Aus der gleichen Jeschurun-Ausgabe wie der vorherige Artikel stammt auch dieser Aufsatz von Rabbiner Hirsch s“l. Wie bereits in der letzten Ausgabe unsres Monatsmagazins erwähnt, gibt es ausgewählte Schabbattage die uns auf das Pessachfest vorbereiten sollen (s.“Jechurun.online, Heft 5, 2. Jahrgang, S. 8). Der zum Wochenabschnitt zusätzlich vorzulesende Thoraabschnitt, befasst sich mit dem Phänomen der „Roten Kuh“ (Numero 19:1-22) und heißt Schabbat Para. Dieses Jahr fällt er auf den 18. Adar 5783 (11. März 2023). Nur wer sich rituell gereinigt hatte, konnte das Opfer an heiliger Stelle, im Tempel zu Jerusalem, darbringen. Dazu musste der Opfernde aus einem Gemisch aus Quellwasser und der Asche der „roten Kuh“ besprengt werden. Rabbiner Hirsch gibt eine besondere Deutung der Begriffe „Rein“ und „Unrein“ in diesem Zusammenhang.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.
[1]חַיָּיב אָדָם לְטַהֵר אֶת עַצְמוֹ בָּרֶגֶל „Dem Fest soll mit dem Bewusstsein der Reinheit des eigenen Menschenwesens von jedem begegnet werden, und deshalb mussten die inhaltsschweren Reinigungsgesetze von jedem beachtet werden!“ Dies das Motiv, welches für den zweiten[2] Vorbereitungsschabbat die Paraschah der [3]פָּרָה אֲדֻמָּה, die große, die ewige Lebenswahrheit der [4]טָהֳרָה, der „Reinheit“ lehrende Institution der „roten Kuh“, zum Vortrag bestimmte.
[5]זֹאת חֻקַּת הַתּוֹרָה, hier ist die Bedingung, die Basis, der Boden der ganzen Thoraאֲשֶׁר צִוָּה ה‘[6], welche Gott geboten! Hier ist die Voraussetzung, auf welcher das ganze göttliche Gesetz beruht! Die Lehre dieser Institution muss in uns lebendig werden, oder die ganze Thora ist vergebens für uns geschrieben, und Tempel und Altar und Opfer und Feste sind für uns bedeutungslos und schal.
Diese Bedingung, diese Basis, dieser Boden, diese Voraussetzung, mit welcher alles steht und fällt, heißt: „Taharah“ טָהֳרָה!
Ein späterer Sprössling des Judentums hat einige abgefallene Blütenblätter von dem großen, das verlorene Paradies auf Erden wiederbringenden „Baum des Lebens“ in den Schoß der Menschen gestreut, und schon der Duft dieser wenigen Paradiesesblüten hat eine ersterbende Menschheit vom Grabe zurückgerufen, hat neues Leben den Gemütern, neues Licht den Augen, neue Kraft und neue begeisternde Ziele dem Streben der Menschen gebracht. Und weil schon diese wenigen Blütenblättchen, wenngleich abgerissen, und oft fletrirt[7], schon solches Wunder geübt, vermeinte man bald in ihnen den ganzen Baum des Lebens zu haben, sah nicht, wie dies eben nur abgefallene Blütenblätter waren, deren tausende den heimischen Boden dieses Lebensbaumes decken, und wunderte sich, dass in dem heimischen Kreis derselben von diesen Blüten so wenig gesprochen wurde — weil man dort allerdings an den Früchten sich labte, die Früchte laut und ewig pries, den Duft der Blüten aber nur stillselig, als süße Wonnezugabe atmete.
Eines dieser Blütenblätter trägt das Wort: Unsterblichkeit! Einer in Jammer und Elend, einer in Gram und Kummer, einer in Täuschung und Hoffnungslosigkeit verzweifelnden, in Leichtsinn und Entartung versinkenden Welt brachte dieses Wort die Aussicht auf ein Jenseits, und mit ihr den Trost einer alles vergütenden Zukunft einer alle Rätsel lösenden Erleuchtung, einer in die Unendlichkeit reifenden Vollendung jenseitiger Seligkeit — und mit ihr den Ernst einer mit irrungsloser Waage vergeltenden jenseitigen Gerechtigkeit, — und erzeugte die Wunder eines Märtyrertums, dem es ein Leichtes ward, auf die Erde zu verzichten um den Himmel zu gewinnen.
Und doch ist dieses Blatt der Unsterblichkeit nur ein abgefallenes Blütenblatt vom Paradiesesbaume des vollen jüdischen Lebens! Und doch konnte dieses Blatt der Unsterblichkeit eben durch seine abgerissene Einseitigkeit zugleich auf die trostloseste Weise alle höhere Bedeutung des irdischen Daseins verneinen, und zugleich seine unbeschriebene Kehrseite zur Verbreitung der noch trostloseren Lehre darbieten, zur Einimpfung des trostlosesten Gedankens, den je der sterbliche Geist des Menschen erdacht, des Gedankens eines unfreien Versunkenseins aller Menschenseelen in die Sünde und Verdammnis schaffende Gewalt des Bösen!
Nicht also im heimischen Kreis dieses Lebensbaumes der Menschheit, nicht also auf dem Paradiesesboden der jüdischen Lehre! Dort ist „Unsterblichkeit“ nur ein Blütenblatt, nur eine Konsequenz, nur eine Seite eines unendlich volleren, unendlich umfassenderen, unendlich seligeren und beseligenderen, unendlich heiligeren und heiligenderen, und darum unendlich wichtigeren Gedankens, — dort ist Unsterblichkeit nur eine Fortsetzung ins Jenseits des großen Gedankens der „Tahara“ der „Reinheit“, d. h., der ureigenen, unverlierbaren und darum schon diesseitigen Freiheit, der schon diesseitigen Göttlichkeit und Seligkeit menschlicher Seelen.
„Unsterblichkeit“ heißt Freiheit der Seele nach ihrem Scheiden aus der Hülle des irdischen Leibes. „Reinheit“ aber heißt Freiheit der Seele selbst während ihrer diesseitigen Vermählung mit dem irdischen Leib. „Unsterblichkeit“ verheißt, dass dereinst der Tod keine Gewalt habe über die der Erde enthobene Seele. „Reinheit“ gibt die Gewissheit, dass schon auf Erden keine Macht der Natur Gewalt habe über die auch in ihrer irdischen Hülle reine, freigöttliche Menschenseele, ja, dass dieser Seele die göttliche Energie, die freie Kraft von Gott verliehen, während ihrer Ehe mit dem irdischen Leib, diesen Leib selbst aus dem unfreien Getriebe des Naturzwanges zu sich emporzuretten und ihn frei als Werkzeug ihres Willens, frei als Boten ihrer Gedanken und ihrer Zwecke zu gebrauchen. Unsterblichkeit lehrt den einstigen, jenseitigen Aufschwung der menschlichen Seele in die beseligende Gottesnähe „Reinheit“ lehrt den schon diesseitigen Seelenbund des Menschen mit Gott, lehrt schon die diesseitige Paradiesesseligkeit der Seele, die ungetrübte Ebenbildlichkeit dieses Gotteshauches in seiner freien Meisterschaft über die zu seinen Herolden und Dienern bestimmten Kräfte und Mächte des irdischen Leibes.
„Der eine, einzige, frei über die Natur waltende Gott“, so lautet der eine Eckstein der jüdischen Lehre. „Die reine, freie, nur diesem einen, einzigen Gott unterstehende, in göttlicher Ebenbildlichkeit über die mit ihr vermählte irdische Natur freiwaltende, göttliche Menschenseele,“ so lautet der andere Eckstein dieser Lehre.
[8]‚זֹ֚את חֻקַּ֣ת הַתּוֹרָ֔ה אֲשֶׁר־צִוָּ֥ה ה , dies ist der Eckstein, die Grundbedingung der Lehre, welche Gott geboten: Der Wahn, als ob das „lebenstrotzende“ ,אֲדֻמָּה תְּמִימָה — „vollkräftige“ ([9]אֲשֶׁר אֵין בָּהּ מוּם ) Tier, als ob der lebenstrotzende, vollkräftige Leib nicht zu „meistern“ (zu beherrschen) sei (לֹא עָלָה עָלֶיהָ עֹול [10]), für den Wahn gibt es keine Stätte, gibt es keine Stätte im jüdischen Kreis! Draußen (מִחוּץ לַמַּחֲנֶה [11]), wo der Kreis des menschlichen Wirkens aufhört, und das Naturleben beginnt, dort waltet das Reich der jochlosen Gewalten unwandelbarer Notwendigkeit. Aber auf dem Boden des Menschenwirkens, im Menschenkreis, [12] בַּמַּחֲנֶה, finde die lebendige Natur ihren Meister an der Priesterhand des gottdienenden Menschen; nur unter der priesterlichen Meisterschaft des gottdienenden Menschen finde auch die mit dem göttlichen Menschengeist vermählte irdische Natur Eingang in den Menschenkreis, ja werde sodann mit ihm heilig geweiht und gehoben zu Werkzeugen Gottes Willen auf Erden frei vollbringenden Tuns.
Sprich darum, so lautet die Grundforderung des göttlichen Gesetzes, sprich zu Israels Söhnen: dir, dem Herold und Vertreter des göttlichen Gesetzes, und durch dich diesem Gesetz, diesem Ausdruck des göttlichen Willens, übergebe die jüdische Gesamtheit zum Nationalbekenntnis, das „Tier“ „lebendstrotzend“, „vollkräftig“, das außerhalb des Menschenkreises „ungebändigte,“ und ihr übergebt es dem Priester. Der führt es hinaus, außerhalb des Kreises jüdisch-menschlichen Wirkens und „[13]לְפָנָיו,, unter dem „bewusstvollen“ Priesterblick [14] וְשָׁחַט אוֹתוֹ לְפָנָיו , meistere man es mit der tötenden, opfernden Hand.
Und אֲדֻמָּה תְּמִימָה[15] sei es, אֲשֶׁר אֵין בָּהּ מוּם[16] sei es! Nicht erst wenn die Lebensfarbe erblasst, selbst in der jugendlichen, männlichen Fülle des Lebens, — und nicht nur einzelne Seiten dieses pulsierenden Seins und Wollens, ohne Rückhalt, unverstümmelt, ausnahmslos muss erst das Tier unter dem unverwandten Priesterbewusstsein gemeistert werden, ehe es in den jüdischen Lebenskreis Eingang finden darf. Ungemeistert ist jedes Moment des tierischen Lebens und jede Seite des tierischen Lebens gebannt aus dem jüdischen Lager. Hinaus weist der Priester das ungebändigte Tier aus dem Lager.
Aber nur ungebändigt, ungemeistert ist das Tierleben aus dem jüdischen Kreis gebannt; unter dem Priesterbewusstsein, von der Meisterschaft des Menschen beherrscht, darf es nicht nur in den Menschenkreis des jüdischen Lagers einziehen, וְלָקַ֞ח … הַכֹּהֵ֛ן מִדָּמָ֖הּ בְּאֶצְבָּע֑וֹ וְהִזָּ֞ה אֶל־נֹ֨כַח פְּנֵ֧י אֹֽהֶל־מוֹעֵ֛ד מִדָּמָ֖הּ שֶׁ֥בַע פְּעָמִֽים [17], hinein in das Allerheiligste weist der Priesterfinger jedem menschlichbeherrschten Blutstropfen die Bestimmung der Weihe, auf dass, wie die ganze sechstägige Erdschöpfung das Schabbatsiegel des Gottesbündnisses trägt, also dieses Gottesbündnis, diese Schabbatvermählung mit Gott sich in jedem Pulsschlag unseres Herzens, in jedem Blutstropfen jedes einzelnen Menschen wiederhole und wir nicht nur jenseits einst zu einem seligen Leben erwachen, sondern wir schon im Diesseits, mit unserm ganzen Dasein, auch mit dem diesseitigen vom irdischen Blut getragenen Sein und Wollen, ein nur Gott untergebenes, zur ewigen Freiheit gehobenes Leben in seliger Gottesnähe gewinnen!
Freilich, was von diesem tierischen Wesen nicht die Richtung ins Allerheiligste gewonnen, was nicht in diese Weihe an Gott zur freien Erfüllung seines heiligen Willens eingegangen, auch was nur Träger des zu Gott emporstrebenden Lebens gewesen, das sehen wir vor unseren Augen zu Staub zerfallen wie es vom Staub gekommen, das verfällt der auflösenden Allmacht der Elemente וְשָׂרַ֥ף אֶת־ [18]הַפָּרָ֖ה לְעֵינָ֑יו אֶת־עֹרָ֤הּ וְאֶת־בְּשָׂרָהּ֙ וְאֶת־דָּמָ֔הּ עַל־פִּרְשָׁ֖הּ יִשְׂרֹֽף ; davor sollen wir ebenso wenig das Auge verschließen, וְשָׂרַ֥ף אֶת־הַפָּרָ֖ה לְעֵינָ֑יו; aber diese Vergänglichkeit ist kein eigentümliches Los des sterblichen Menschenleibes, dieses Los der Vergänglichkeit teilt er mit allem, was von dem „Ysop bis zur Zeder“ in der Welt des vegetabilischen[19] Lebens, mit allem, was vom „Wurm bis zum Säugetier“ in der animalischen Welt zum zeitlichen Dasein erstanden,[20] וְלָקַ֣ח הַכֹּהֵ֗ן עֵ֥ץ אֶ֛רֶז וְאֵז֖וֹב וּשְׁנִ֣י תוֹלָ֑עַת, alles geht ein in dieselbe Auflösung der Elemente [21] וְהִשְׁלִ֕יךְ אֶל־תּ֖וֹךְ שְׂרֵפַ֥ת הַפָּרָֽה, — und von dieser ganzen irdisch entstehenden und irdisch zerfallenden Welt wird nichts für die Ewigkeit, nichts für die schon diesseitige Unsterblichkeit gerettet, als der mit dem in unsterblicher Freiheit gottebenbildlichen Menschengeist vermählte, mit ihm zu Gott emporstrebende, für Gott emporwaltende, seiende und wollende Blutstropfen des menschlichen Herzens!
Das ist die Lehre von der [22]טֻמְאָה, von der Gebundenheit, der Unfreiheit, der Sterblichkeit alles nicht zum reinen Menschendasein erstandenen irdischen Wesens; und das ist die Lehre von der [23]טָהֳרָה, von der Reinheit, von der Freiheit, von der Selbstständigkeit und Ewigkeit alles in dem Menschen mit Gott vermählten irdischen Lebens!
Und siehe, so oft ein Mensch, oder ein dem reinen Menschen wirken angehöriges Werkzeug und Mittel mit einer Menschenleiche in Berührung gekommen, dürfen sie nicht eingehen in das Heiligtum der Gotteslehre, es sei denn zuvor eben diese Lehre erneut ins Bewusstsein gebracht, die Lehre: Dass der Tod, d. h. die Unfreiheit, das Erliegen der bezwingenden Gewalt äußerer Mächte, auch für den Menschenleib erst mit dem Tod beginne. Nur die Leiche, die von dem gottebenbildlichen Menschengeist verlassene, von ihm nicht mehr beseelte zu Staub zerfallende Hülle gehört dem Reich der טֻמְאָה an. Aber im Leben, mit diesem gottebenbildlichen Menschengeist zu seinem Boten und Werkzeug für den Dienst Gottes auf Erden vermählt, gehört selbst der irdische Leib dem Reich der טָהֳרָה, dem Reich der Freiheit und Selbstständigkeit an, und so lange der Puls in deinem Herzen schlägt kannst du und sollst du mit freier, göttlicher Kraft jeden Pulsschlag deines Herzens, jeden Blutstropfen deiner Adern, jeden Reiz deiner Nerven, jede Spannung deiner Muskeln im Dienst deines Gottes meistern, und selbst diese, sonst der Vergänglichkeit hinfallenden irdischen Gestaltungen in die beseligende Gottesnähe schon diesseits hinüber retten. Der Lebendige hat mit dem Tod nichts zu schaffen.
מַיִם חַיִּים אֶל כֶּלִי [24]: Vom „ewig lebenden Quell“ in „irdische Umschränkung“ abgeschöpftes Leben — zu zeitweiliger Vereinigung mit „irdischem Aschenstaub“ gemischt — das ist der Mensch! Aber das dem ewigen Quell entsprungene Leben ist das Ursprüngliche, ihm wird das Irdische zur zeitlichen Ehe zugeführt, [25] הִקְדִּים עָפָר לַמַּיִם פָּסוּל wie auch in der irdischen Mischung das Irdische täuschend als das Ursprüngliche erscheine, [26]וְנָתַן עָלָיו לְעַרְבָן — dies Irdische selbst ist עָפָר שְׂרֵפַת [27]הַחַטָּאת, trägt während dieser Vereinigung die Bestimmung: von dem, dem ewigen Leben Entstammten priesterlich beherrscht zu werden und kommt die Mischung einst zur Ruhe, sinkt der irdische Aschenstaub zu Boden und rein und ungetrübt scheidet das dem ewigen Leben entflossene Leben aus zur Höhe —
[28!]וְלָֽקְחוּ֙ לַטָּמֵ֔א מֵעֲפַ֖ר שְׂרֵפַ֣ת הַֽחַטָּ֑את וְנָתַ֥ן עָלָ֛יו מַ֥יִם חַיִּ֖ים אֶל־כֶּֽלִי