3. Die Flüche.

Hier widerspricht Rabbiner Hirsch s“l dem Protestanten in Bezug auf dem Vorwurf, dass die Juden Meister im Verfluchen seien, während der Christ sogar seinem Feind, den Fluch mit Segen zu vergelten habe.

Die „Bemerkungen“[1] weisen auf 3. Moses 26:14 ff. hin, auf alttestamentarische Verfluchungen, deren stärkste keine Erhebung von dem Fall des Verfluchten gestatte, im Gegensatz zu der Lehre dessen, der selbst Feindes Fluch mit Segen zu vergelten befehle, und sollen überhaupt die Juden eine ordentliche Meisterschaft im Fluchen erlangt haben.

Wären dieses wirklich erboster Menschen Flüche, und hätten wirklich überhaupt die Juden eine ordentliche Meisterschaft im Fluchen erlangt — ach! eine solche traurige Meisterschaft, wäre noch lange nicht so schauderhaft traurig als die Meisterschaft, in welcher nun seit mehr als tausend Jahren die nichtjüdischen Völker sich bewähren, solche Flüche, „solche grausenerregende Flüche“ nun zur Wahrheit, zur Wirklichkeit an den Menschen zu machen, über die sie ausgesprochen wurden. Und ein Blick, auch nur ein Blick, in eine im Heiligen Römischen Reich[2] erfundene Eidesleistung eines Juden[3], zeigt, dass auch im Heiligen Römischen Reich eben keine Stümper im Fluchen gewesen — gewesen, möchte ich so gerne sagen, wenn nur diese Eidesleistung schon überall, selbst in unserer Zeit, bei unserem protestantischen Bewusstsein außer Brauch wäre.

Aber haben wir hier wirklich Flüche, Menschenflüche, in denen erboste Ohnmacht die Rache, die Vernichtung die sie auszuführen zu schwach sich fühlt, in Wort wenigstens dem gehassten Gegenstand anwünschen möchte, dass die Lehre: Feindes Fluch selbst mit Segen zu vergelten einen Gegensatz dazu bilden könnte? — oder kommen in der Lehre Gottes, der dem Tauben zu fluchen verbietet (3. Mos. 19:14), der einen gegen Eltern ausgesprochenen Fluch mit richterlichem Tode bestraft (2. Mos. 21:17), der jeden Hass, jede Rache, jeden Groll selbst verbietet (3. Moses 19:18) und somit nicht nur Vergeben, sondern wahrhaft wirkliches Vergessen erlittenen Unrechts fordert, und nicht nur Wohltaten, sondern im ganzen Lebenslauf zuvorkommende Gefälligkeit gegen Feinde lehrt (2. Moses 25:4), kommen in dessen Lehre Billigungen von Flüchen vor.

Und diese Flüche? Siehe, der ewige Gott der Liebe und des Rechts tritt seinem Volk vor seinem ersten wirklichen Eintritt in die Reihe der Völker entgegen und enthüllt ihm seine ganze Zukunft. Zeigt ihm, wie alle die Fülle, alle den Segen, den andere Völker nur von ihrer Kunst, ihrer Macht, von der Gunst ihrer vergötterten Naturkräfte, von einer die Geschicke des Menschen blind würfelnden Schicksalsnotwendigkeit erwarteten, Israel ganz allein aus den Händen des frei waltenden ewigen Gottes der Liebe und des Rechts hinnehmen würde, wenn es sein ganzes Leben in allen seinen Beziehungen, nach der Lehre dieses einzigen Gottes ordnen würde. Zeigt ihm aber auch den ganzen Abgrund, in den es einzig und allein durch Vernachlässigung dieser Lehre sinken würde, und wie ihm keine Macht und keine Gunst helfen könne ohne Treue dem göttlichen Gesetz. Denn eben an diesem Volk und durch dieses Volk will ja der ewige Vater und Erzieher der Menschheit offenbaren, dass Er nicht nur der Himmelhohe sondern auch der Erdennahe Gott sei, Er allein mit seiner ewigen Liebe und seinem ewigen Recht die Geschicke der Völker lenke und die Weihe und Vergöttlichung des ganzen Menschen- und Völkerlebens in allen seinen Beziehungen durch Seinen Geist, als Höheziel der Menschheitsentwicklung stelle, dass Menschen und Völker keine andere Bestimmung auf Erden haben als in allen und mit allen Seiten ihrer Lebensentwicklung Gottesdiener zu sein, und nur als solche auch die Ruhe und den Frieden und die Glückseligkeit finden werden, die sie vergebens auf jedem anderen Wege dauernd suchen. Zu solcher menschenoffenbarenden Lehre und solchem gottoffenbarenden Geschick rief Gott sein Volk, und mitnichten ist dort die Nichtwiedererhebung von dem Fall als Spitze gestellt, vielmehr die Gottesnähe selbst dem Gefallenen in seiner Gesunkenheit zugesagt. „Und gleichwohl“ schließt die Gottesrede (3 Moses 26:44), „wenn sie auch sind im Lande ihrer Feinde, habe ich sie damit nicht verworfen und verschmäht, sie zu vernichten, mein Bündnis mit ihnen aufzuheben, denn ich der Ewige bin ja ihr Gott. Ich werde ihnen den Bund der Früheren gedenken, die ich aus Mizrajimsland geführt vor den Augen der Völker ihnen Gott zu sein, Ich, der Ewige.“ „Und nun, so hat der Ewige gesprochen, dein Schöpfer, Jakob, und dein Bildner, Israel, fürchte dich nicht, denn ich habe dich ja erlöst, habe es mit deinem Namen ja verkündet: mein seist du. Gehst du durch Fluten — mit dir bin Ich, und durch Ströme, — sie verschwemmen dich nicht. Gehst du durch Feuer, du wirst nicht versengt und Flamme lodert dich nicht an. Denn Ich der Ewige bleibe dein Gott, der in Israel Geheiligte dein Helfer!“ Jes. 43.

Wo aber gäbe es eine größere Bewährung, eine größere, mit jedem Jahrhundert sich lebendiger steigernde Dokumentierung der Göttlichkeit des geschmähten Alten Testamentes als eben diese seine Worte des Lebens und des Todes, des Segens und des Fluches in der Geburtsstunde eines Volkes, die sich nun seit mehr als dreitausend Jahren, als die Jahrtausende voraus geschaute und voraus verkündete ganze Zukunft eines Volkes bestätigen! Vergleiche mit dieser Verkündigung der Blüte und Zerstreuung dieses Volkes, der Blüte und Verödung dieses Landes, die dieser Verkündigung nun durch Jahrtausende herab gefolgte Geschichte dieses Volkes und dieses Landes bis zu der Lage, in welcher du beide, Volk und Land, selbst noch am heutigen Tage erblickst — und frage dich, ob einem Anderen diese Verkündigungen entstammt sein können, als dem ewigen Gott aller Zeiten, aller Welten, dessen Blicken die fernste Zukunft wie der gegenwärtige Augenblick klar vorliegt, und der über Länder und Völker gebietet und es geschieht, verheißt und es erfüllt!

Was soll es endlich überhaupt auch mit diesen Bemerkungen, diesen von ihnen so genannten jüdischen Nationalgott lästernd in Gegensatz zum Gott der unendlichen Liebe zu stellen? Wer ist’s, der sich als den barmherzigen, gnädigen, langmütigen Gott verkündet, als den Unendlichen an Liebe und Wahrheit, der tausend Geschlechtern Liebe bewahrt, Sünde und Verbrechen und Fehler verzeiht, wenn Er gleich auch ungestraft nicht lässt und oft Sünde der Väter an Kinder und Kindeskinder an Enkeln und Urenkeln heimsucht (2. Mos. 34:6-7). Wer ists, der sein Heiligtum ganz zu einer Stätte der Sühne, der Verzeihung, der Vergebung und des zu erringenden und wieder zu erringenden göttlichen Wohlgefallens gestiftet (3. Mos.)? Wer ist’s, dessen Sänger von der nur in Ihm zu findenden Freude und Wonne, Seligkeit und Trost, Kraft und Erleuchtung (Ps. 16) überströmen, dass Er ihnen sei, der ihnen ihr Lebensdunkel erleuchte (Ps. 18:29), ihr Hirte sei auf duftenden Auen an ruhig murmelnden Quellen, das Gemüt ihnen labe, den Fuß ihnen leite, Stab und Stütze und Trost ihnen reiche wenn sie zu wandeln haben durch todumschattete Täler (Ps. 23)? Wer ist’s von dessen Erbarmen und Liebe, Güte und Geradheit, Liebe und Wahrheit sie singen, der ihr Licht sei und ihr Heil, dessen Zürnen so kurz, dessen Verzeihen so lang, dessen Güte so reich, der Milde und Recht liebe, mit seiner Liebe die Erde fülle und seine Rettungsengel um seine Verehrer lagere (Ps. 25:6 f; 27:1; 30:6; 31:20; 33:5; 34:8)? Wen verkünden ihre Lieder, als Ihm, dem die Wege zu befehlen seien, der den Kranken auf seinem Siechbett stützt, sein Licht und seine Treue den Verirrten sendet, der die feste Burg sei und die immer zu findende Hilfe in der Not und hinüberführt über den Tod (Ps. 37:6; 41:4; 43:3; 46:2; 48:15)? Wen besingen sie als Ihn, der das gebeugte Herz nie zurückweise, dessen Lieb und Wahrheit himmelhoch, in dessen Schirm und Schatten Schutz zu finden sei, wenn auch Tod und Verderben drohe, dessen Liebe morgens zu verkünden sei und seine Treue in den Nächten, dem mit Freuden sei zu dienen und seine Wohltaten nie zu vergessen, der der Seele Sünden alle verzeihe und heile alle ihre Schwächen, und erlöse ihr Leben und sie bekränze mit Liebe und Erbarmen, sie beglücke, sie verjünge, nicht nach seinen Fehlern und Sünden mit dem Menschen verfahre, sondern wie ein Vater seines Kindes sich erbarme, weil er die Schwäche des Staubgebornen kenne (Ps. 51:19; 91:1; 92:3; 100:2; 103)? Wessen Tempel hallte stets von den Hymnen wieder, dass Er der Allgütige sei und unendlich ewig seine Liebe, dass Er der Himmelhohe und zugleich der Erdennahe sei den Armen aus dem Staub zu heben, die Freudenleeren zu beglücken, als der immerwache Menschenhüter zu beschirmen und zu beschützen und dem Menschen sein stilles häusliches Erdenglück zu bauen (Ps. 107:1; 113:6; 121:4; 128)? Wer ist in ihren Liedern der Gnaden- und Erbarmungsvolle, langmütig und liebegroß, der allen Gütige, der alle Fallenden stütze, alle Gebeugten aufrichte, Recht schaffe den Gedrückten, Brot den Hungernden, Freiheit den Gefesselten, Licht dem Blinden, Erhebung dem Gebeugten (Ps. 130:4; 145:8; 146:7)? — Wer ists, der seine Boten (Jes. 61:1) sendet wunde Herzen zu verbinden, Weggeführten Heimkehr, Gefesselten Erlösung zu verkünden, zu verkünden: wären auch eure Sünden wie Karmesin, wie Schnee sollen sie wieder weiß werden, wären sie auch rot wie Purpur, wie Wolle sollen sie sein. Tröstet, tröstet mein Volk, denn voll ist sein Kampf, gesühnt seine Sünde. Ich bin’s ja, Ich bin’s, lösche deine Verbrechen meinetwegen und gedenke deiner Fehler nicht mehr, habe wie Wolke[4] deine Verbrechen getilgt und deine Fehler wie Dunst, kehre zu mir zurück, Ich erlöse dich ja. Denn es tröstet der Ewige Zion, tröstet all ihre Trümmer, macht ihre Wüste Eden gleich, und ihre Öde wie Gottes Garten, Freud‘ und Wonne wird darin gefunden, Dank und Stimme des Gesangs. Wie schön sind auf den Bergen die Füße dieser Boten, die den Frieden verkünden und das Gute verkünden und das Heil verkünden und zu Zion sprechen dein Gott ist ja König (Jes. 1:18; 40:1; 43:25; 44:22; 51:3; 52:7)! — Machet Bahn, machet Bahn, räumt den Weg, hebt den Anstoß aus meines Volkes Weg. Denn also spricht Der, den man den Hocherhabenen, in der Unendlichkeit Thronenden und Heiligen nennt, hoch und heilig throne ich wohl, aber auch beim Gebeugten und Geistgesunkenen, zu beleben den Geist der Gesunkenen und zu beleben das Herz der Gebeugten. Denn nicht ewig streite ich und nicht immer zürne ich. Denn der Geist ging ja von mir aus in seine Hülle und die Seele habe Ich ja gebildet. Als es sündigte zürnte ich und schlug es mich verbergend. Da ging es hin in den Wegen seines Herzens. Seine Wege sehe ich und heile es und leite es und vergüte Tröstung ihm und seinen Trauernden, schaffe die Rede der Lippen: Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen, spricht der Ewige, ich habe ihn geheilt (Jes. 57:14). — Wessen Boten sind es, die in die Mitte der Menschheit treten und alle Lechzende zum Quell der Labung und des Heiles laden. Wessen Geist hebt ihnen die Zunge, wenn sie rufen: Sucht den Ewigen, da Er immer zu finden, ruft ihn an, da Er immer so nah. Es verlasse der Sünder seinen Weg und der Gewaltsame seine Pläne und kehre zum Ewigen wieder, der erbarmt sich sein, zu unserm Gott hin, der verzeiht gar viel. Denn nicht meine Gedanken sind eure Gedanken und nicht eure Wege sind meine Wege, spricht der Ewige. Denn wie hoch sind die Himmel über die Erde also hoch sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. Bewahrt das Recht, übt die Milde; denn nah ist mein Heil zu kommen und meine Milde sich zu offenbaren. Heil jedem Menschen, der dieses übt, dem Adamssohn der daran hält. Spreche nur ja nicht der Fremde, der sich anschließen will dem Ewigen, absondern wird mich der Herr von seinem Volk. Ich bringe sie zu meinem heiligen Berg, erfreue sie in meinem Hause des Gebets, ihre Opfer und Gaben zum Wohlgefallen auf meinem Altar, denn mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden für alle Völker. (Jes. 55:1 u. 7; 56:1 f.)

Wer ist’s, dessen Sänger also singen, dessen Boten also verkünden, ist es nicht der Gott des alten Testaments, der Gott der unendlichen Liebe, den Du — Gott verzeihe es Dir — nur als den fluchenden Nationalgott der Juden kennst!!

Wenn aber der Allheilige der Gott der Liebe ist, ist er nicht auch der Gott des Rechts, ist nicht die Gerechtigkeit ebenso sein heiliges Attribut? Ja ist es nicht die Gerechtigkeit, auf der das Weltall steht, ist nicht Gerechtigkeit die höchste Liebe zum Ganzen, während eine nie zürnende Liebe Lieblosigkeit wäre? Wenn die Liebe Wesen schafft, so ordnet Gerechtigkeit die Fülle der Wesen zu Welten und erhält Gerechtigkeit der Welten Ordnung. Und sollen da die Gottessänger ihn nicht auch in dieser seiner Welt erhaltenden Gerechtigkeit besingen, wie ihn der Raub des Armen, das Angstgeschrei der Dürftigen aufruft, in seiner Allmacht zu richten, und wie es kein Dunkel und keinen Todesschatten gebe, worin sich der Sünder dem allgerechten Gott entziehen könne usw. Das ist eben die Wahrheit der jüdischen Lehre, dass sie in Gott die Liebe mit dem Recht und das Recht mit der Liebe paart, und beides als Eins erkennen lässt, beide nur in ihrem Erscheinen verschiedene, in ihrer Wesenheit einige Attribute des Einigen Allheiligen Gottes.

4. Der jüdische Gottesdiener.

Im vierten Teil nimmt Rabbiner Hirsch s“l Stellung zum Vorwurf des „Knechtdienstes des Juden zu seinem Gott und seinem Gesetz“.

Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott und dessen Gesetz wäre nur das des Knechtdienstes, nicht das sittlich freier Menschen, bemerken die Bemerkungen. Das Halten der Gebote, der Gehorsam, wäre sinnlich, blind, äußerlich, —

Das Alte Testament, dieses alte Vermächtnis Gottes an die Menschheit, bezeichnet gerne das höchste Verhältnis, in welchem der Wille Gottes sich den Menschen wünscht, als Ewed[5], als Diener, und der höchste Name, mit dem der größte Jude, mit dem der große Moses gekrönt wird, ist der — „Diener Gottes[6]“. „Mein Diener“ nennt ihn liebevoll bevorzugend der allerhöchste Gott vor allen übrigen Propheten Israels — und Diener Gottes, Gottesdiener zu sein, Gottesdiener in jeder Fuge seines Lebens, mit dem frühesten Lächeln und mit dem spätesten Atemzug, sein ganzes Leben heiligen Gottesdienst sein zu lassen, das ist allerdings das Ideal, das jedem Juden vorschweben soll, in jedem Stand, jedem Alter, jedem Geschlecht und jeder Lebenslage. Denn siehe, das jüdische Bewusstsein sieht sich ja umgeben von Millionen Scharen heiliger Gottesdiener (Psalm 103), es sieht ja den allheiligen Alleinen allein auf Seinem heiligen Thron, und alle, alle Wesen sonst, von dem Tautropfen, der die Blüten tränkt, bis zum Gottesengel, der die Geister weckt, alle Diener im Gottes Reich, Diener der Sturmwind und der Blitz, und der Tau und der Regen, und jegliches Sein und jegliches Werden, Gottesdiener um Gottes Thron; alle nur das einzige, allen gemeinsame Ziel habend, mit jedem Körnchen Kraft, und jedem Fünkchen Leben und jeder Spanne ihres Daseins, den Willen desjenigen zu erfüllen, der gab und gibt Dasein und Leben und Kraft — und Bestimmung, und der Mensch, der mit Bewusstsein, mit solchem Bewusstsein begabte Mensch sollte nicht freudig eintreten, frei eintreten in die große Schar des Gottesdiener, sollte Höheres kennen, als mit jedem Körnchen Leib und jedem Fünkchen Geist in jeder Spanne Zeit den heiligen Gotteswillen zu erfüllen, wenn auch nur einigermaßen dem hohen Zutrauen seines Schöpfers zu entsprechen, der von ihm frei die Achtung seines Willens erwartet, dem alle übrigen Wesen gebunden dienen!

Der hat nie die hohe Seligkeit des Gedankens, die hohe Seligkeit des Gefühls, gedacht und gefühlt, die mit dem Streben gepaart ist Gottesdiener zu sein, der diese Gesinnung also schmähen konnte. „Knechtdienst?“ Wer ist Knecht? Wer ist Sklave? Den nicht der Zug im Innern, die Liebe und Achtung im lebensvollen Busen, den nur die Gewalt und der Lohn im Dienst des Herrn bannen. Und Du wagst die Gesinnung, Knechtsdienst zu schelten, die, durch die Gedanken der unendlichen Größe und unendlichen Güte ihres Gottes, von Ehrfurcht überwältigt und von Liebe überwältigt, zu Ihm sich hinaufwendet und keine größere Seligkeit kennt, als den letzten Lebenshauch in seinem Dienst, in Erfüllung was Ihm wohlgefällt auszuhauchen. Die wagst Du Knechtsdienst zu schelten? „Nicht sittlich frei!“ Wer ist sittlich frei? Der nicht durch Leidenschaft und nicht durch Triebe, nicht durch Furcht und nicht durch Begierde, der ganz allein durch sein Pflichtgefühl, durch sein Pflichtbewusstsein in seinen Gedanken und Gefühlen, in seinen Worten und Handlungen sich leiten lässt, der ist sittlich frei. Den Sklaven schreckt die Peitsche, den Sklaven lockt der Lohn; aber an dem sittlich freien Menschen haben Leidenschaften und Triebe, haben Gefahr und Lust ihre Kraft verloren; in freier göttlicher Energie hebt sich sein wahres göttliches Ich, schaut auf seine Pflicht, und übt sie trotz Peitschendrohung und lässt nicht von ihr trotz süßester Lohneslockung. Und der Jude wäre kein sittlich freier Mensch? Und es hätte irgendeine Einzel- oder Volkspersönlichkeit je ihre hohe sittliche Freiheit also bewährt als der Jude? Weil in seinen Schriften auch sein irdisch Wohl und Weh an die Erfüllung seiner Pflichten geknüpft sind? Wir haben schon oben angedeutet was dieses Hinweisen auf Segen und Fluch im Gefolge der Pflichterfüllung uns ist — Dir aber ist es Schrecken des Sklavenjuden von der Sünde, Locken des Sklavenjuden zu der Pflicht — Sieh, Protestant, seit nun bald zweitausend Jahren gibts kein irdisch Gut mehr, das mit der jüdischen Pflicht errungen und erhalten würde; gibts fast kein irdisch Gut mehr, das nicht geschmälert und geopfert werden müsste für die jüdische Pflicht; ach, gibts kaum einen Schmerz, eine Qual, einen Kummer, eine Sorge, ein Elend, eine Not, die nicht in die Lebenshütte des Juden einkehrten nur weil sie die eines Juden; — und der Jude ist doch Jude geblieben, ist seiner Pflicht treu geblieben, trotz Qualen, die schreckten, trotz Güter die lockten, — hat nicht irdische Freuden und irdische Güter, hat mit seiner Pflichttreue nur Schmerzen und Leiden, nur Verkennung und Hohn eingeerntet — und der Jude ist doch treu geblieben; seit nun bald zweitausend Jahren schrecken die Schrecken nicht von jüdischer Sünde, sondern von jüdischer Pflicht, locken die Güter nicht zur jüdischen Pflicht sondern zur jüdischen Sünde, und der Jude hat auf sich genommen all die Schrecken und Schmerzen, hat hingeopfert all die Güter und Freuden, die das Leben verschönern und versüßen, hat sich und die Seinigen hingeopfert — um nur treu zu bleiben seiner Pflicht, um nur nicht zu lassen von seiner Pflicht, um nur die hohe Aufgabe zu erfüllen, die sein Gott ihm gesetzt, „zu lieben den Ewigen seinen Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen“(5. Mos. 6:5) — und Du wagst es im Angesicht solcher sittlich freien Hoheit, zu lästern: „das Verhältnis des Juden zu seinem Gott ist das des Knechtdienstes, nicht das sittlich freier Menschen!!!“ Ist nicht Kreuzestod um Wahrheit christliches Ideal sittlich freier Menschenvollendung? Nun, Tod und lebenslängliche Kreuzigung hat das jüdische Volk Jahrtausende herab um das erduldet, was ihm die Wahrheit ist. „Was ihm die Wahrheit ist!“ sprichst Du zurechtweisend. Ja wohl, was ihm die Wahrheit ist. Der Mensch lässt sich nur dafür kreuzigen, was ihm die Wahrheit ist.

5. Die Unsterblichkeit.

Das falsche Verständnis des Protestanten zwischen dem Alten und Neuen Testament wird hier von Rabbiner Hirsch s“l aufgegriffen.

Ehe die Bemerkungen ihren Schlussvorwurf gegen das Alte Testament vorbringen, den wir in dieser Nummer betrachten wollen, resümieren sie ihre Ansicht über altes und neues Testament in kurzen Antithesen, die alle bereits in den bisherigen Nummern ihre Erledigung gefunden. Auch deren Letzte bedarf — und verdient keine weitere Besprechung. Sie meint das Judentum habe nur den Fanatismus der Hartnäckigkeit im Festhalten an der Absonderung, und sein Konflikt mit den andern Völkern sei der der Vertilgung zur Ehre Gottes! Das Verhältnis zu den andern Völkern ist bereits besprochen, und die Vertilgung zur Ehre Gottes? — Nun doch wahrlich, jüdische Donatisten[7]– und Arianerverfolgungen [8], jüdische Inquisitionsteufeleien und Waldensermetzelungen [9], jüdische Dominikanerheldentaten und Hussitenkriege, jüdische Torquemada’s[10] Werke und Alba’sche Gräuel, jüdische Hugenottenvertilgungen[11] und Bartholomäusnächte[12], jüdische Dragonaden[13] und 30 jährige Religionskriege[14], jüdische Judenedikte und Judenverfolgungen — suchst Du vergebens auf den Blättern der Geschichte.

Doch wir wenden uns ab von solchen Gräueln zu einem schöneren Gegenstand.

„Ferner:“ so schließen die Bemerkungen über das Judentum, die ältesten Urkunden des alten Testaments wissen nichts von der Unsterblichkeit und Ewigkeit des menschlichen Geistes, der Tod ist das letzte und für ihn kein Trost. Auch diesen Widerspruch hat das Christentum gehoben. Der Christ weiß, dass er unsterblich ist usw. Nicht der Mensch wird hier zur Erden, sondern nur das von ihm, was von der Erde genommen ist. Der Christ usw.“

Das wäre doch wahrlich seltsam. Der Gedanke von der Unsterblichkeit und ewigen Fortdauer des menschlichen Geistes ist dem menschlichen Bewusstsein ein so natürlicher, und sein Gegensatz, dass der Tod das Letzte und für ihn kein Trost sei, ein so unnatürlicher, dem ganzen menschlichen Denkkreise so fremder, so undenkbarer Gedanke, dass noch kein Volk, und wäre es das roheste, in grellsten Fetischismus versunkene, über die Erde gewandelt ist, das nicht auf seine Weise seinen Hades und sein Elysium gehabt hätte, dem der Tod das Letzte und für ihn kein Trost gewesen wären — und gerade dem geistigsten Volk des Altertums, dem Juden, sollte, nicht nur irgend eine spezielle Art der Vorstellung von der Fortdauer nach dem Tod, sondern diese ganze Vorstellung überhaupt gefehlt haben, sollte der Tod das Letzte und für ihn kein Trost gewesen, sollte nicht auch vielmehr dieser Gedanke auf seine geistigste Weise in ihm lebendig gewesen sein, — das wäre wahrlich seltsam! Zum Glück ist den „Bemerkungen“ das Menschliche begegnet, dass gerade der Satz, in welchem der Verf. seine vermeintlich christliche dem Christentum als Vorzug zu vindizierende Unsterblichkeitslehre uns mitteilt: „nicht der Mensch wird hier zur Erden, sondern nur das von ihm, was von der Erde genommen ist“ nichts — als ein dem jüdischen Munde des alttestamentlichen Predigers, Kap. 12, V. 7. entnommener Satz ist:

„Und es kehrt der Staub wieder hin an die Erde wie er war,
Und der Geist kehrt wieder zu Gott hin, der ihn gegeben.“

Und dieser Prediger will an dieser Stelle gar nichts Neues, keinen neuen Gedanken etwa mitteilen, will überhaupt hier mit diesem Satz nicht die Unsterblichkeit lehren; sondern dieser Satz ist nur der letzte Zug in einem Gemälde des Alters und der allmählichen Auflösung. Ein Beweis, dass im Kreis des Volkes, mit dem dieser Prediger sprach, dieser Gedanke ein ganz alltäglicher, heimischer war, ebenso alltäglich und heimisch wie das Verdunkeln des Sehvermögens und das Umwölken der Augen, mit welchen Prediger 12, V. 2[15] die Schilderung des Alterns begonnen. Es steht also schon schlimm, sehr schlimm um diesen vermeintlichen Vorzug des Christentums vor dem Alten Testament. Allein der Verf. spricht von den „ältesten“ Urkunden des A. T. und meint damit vielleicht noch ältere als das Buch des Predigers. Wir wollen uns einmal vorderhand noch nicht in diesen ältesten Urkunden umsehen, ob sie gar nichts von der Unsterblichkeit und Ewigkeit des menschlichen Geistes wissen und ihnen der Tod das letzte sei. So kann doch das nicht mit zum Vorzug des Christentums gehören, was unleugbar schon lange, lange vor seiner Zeit, wie hier aus dem Prediger erhellt, Gemeingut des jüdischen Volks gewesen. Der hat ferner sich wahrlich wenig im jüdischen Alter- und Schrifttum umgesehen, der nicht weiß, wie gerade diese Lehre von der Unsterblichkeit des menschlichen Geistes, die Lehre von Olam Habba[16] und Thechijath Hammethim[17], die Lehre von dem zukünftigen Leben und der Auferstehung der Toten während des 2. Tempels, lange vor dem Christentum als jüdisches Glaubensdogma ausdrücklich und ausführlich gelehrt zu werden anfing nachdem — ich bitte diesen Umstand für später zu merken — nachdem zwei Schüler, die Gründer der sadduzäischen Sekte[18], im Gegensatz zu dem herrschenden Glauben, angefangen hatten diese Lehre zu bezweifeln. Wenn daher der Lehrer des Christentums die Unsterblichkeit und das ewige Leben des menschlichen Geistes gelehrt hat, so hat er damit im jüdischen Kreis nicht nur nichts Neues, vielmehr etwas längst Bekanntes gelehrt, sondern er hat überhaupt damit nur das im herrschenden jüdischen Volksglauben seiner Zeit lebendig Vorhandene wiedergegeben.

Wir brauchen jedoch auch nur den in den ältesten Urkunden des A. T. beim Tod eines Menschen ganz gewöhnlichen Ausdruck, Heaßef el Ammáw[19], „eingesammelt werden zu den Seinigen“ zu bedenken, um uns zu überzeugen, dass das Bewusstsein: nur die Hülle des Menschen werde begraben, der eigentliche Mensch aber, der Geist im Menschen komme zu den Geistern der Seinigen, von je her im jüdischen Volk ein ganz allgemeines gewesen sei. Denn nichts ist also für eine Volksansicht Bürge, als ein in der Sprache des Volkes ausgeprägter Gedanke. Dass dieses Heaßéf el Ammáw sich aber nicht auf das Einsammeln zu den Gräbern beziehe und etwa nur so viel als „bei den Vätern begraben werden“ sei, das liegt in allen Stellen klar. Verscheiden, Sterben, zu den Seinigen gesammelt werden (richtiger eigentlich: in die Versammlung der Seinigen aufgenommen werden) und dann Begraben. Ehe die Hülle der Erde übergeben wird, ist schon der Geist in dem Kreis der Seinigen. Am Schlagendsten beim Jakob (1. Mos. 49:29 ff). Er stirbt in Ägypten und wünscht in Palästina bei seinen Vätern begraben zu werden. Er spricht daher zu seinen Söhnen: „ich werde eingesammelt zu meinem Volke, begrabet mich bei meinen Vätern.“ Das zu den Seinigen gesammelt werden hängt nicht von seinem Grabe ab. Wo sie ihn auch begraben würden, würde er zu den Seinigen kommen. Er wünscht jedoch auch bei den Vätern begraben zu werden. Ebenso sein Tod: „als Jakob seine Aufträge an seine Kinder vollendet hatte zog er seine Füße ins Bette, verschied und wurde zu den Seinigen eingesammelt.“ Nun folgt erst sein Begräbnis nach 40 tägigem Einbalsamieren, 70 tägiger Klage usw. Ja bedenkt man, dass Essav so häufig die Bedeutung des Aufnehmens in einen heimischen, schützenden, zutunlichen Kreis habe (z.B. Psalm 27:10; Jes. 58:8; 4. Mos. 12:14; 2. Mos.9:19; Richter 19:15), so gibt es nichts Süßeres, Heiligtrauteres, als diesen jüdischen Gedanken des Menschentods. Die Heimat des Menschengeistes ist bei Gott, der ihn der Erdenhülle eingehaucht. Gott ruft ihn zu Sich (Hiob 34:14) in Seine heimische Nähe, zu den ihm verwandten Geistern, — das heißt Sterben. Das Entgegengesetzte von diesem Sterben wäre die Nichtaufnahme der Seele in den Kreis der Ihrigen, Hikkaréth hannéfesch meamméha[20], Genesis 17:14 und sonst: „Du überlässest meine Seele dem Grabe nicht, lässest Deinen Frommen nicht Verwesung schauen, lehrest mich den Weg des Lebens, die Freudenfülle vor Deinem Angesichte, die Wonne in Deiner Rechten ewiglich.“(Psalm 16:10) „O, dass meine Seele stürbe den Tod der Braven und mein Ende sei wie seines.“ (4. Mos. 23:10) „Seine Seele weilt im Guten und seine Kinder erben die Erde.“ (Ps. 25:13) „Gott tötet und belebt, führt ins Grab und aus dem Grabe.“ (1. Sam. 2:6) „Der Braven Wesen ist bestimmt das Grab zu überdauern, dass dies ihm keine Stätte sei. Nur Gott erlöset meine Seele von dem Grabe, denn Er nimmt mich zu sich. (Ps. 25:13) „Denn ich weiß es, mit dem Tode lässest Du zurück mich kehren, und es gibt eine Bestimmungsheimat für alles Lebende.“(Hiob 30:22) „Denn es hat der Baum ja Hoffnung, wird er gefällt, er ersetzt sich wieder, und sein Sprossen hört nicht auf. Und wenn auch in der Erde seine Wurzel altert, und im Staub sein Stamm abstirbt, von Wassers Duft treibt er neue Blüten, spendet Ernte als wär er frisch gepflanzt — und der Mann stürbe wenn er schwach geworden, wenn der Mensch hingeschieden, da wär er nicht mehr? Wasser ist wohl aus dem Meer geschwunden, und ein Strom versiegt und trocknet — aber der Mensch, der sich niederlegt, der stünde nicht wieder auf, bis keine Himmel mehr sind, erwachten sie nicht, ermunterten sich nicht mehr von ihrem Schlafe?! Wer gäbe, dass im Grabe Du mich bergtest, dort mich schütztest bis Dein Zorn sich gekehrt, Du würdest ein Ziel mir setzen und meiner wieder gedenken.“ „Wenn der Mensch stirbt da lebe er wieder?“ „Ja, alle Tage meines Kampfes harre ich darauf, bis mein Wechsel kommt. Du rufest dann — ich antworte Dir — nach dem Geschöpfe deiner Hände sehnest Du Dich!“ (Hiob 14:7)

Das sind Stimmen aus den ältesten Urkunden des Alten Testamentes über Leben und Auferstehung nach dem Tode. Und den ältesten Urkunden des Alten Testaments wäre der Tod das letzte und für ihn kein Trost?!

Aber warum lehren denn die Schriften des Alten Testaments den Glauben an die Unsterblichkeit nicht ausdrücklich und nachdrücklich, warum reichen sie ihn nicht als Trostbecher und Lebensbalsam den trauernden und wunden Herzen des diesseitigen Lebens und vor allem warum pflanzen sie ihn nicht als vorzüglichen Bewegungsgrund und Sporn zum Streben der Vervollkommnung und Veredlung, kurz zur Tugend auf Erden? Warum legen sie nicht den Wert und den Nachdruck auf diese Lehre wie Schriften der christlichen Lehre? — Weil sie dessen nicht bedurften, und weil sie Höheres lehrten.

 Die Schriften des Alten Testaments brauchten nicht den Glauben an die Unsterblichkeit ausdrücklich zu lehren, weil dieser Glaube allgemein verbreitet im Volksbewusstsein schon lebte und noch keiner daran zweifelte. Das frische lebensvolle Menschengemüt kennt ja überhaupt keinen Tod, keine Vernichtung, kein Nichts. Denn Vernichtung, Nichts sind nur Abstraktionen; in dem Reich der Wirklichkeit stellt sich dem Menschen keine Vernichtung, keine wirkliche absolute Vernichtung, kein wirkliches absolutes Nichts dar. Was Du Vernichtung, Nichts nennst, sind nur relative Vernichtungen, ist nur relativ Nichts. Es hört auf das Eine zu sein, aber es wird ein Anderes. Es ist nicht das Eine, aber ein Anderes ists. Du kennst nur einen Wechsel. Und darum ist auch dem natürlichen Menschen der Tod nur ein Wechsel, ein anderes Sein, das sich jedes Volk nach seinem Ideenkreis gestaltete; aber Sein oder Nichtsein ist ihm nicht die Frage. Und nun der Jude, der Jude des Alten Testaments, der den Gottes Odem, den Odem des ewigen, unsterblichen Gottes in sich fühlte, der mit so klarem, scharfscheidenden Bewusstsein den Erdenleib, die Staubhülle, von der Gottesseele, dem Gottesgeist in sich schied, wo hätte der auf den Gedanken kommen sollen, sein Geist, der Odem des lebendigen ewig unsterblichen Gottes höre auf zu sein, wenn ihm die Staubhülle zerfällt, fange nicht vielmehr erst noch kräftiger zu sein an, nachdem ihm die Bande der Staubsinne abgenommen? Sah er den Leib denn aufhören? Nur wechseln sah er ihn, in neuen Staubgebilden Leben gewinnen, und niederes Leben, weil vom Menschengeist nicht gehoben — und der Geist sollte ihm aufhören, sollte nicht nur in neuem Zustand neues Leben gewinnen, und höheres Leben, weil von der Erdenhülle nicht mehr gesenkt? Ferner sah ja der Jude, der Jude des Alten Testaments, selbst auf Erden schon, in diesem Kreis der Sinnlichkeit, Männer mit sterblichem Leib unsterbliche Stufen erringen, und das Reich des Himmels einkehren in irdische Hütten, (Henoch und Elias, Moses und die Propheten, Gottes Engel im Kreise der Sterblichen, und Gottes Offenbarungen und Herrlichkeit diesseits) und es hätte ihn noch erst gelehrt zu werden brauchen, was er mit den irdischen Fesseln errungen werden sah, dürfe er mit gelösten Fesseln mit Zuversicht erhoffen? Er hätte gelächelt ob der überflüssigen Lehre. (Kofri 1 B????) Er glaubte nicht die Unsterblichkeit, er sah und wusste sie. Nur erst als eine frivole Doktrin sie zu leugnen begann, war die Notwendigkeit da sie zu lehren.

Warum benutzt aber die jüdische Lehre des Alten Testaments dies vorhandene Bewusstsein so wenig, auf ihm das Gebäude ihrer Belehrungen und Forderungen aufzuführen? Weil sie Höheres zu tun hatte, und Höheres tut.

Nicht über Gräbern sollte sich das Lebensheiligtum des Juden erheben, (3. Buch Moses) nicht erst an dem Gedanken der Auflösung des irdischen Bandes sich sein geistiger Lebensfunke entzünden; frisch ins helle lichte Leben ward es gebaut, und der frische, helle, lichte Lebensgedanke sollte im Juden pulsieren. Denn die Aufgabe des Judentumes ist Heiligung, Weihe, Erhebung, Vergöttlichung des irdischen Lebens, es ist Offenbarung des göttlichen Willens an den in den Erdenleib gehauchten Gottes-odem für sein Walten in dieser Hülle und mit dieser Hülle, das aus dem Staub gesprungene Leben zu sich zu erheben, und mit sich zu Gott. Was sollte da das Grab und die Leiche! Grab und Leiche zeigen den Körper als Spielball der Elemente, dem Zwang der umgebenden Kraftwelt erliegen — denn es fehlt der freie zu seiner Beherrschung gesandt gewesene göttliche Geist. Das Judentum erbaut sich aber nur auf dem Bewusstsein, dass, so lange dieser göttliche Geist im Menschen weile, so lange der Leib nicht tot ist, auch sein Leib und alle Triebe des Leibes keinem andern Zwange zu gehorchen haben als nur ihm, diesem Göttlichen Geist; das Judentum ist auf die freie lebendige Beherrschung des Leibes durch den Geist gebaut; Freiheit ist seine Kraft und Heiligung seine Aufgabe. Es muss darum in seinen Bekennern den Gedanken kräftig und ungetrübt erhalten, dass der Tod — erst mit dem Tod beginne, dann sinke der Leib, weil der Geist dann steigt; aber so lange das Band des Geistes und Leibes geknüpft sei, sei der Leib vom Geist zu tragen und Heiligung des Geistes und Leibes, der ganze Wandel vor Gott, wie es bei der Bundessiegelung des Leibes heißt (1.Mos 17:1), sei das zu erstrebende Ziel. Das Judentum sucht darum die Todesgedanken nicht auf, sondern sucht sie aus dem Gedankenkreise des Lebendigen zu bannen.

Ferner: Nicht an irgend einen erst zu erwartenden, zu erhoffenden Zustand der Zukunft knüpft die alttestamentliche jüdische Lehre ihren Trost und ihre Verpflichtungen, wie überhaupt an keinen besonderen Zustand des menschlichen Seins. In jedem gegenwärtigen Augenblick des Seins tritt sie zu dem von der gottvollen Vergangenheit erfüllten Menschenwesen hinan und spricht: siehst du nicht Gott um dich? fühlst du nicht Gott in dir? siehe und fühle und lebe. Der Jude weiht sich freudig seinem Gott nicht weil er sein wird, sondern weil er ist. Und die Quelle seines Trostes und seiner Belehrung ist nicht eine zu erhoffende Zukunft, sondern eine erlebte Vergangenheit. Wo also überall die Gegenwart mit Gott verknüpft, was bedarfs da des Gedankens der Zukunft!

Endlich das Judentum in seinem Ideal lehrt ja nicht die Vernichtung der Erde um den Himmel zu gewinnen, sondern gerade eine Erhebung der Erde zum Himmel, eine Gestaltung aller irdischen Verhältnisse des Menschen zu einem Heiligtum Gottes, dass die ganze Erde sich zu einem Gottesaltar erhebe und Gottes Herrlichkeit auf Erden niedersteige, kein Gegensatz mehr sei zwischen Erde und Himmel, Himmel und Erde sich küsse, und ein jenseitiges Leben schon auf diesseitiger Erde erblühe. Des Judentums Stolz ist nicht den Tod nur zu überwinden, — der ja von selbst den Geist zu den Geistern, el Ammaw[21], ruft, — sondern der noch viel höhere Sieg, das Leben, das irdische Leben zu überwinden, und schon das irdische flüchtige Sein mit himmlischen ewigen Blumen zu schmücken.

Die ältesten Urkunden des Alten Testaments bedurften der Unsterblichkeitslehre nicht, weil sie Höheres zu tun hatten und Höheres taten.

6.

Die Bemerkungen haben den Satz, es bleibe der ewige Stolz, die welthistorische Ehre des jüdischen Volks, Gott als den Einen vorgestellt zu haben. Aber diese Vorstellung sei noch nicht die volle, sei erst der Anfang der Wahrheit. Beziehen wir diesen Satz auf dasjenige, was von dieser jüdischen „Vorstellung“ bereits Gemeingut auch nichtjüdischer Kreise geworden, so ist dieser Satz allerdings richtig. Dasjenige, was von der jüdischen Gotteinheitslehre, vorzüglich durch die heilbringende Vermittlung des Christentums, die Erlösung der Welt vom Polytheismus geworden, ist gleichwohl nur erst ein Splitter, ein Anfang des großen vollen Gotteinheitsgedankens des Judentums. Denn dieser ist nicht nur der Gedanke, die Vorstellung, dass ein und nur ein Gott sei, sondern es ist dieser Gedanke mit der ganzen Fülle seiner Konsequenzen fürs Menschenleben, es ist der Gotteinheitsgedanke als Leistungsprinzip, als Seele eines Menschen- und Volkslebens in allen seinen Beziehungen, es ist die Lehre von einem Menschenleben, das diesen großen Gottesgedanken in jede Fuge seines Wesens aufgenommen, und von ihm, von diesem großen Gottesgedanken alle Seiten seiner Entfaltungen, sein ganzes Denk-, Genuss-, Wort- und Tatenleben sich gestalten lässt. Die Lehre von einem gottheiligen Mensch- und Volksleben. Der Gotteinheit gegenüber die Lebenseinheit, die Gestaltung und Weihe des ganzen Lebens durch ein Prinzip, durch das Prinzip der Einheit Gottes. Diese Seite des Judentums, gerade die Fülle desselben, ist es, die noch am wenigsten im nichtjüdischen Kreis gekannt und am meisten verkannt wird. Der bis jetzt ins Völkerleben eingegangene Gotteinheitsgedanke ist nur erst noch ein schöner Anfang, und die vollkräftige Anwendung dieses Gedankens im sozialen Leben hat noch kaum begonnen. Denn so lange zum Beispiel noch immer aus dem Land der Freiheit und Gleichheit weiße Europäer ausgehen, schwarze Negermenschen zu jagen, so lange in dem so stolz seiner Freiheit sich rühmenden Staatenverein auch schon die leiseste, herausgewittertste Hautschattierung Menschenadel und Menschenachtung raubt, so lange in dem freiheitsstolzen Staate Lynchgesetze möglich sind, so lange freie Städte ihre Mauern, Zünfte ihre Rechte, Gesellschaften ihre Zirkel, Menschen ihre Rechtsachtung noch einem — Juden versagen, und was jedem Wurm gestattet ist, sich nähren und sein häusliches Nest bauen, dem Juden noch meistens verkümmert ist, so lange noch Menschen über Menschen seufzen, dass man ihnen versage, was man sich erlaubt, so lange mache man noch nicht viel Rühmens von „unserer Zeit“ und „unserm Bewusstsein“, so lange hat unsere Zeit noch nicht die ersten Elemente jenes Gotteinheitsgedankens ganz betätigen gelernt.

Doch es ist Zeit diese flüchtigen Anmerkungen zu schließen, sollen sie anders ihren vorangegangenen Flugbemerkungen leichtgeschürzt nachfliegen können. Sie haben sich begnügt, von den in den Bemerkungen aufgestellten Gegensätzen nur die das A. T. und Judentum verurteilenden Glieder zu prüfen, und die entgegengesetzte Erhebung des Neuen gerne auf sich beruhen zu lassen. Denn auch nicht den Schein möchten sie haben, als wollten sie einem Heiligtum zu nahe treten, das so vielen Menschengemütern Trost und Beseligung gewährt. Aber sie würden sich innig freuen und hätten vollständig ihren Zweck erreicht, wenn sie auch nur hie und da eine gerechtere Würdigung des Judentums vermittelten, nur hier und da die Möglichkeit eines Zweifels an den gang und gäbe gewordenen Urteilen über Judentum brächten, nur hier und da die Ahnung vorbereiteten, dass eine Lehre, die nun Jahrtausende herab ihre Bekenner unter den härtesten Prüfungen mit immer frischem Lebensmut zu immer frischerer Lebensweihe aufrecht gehalten, doch ein viel zu tiefer Lebensborn sein müsse, als dass man sie nur so mit einem Paar Fingerspitzendistinktionen erschöpfen, beurteilen und verurteilen könne.

Am 1. Chanuckahtage 5601. (20.12.1840)


[1] des Protestanten

[2] Wikipedia: Heiliges Römisches Reich, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, war vom Spätmittelalter bis 1806 die offizielle Bezeichnung für das seit dem 10. Jahrhundert bestehende Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser.

[3] Wikipedia:  Der Judeneid war ein Eid, den Juden in Rechtsstreitigkeiten mit Nichtjuden in einer von christlicher Seite vorgeschriebenen, häufig diskriminierenden Form zu leisten hatten. Er war in Teilen Europas vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet. In Frankreich und Österreich wurde der Judeneid 1846, in Preußen am 15. März 1869 abgeschafft.

[4] Rabbiner Julius Hirsch s”l übersetzt hier: Gewölk

[5] עבד

[6] עבד ה‘

[7] Wikipedia: Der Donatismus (benannt nach Donatus von Karthago, 315 bis 355 Primas der Donatisten) war eine nordafrikanische Abspaltung von der westlichen christlichen Kirche im 4. und 5. Jahrhundert, … Sie blieb beschränkt auf das nordwestliche Afrika.

[8] Wikipedia: Der Arianismus war eine theologische Position innerhalb des Frühchristentums, die unmittelbar von ihrem namensgebenden Theologen Arius (circa 260–327 n. Chr.) und dessen Anhängern vertreten wurde.

[9] Wikipedia: Die Waldenser sind eine protestantische Kirche, die gegenwärtig noch in Italien und einigen Ländern Südamerikas verbreitet ist. Ursprünglich als Gemeinschaft religiöser Laien Ende des 12. Jahrhunderts durch den Lyoner Kaufmann Petrus Valdes in Südfrankreich gegründet, wurden die apostolische Armut predigenden Waldenser, genannt auch Arme von Lyon, während des Mittelalters von der katholischen Kirche ausgeschlossen und als Häretiker durch die Inquisition verfolgt. Trotz der Zwangsmaßnahmen breiteten sich ihre Glaubensvorstellungen rasch in Europa aus und beeinflussten später auch die evangelischen Kirchen der Reformationszeit. Die Waldenser verstehen sich als Teil und wichtiger Vorläufer des reformierten Protestantismus, die Kirchen sind sehr schlicht und haben weder Altar noch Kreuz.

[10] Wikipedia: Tomás de Torquemada, O.P. (lateinisch Thomas a Turrecremata[1]; * 1420 in Valladolid oder Torquemada (Palencia)[2]; † 16. September 1498 in Ávila) war ein kastilischer Dominikaner. Er war Generalinquisitor in den Reichen der Krone von Kastilien und den Reichen der Krone von Aragonien. Als Vorsitzender des Consejo de la Suprema y General Inquisición organisierte er diese neu entstandene staatliche Behörde. Durch die von ihm verfassten Richtlinien (Instrucciones) prägte er das Wirken der Spanischen Inquisition.

[11] Wikipedia: 1661 begannen starke Verfolgungen, die unter Ludwig XIV. durch das Edikt von Fontainebleau ab 1685 einen Höhepunkt erreichten und eine Fluchtwelle von etwa einer Viertelmillion Hugenotten in die protestantischen Gebiete Europas und Übersee auslösten. Daraufhin wurde fast das ganze Königreich Frankreich von den Hugenotten geräumt.

[12] Wikipedia: Die Bartholomäusnacht (auch Pariser Bluthochzeit genannt, französisch Massacre de la Saint-Barthélemy) war ein Massenmord an französischen Protestanten, den Hugenotten, in der Nacht vom 23. zum 24. August 1572,

[13] Wikipedia: Als Dragonaden (frz. Pl. dragonnades) bezeichnet man die Strafmaßnahmen des Königs Ludwig XIV. von Frankreich gegen die protestantischen Kamisarden in den Cevennen und andere Hugenotten in Südwest- und Südfrankreich. Das Ziel war, ihre Konversion zum katholischen Glauben zu erzwingen.

[14] Wikipedia: Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 war ein Konflikt um die Hegemonie im Heiligen Römischen Reich und in Europa, der als Religionskrieg begann und als Territorialkrieg endete.

[15] Ehe denn finster wird die Sonne und das Licht und der Mond und die Sterne, und die Wolken wiederkommen nach dem Regen. [Ehe sich dein Gemüt verdüstert und das Augenlicht abnimmt.] (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[16] עולם הבא zukünftige Welt

[17] תחיית המתים Auferstehung

[18] Wikipedia: Die Sadduzäer (hebr. צְדוֹקִים Ṣəḏōqīm, gr. Σαδδουκαῖοι Saddoukaîoi) waren eine Gruppe des Judentums in Israel zur Zeit des Zweiten Tempels.

[19] יאסף אל עמיו

[20] תיכרת הנפש מעמיה

[21] אל עמיו zu seinem Volk

  • Beitrags-Kategorie:Artikel