Kalb unsere Freude und unser Jubel — die alten Tafeln haben wir zerbrochen, — ihr Gesetz passt nicht zu diesem Kalb und seinen Tänzen, — und in jedem Dörflein sitzt ein zweiter Moses, meißelt an neuen Tafeln, auf die aber nicht Gottes Finger wieder das alte, ewige, durch keinen Abfall zu beseitigende Gesetz, nein, auf welche er selbst das neue Gesetz zu schreiben gedenkt, wie es sich im Rausche des neuen Reigens gewinnt, wie es den Tänzern des neuen Reigens bequem. —

Es fehlt aber der Moses, der den Mut hätte, das glänzend goldene Kalb zu nehmen und die Hohlheit und Nichtigkeit, die dem Staub verfallende Vergänglichkeit des Tagesgötzen dem Volke inne zu machen, um die es den ewigen, lebendigen Gott seiner Vergangenheit und Zukunft verleugnet.

Es fehlt der Moses, der den Mut hätte, in das Lager der Israeliten mit dem Rufe: „Wer Gottes ist, zu mir![11]“ zu treten, und fände sich der Moses, so fehlt der Levitensinn und der Levitengeist, der den Mut hätte, um einen solchen Moses sich zu scharen, „Vater und Mutter nicht zu sehen, Brüder und Söhne nicht zu kennen“, wo es gilt, Gottes Wort zu schirmen und sein Bündnis zu retten.

Es fehlt der Moses, dem es nicht genügte, sein Volk zeitlich zu retten und von Gottes Engel geleitet, sicher in das gelobte Land der neuen Zukunft zu führen, der sich und sein Volk für verloren achtete, so „Gott nicht weiter mit uns zöge, Gott nicht weiter mitten unter uns wandelte“, Gott nicht weiter unser ganzes Leben durchdränge, wie er das Leben der Väter erfüllte und mit ihnen gewandelt und mit ihnen gezogen durch Nacht und Knechtschaft, durch Meeresbrandung und Wüstenöde, und sie begeistert und sie geführt und sie geleitet und sie gehoben und sie als sein einziges Volk auf Erden hingestellt.

Es fehlt der Moses, der es verstünde, sühnend in den Bruch zu treten, der es verstünde, uns zum Bewusstsein unserer Schuld und unserer Torheit zu bringen, dass wir den Jubel in Trauer verwandelten, dass wir fühlten, was wir verloren, dass wir der falschen Kränze uns schämten, mit denen wir sinnberauscht uns das Haupt um des vermeintlichen Sieges willen geschmückt, dass wir neu aus unserer Verirrung uns zu Gott wendeten und von seiner Gnade uns aufs Neue — das alte Gesetz erbäten!

Er fehlt — und weil er fehlt, weil dem armen, verratenen, verlorenen Geschlecht keine hervorragende Persönlichkeit, kein Führer und Retter und Sühner erscheint, darum verlieren selbst die den Mut und verzehren sich in Rat- und Taktlosigkeit, die den Bruch ihres Volkes bejammern, die seine Täuschung durchschauen und nur auf den Mann in Israels Toren zu warten vorgeben, der mit seinem „Wer Gottes ist, zu mir!“ sie um die Gottesstandarte versammele.

Wie sehr sind sie irre! Moses ist tot und kein Mensch kennt sein Grab, und nicht hervorragende Persönlichkeiten waren es, die unsere Väter durch alle die zurückgelegten Kämpfe und Prüfungen geleiteten. Das Gotteswort war ihr Führer, das Gotteswort ihr Moses. Keines Führers und Leiters und Mittlers bedurfte Israel je, so es galt für Gottes Gesetz aufzustehen, für Gottes Gesetz einzustehen, für Gottes Gesetz zu leben und zu sterben. Meint ihr es ehrlich mit Gott, so lasst die Irrenden tanzen ums Kalb, lasst die abgefallenen Leviten zu ihrem Tanze die Melodien geigen, wartet auf keinen Moses, nehmt Gotteswort zur Hand, lest es, lernt es, lasst es euch nicht von den falschen Leviten umdeuten, lest es, lernt es, lehrt es euren Kindern, lasst sie daraus euren und ihren ewigen Beruf (Aufgabe des Juden auf Erden) erkennen Gottes Stimme zu gehorchen und sein Gesetz zu erfüllen in Freud und in Leid, in Zeiten der Knechtschaft und der Freiheit. Fehlt auch der Mut in Israels Lager mit dem Moses-Ruf, „wer Gottes ist, zu mir!“ aufzutreten, in eurem Lager, eurem harmlosen Kreis vermögt ihr es doch, dort, im Kreis eurer Kinder, seid ihr doch geborene Leiter und Führer, Retter und Mittler, der Kreis ist doch euer — und dort könnt ihr, kann jeder, den Bruch der Zeiten heilen.

Im Ernste des Elul-Posaunenrufs sammelt die Eurigen um euch, zeigt ihnen die Täuschung der das goldene Kalb Umtanzenden, lasst sie fühlen, lasst sie kosten die Nichtigkeit der Götzen des Tages, zeigt ihnen die Gesetzestafeln in Scherben, zeigt ihnen den gerechten Gott in der Höhe, der unser, der ihrer, der auf jeden von uns wartet, den unser Wohl und Weh an die Erfüllung seines Gesetzes geknüpft, der so reich ist an Wahrheit wie an Liebe, der uns ein Gesetz gegeben, dessen Verleugnung sich an Kind und Kindes Kinder rächt, der aber auch so reich ist an Liebe wie an Wahrheit und immer bereit ist, uns aufs Neue in den Bund seiner Gnade zu heben, so wir nur mit erneutem, frischen Ernst die neuen Tafeln des alten Gesetzes aus seinen Händen hinnehmen, seiner Leitung uns ganz hingeben, nicht nach den Göttern und Denkmälern der nichtjüdischen Welt hinüberwanken und uns auf den Adlerflügeln seiner Lehre, seines Gesetzes, seiner Mizwot, durch alle Zeiten fragen lassen wollen — und der zu jeder Zeit und jeder Stunde zu uns spricht: הַיּוֹם אִם בְּקוֹלִי תִּשְׁמָעוּ  „auch heute noch, so ihr meiner Stimme gehorchet!


[1] Anochi=Ich bin — damit beginnt der Dekalog

[2] Moses hatte das „goldene Kalb“ zu Goldstaub zermahlen und in den Fluss gestreut.

[3] Exodus 34:1

[4] Exodus 34:7-9

[5] Exodus 34:29-30

[6] Deuteronomium 9:7

[7] Das widerspendstigste unter den Völkern; s. Beizah 25b: Und das ist dasselbe, was Rabbi Shimon ben Lakish sagte: Es gibt drei Unverschämte: Das jüdische Volk unter den Völkern; der Hund unter den Tieren; und der Hahn unter den Vögeln.

[8] Exodus 34:9

[9] Jesaja 25:9

[10] Exodus 32:4

[11] Exodus 32,26

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