2. Der Diebstahl und die Völkervertilgung.
Hier folgt nun die Fortsetzung der gegen das Judentum erhobenen Vorwürfe des Protestanten. Im ersten Teil ging es um die Behauptung, der jüdische Gott wäre nicht der Gott der Menschheit, sondern nur der Gott der Stämme, aus denen das Judentum hervorgegangen ist. Hier jetzt die Entgegnung von Rabbiner Hirsch s“l gegen die Behauptung, die Juden wären Räuber und auch Landräuber.
Der Diebstahl 2 M. 3:21.?[1] Ich bitte jeden des Hebräischen Kundigen die Stelle Richter 8:24[2] zu vergleichen, wo in ganz gleichem Zusammenhang, Schaal[3], wie in so vielen andern Stellen, nicht borgen, sondern fordern, erbitten bedeutet, und das ist’s auch hier. Sich erbitten sollten sie Geräte und Gewänder, und das war wahrlich eine geringe Vergütung der langjährigen Sklavenarbeit, und ein unentbehrliches Rüsten auf den langen Zug durch Wüsteneien.
Die Völkervertilgung? Wir haben schon oben die gesetzlichen Beziehungen des jüdischen Volkes zu den Fremden kennen gelernt, die alle den Geist der Milde und der Liebe, des Rechts und des Friedens atmen. Und auch für den Fall des Krieges sehen wir (5. M. 20:10)[4] die Pflicht auferlegt, überall erst den bedingten Frieden anzubieten, und nur dann feindlich zu verfahren, wenn der Friede verworfen und auf den Krieg bestanden worden, und bei Eroberungen wohl die wehrbare Mannschaft mit des Schwertes Schärfe zu erschlagen, doch die wehrlosen Frauen und Kinder zu schonen. Nur einen Völkerstamm sehen wir ausgenommen, den Kanaanitischen, den früheren Bewohner des jüdischen Landes; von ihm soll kein Individuum geschont werden. Nehmen wir dieses einmal in der rigorosesten Auffassung, es sei hier wirklich die unbedingte Vertilgung dieses ganzen Völkerstammes geboten. Auch dafür bliebe uns die Heilige Schrift die Motive nicht schuldig, durch welche aber zugleich jede weitere Übertragung dieser Verfahrungsweise auf irgendeinen andern Volksstamm aufs schärfste abgeschnitten wird. Sollte die zur Volkszahl herangewachsene Abrahams-Familie ein Volk werden, und mitten im Kreise der Völker ein, nur von dem Gedanken des einzigen Gottes getragenes und durchdrungenes Volksleben entfalten, so musste ihr ein diesem entsprechender Boden werden, der, nach der ganzen damaligen Weltlage, nur erobert werden konnte. Aber kein eroberndes Kriegervolk soll das Gottesvolk werden. Ihm wird ein Boden zugesagt, dessen Bewohner durch ihre gänzliche Entartung bereits nach göttlichem Ausspruch dem Untergang verfallen waren, die also nicht dem jüdischen Eroberungsschwert, auch nicht etwa der jüdischen Vortrefflichkeit, sondern nur der eigenen Schlechtigkeit erliegen. Gleich (1 Mos. 13.) die erste Verkündigung des einstigen Besitzes ist mit einer Hinweisung auf die Entartung der den üppigsten Teil des Landes bewohnenden Sodomiten zusammengestellt, die, bereits reif der vernichtenden Strafgerechtigkeit des Weltrichters, später wirklich vor den Augen des jüdischen Stammvaters untergehen. „Noch aber ist nicht voll die Sünde des Emoriters bis jetzt (1 Mos. 15:16.).“ Bis dahin kann das Land noch von keinem anderen in Besitz genommen werden. Bis dahin muss der Stamm der Abrahamiden in die Prüfungsschule der Leiden. „Nur wegen der Verderbtheit dieser Völker vertrieb sie Gott vor Israel (5 Mos. 9:4.).“ Der Boden selbst trug die entarteten Bewohner nicht länger, und wird auf gleiche Weise Israel wieder ausspeien, wenn sie in gleiche Entartung versinken. (3 Mos. 18: 25 u. 28.)[5]“ Es ist nur die Gottesgerechtigkeit, die wir da walten sehen. Welcher Art diese Verderbtheit gewesen, lernen wir an der zuletzt zitierten Stelle, und wer kennt nicht die Abscheulichkeiten des vorderasiatischen Götzentums, wenn er in seinen kulminiertesten Stadien, das in Sinnlichkeit schwelgende Tier im Menschen entfesselt, heiligt, vergöttert, und den Menschen in seiner höchsten Entartung als Ziel der Weihe aufstellt! Wie früh schon, zu Abrahams Zeit, gerade Kanaans Völker den Weg dieser Entartung betreten, sehen wir an Sodom und darum wohl meidet Abraham jede Verschwägerung mit ihnen für seinen Stamm und sucht sich lieber die Gattin seines Sohnes aus den ja ebenfalls polytheistischen Familien Arameas. Und solche Völker, mit so verführerischem, entsittlichendem Kultus, hätten ruhig zu nachbarlicher Geselligkeit im Lande Israels geduldet werden dürfen, Israels, das, in der Mitte ägyptischer und vorderasiatischer Entartung, (3 Mos. 18) sittlich rein und heilig emporblühen sollte als das heilig reine Priestervolk des Allheiligen, ohne Gefährdung dieses ganzen Zieles der Israels-erwählung? „Keine Seele von ihnen dürft ihr bei euch leben lassen, damit sie euch nicht nach allen ihren Abscheulichkeiten zu handeln lehren, die sie ihren Göttern geübt, und ihr dem Ewigen, eurem Gotte sündigt!“ (5 Mos. 20:18.) Und wie hat sich die Vernachlässigung dieser Warnung gerächt! Wie ward nicht Israel durch die Kanaaniter, die es in seinem Land gegen den Willen seines Gottes geduldet, zu dem ganzen Wust kanaanitischen Götzenwesens hingerissen, und wie wird nicht in den Büchern seiner Geschichte wiederholt es beklagt, dass diese zur Pflicht gemachte notwendige Strenge nicht in ihrer ganzen Schärfe ausgeführt worden.
Hören wir jedoch was glaubwürdige jüdische Tradition berichtet, so war auch die Vertilgung der kanaanitischen Stämme keineswegs unbedingt geboten. Vielmehr wäre es auch ihnen zuvor freizustellen gewesen, freiwillig das Land zu verlassen, oder auch als Untertanen im Lande zu bleiben. Letzteres aber nur wenn sie nur — ohne darum Juden zu werden — ihrem Götzenkultus entsagen und sich nur noch zu den 6 übrigen allgemeinmenschlichen Pflichten (den sogenannten Noachidischen[6]) verstehen wollten, die Keuschheit und Gerechtigkeit usw. von jedem Menschen fordern. Eine Bedingung, die überhaupt auch jedem andern nichtjüdischen Fremdling, zu stellen gewesen wäre, der Einwohner des jüdischen Landes hätte werden wollen. Nur erst wenn diese beiden Anerbietungen verworfen worden, und sie bei ihrem Götzenkultus im Lande verharren wollten, nur dann erst wäre der Kampf bis zur Vernichtung geboten gewesen. Der Kürze halber verweise ich auf Nachmanides zur Stelle 5 Mos. 20:10.[7]
3. Die Flüche.
Fortsetzung folgt
[1] „Und ich werde diesem Volke Gunst geben in den Augen der Ägypter, dass, wenn ihr ziehet, ihr nicht leer ziehet.“ Vers 22: „Jegliches Weib wird fordern von ihrer Nachbarin oder ihrer Hausgenossin silberne und goldene Geräte und Kleider, die leget euren Söhnen und Töchtern an; so werdet ihr Ägypten ausräumen.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[2] Gideon sprach weiter zu ihnen: Ich will von euch etwas erbitten, gebet mir jeglicher einen Ring von seiner Beute; denn [die Erschlagenen] hatten goldene Ringe, da sie Ismaeliten waren. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[3] hier wird auf das Verb שאל bezuggenommen
[4] „Wenn du dich einer Stadt näherst, sie zu bekriegen, so fordere sie zum Frieden auf.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[5] 25: „Wodurch das Land unrein wurde und ich heimsuchte die Schuld an ihm, das Land spie seine Bewohner deshalb aus.“ 28: „Auf dass das Land nicht auch euch ausspeie, wenn ihr es verunreinigt, so wie es ausgespieen hat das Volk, das vor euch war.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[6] Wikipedia: Als Noachidische Gebote werden im Judentum sieben Gebote bezeichnet, die für alle Menschen Geltung haben sollen. Nichtjuden, die diese einhalten, können als Zaddik („Gerechte“) „Anteil an der kommenden Welt“ erhalten, weswegen das Judentum keine Notwendigkeit der Mission Andersglaubender lehrt. Im Talmudtraktat Sanhedrin 56a/b werden die folgenden sieben noachidischen Gebote definiert: Verbot von Mord, Verbot von Diebstahl, Verbot von Götzenanbetung, Verbot von Unzucht, Verbot, das Fleisch eines lebenden Tieres zu essen, Verbot der Gotteslästerung, Einführung von Gerichten als Ausdruck der Wahrung des Rechtsprinzips.
[7] Ramban: WENN DU DICH EINER STADT NÄHERST, UM GEGEN SIE ZU KÄMPFEN, DANN VERKÜNDE IHR FRIEDEN. „Die Schrift spricht von einem erlaubten Krieg [und nicht von einem von der Thora geforderten Krieg wie etwa der Invasion der sieben Nationen Kanaans], wie in diesem Abschnitt ausdrücklich erklärt wird: So sollst du mit allen Städten tun, die sehr weit von dir entfernt sind.“ Dies ist die Sprache von Raschi. Der Rabbi [Raschi] schrieb dies auf Grundlage des Sifre, wo ein ähnlicher Text gelehrt wird: „Die Schrift spricht von einem Kampf, der aus freier Wahl geführt wird.“ Doch die Absicht unserer Rabbis in Bezug auf diesen Vers [vor uns] war nicht zu sagen, dass die Forderung, Frieden zu verkünden, ausschließlich für erlaubte, aber nicht für obligatorische Kriege gilt; vielmehr bezieht sich ihre Lehre im Sifre] nur auf den späteren Abschnitt, in dem zwischen den beiden Arten von Kriegen unterschieden wird [d. h. in den Versen 13-14, in denen erklärt wird, dass, wenn der Feind auf Krieg besteht, nur die Männer getötet, aber die Frauen und Kinder verschont werden sollen – dieses Gesetz gilt nur für einen zulässigen, nicht aber für einen obligatorischen Krieg]. Aber der Ruf nach Frieden gilt sogar für einen obligatorischen Krieg. Er verlangt von uns, sogar den sieben Nationen [Kanaans] Friedensbedingungen anzubieten, denn Moses verkündete Sihon, dem König der Amoriter, Frieden, und er hätte weder die positiven noch die negativen Gebote in diesem Abschnitt übertreten: Aber du sollst sie völlig vernichten, und du sollst nichts am Leben lassen, was atmet! Der Unterschied zwischen ihnen [d. h. obligatorischen und zulässigen Kriegen] besteht vielmehr darin, dass der Feind keinen Frieden schließt und weiterhin Krieg führt. Dann, im Fall der sehr weit entfernten Städte, befahl uns die Schrift, alle Männer dort zu schlagen und die Frauen und Söhne am Leben zu lassen, aber in den Städten dieser Völker [d. h. der sieben Nationen Kanaans für den Fall, dass sie den Ruf zum Frieden ablehnen] befahl sie uns, sogar die Frauen und Kinder zu vernichten. Und so sagten unsere Rabbiner im Midrasch von Eileh Hadevarim Rabbah, und es findet sich auch in Tanchuma und in der Gemara Yerushalmi: „Rabbi Shmuel, der Sohn von Rabbi Nachmani, sagte: Josua, der Sohn Nuns, erfüllte die Gesetze dieses Abschnitts. Was tat Josua? Wohin er auch ging, um zu erobern, sandte er eine Proklamation, in der er schrieb: ‚Wer Frieden schließen will, der soll kommen und Frieden schließen; wer gehen will, der soll gehen, und wer Krieg führen will, der soll Krieg führen.‘ Die Girgaschiter gingen. Mit den Gibeonitern, die Frieden schlossen, schloss Josua Frieden. Die einunddreißig Könige, die kamen, um Krieg zu führen – der Heilige, gesegnet sei Er, warf sie nieder usw.“ Und so heißt es in der Tat in der Schrift in Bezug auf alle Städte [einschließlich derer der sieben Nationen]: Es gab keine Stadt, die mit den Kindern Israels Frieden schloss, außer den Hewitern, den Einwohnern von Gibeon; sie nahmen alle im Kampf ein. Denn es war vom Ewigen, ihre Herzen zu verhärten, im Kampf gegen Israel anzutreten, damit sie völlig vernichtet würden. Wenn sie Frieden hätten schließen wollen, hätten die Israeliten offensichtlich Frieden mit ihnen geschlossen.
Es scheint, dass es hinsichtlich der Friedensbedingungen Meinungsverschiedenheiten gab [zwischen dem, was den sehr weit entfernten Städten angeboten wurde, und dem, was den sieben Nationen angeboten wurde], denn in Bezug auf die weit entfernten Städte bitten wir sie, Frieden zu schließen und uns tributpflichtig zu werden und zu dienen, aber hinsichtlich der Städte dieser Völker [der sieben Nationen] bitten wir von ihnen um Frieden, Tribut und Dienst, unter der Bedingung, dass sie sich bereit erklären, keine Götzen anzubeten. Die Schrift erwähnt es in diesem Abschnitt nicht, weil sie in Bezug auf Götzendiener bereits das Verbot ausgesprochen hat: „Sie sollen nicht in deinem Land wohnen, damit sie dich nicht gegen mich sündigen lassen, denn du wirst ihren Göttern dienen.“ Es ist möglich, dass wir sie nur über das Friedensangebot, den Tribut und den Dienst informieren müssen; nachdem sie uns unterworfen sind, sagen wir ihnen, dass wir über Götzen und ihre Anbeter, ob Einzelpersonen oder die Gemeinschaft, richten. Ähnlich verhält es sich mit dem, was hier gesagt wird: „Dass sie euch lehren, nicht nach all ihren Abscheulichkeiten zu tun“, und in Bezug darauf sagten die Rabbiner im Sifre: „Aber wenn sie [ihre Götzenanbetung] bereuen, sollen sie nicht getötet werden“ – dies bezieht sich auf die sieben Nationen. Die „Reue“ besteht darin, dass sie die sieben Gebote auf sich nehmen, die „den Söhnen Noahs“ geboten wurden, aber nicht, dass sie konvertieren müssen, um rechtschaffene Proselyten zu werden. Nun haben die Rabbiner im Traktat Sotah gesagt, dass „sie [d. h. die Israeliten, als sie in das Land kamen] die Tora in siebzig Sprachen auf Steine schrieben und darunter schrieben: Das lehren sie euch, es nicht zu tun. Doch [daraus schließen wir], wenn die Völker Buße tun würden, würden die Israeliten sie annehmen.“ Raschi erklärte diesen Text wie folgt: „[Dieser Vers wurde auf die Steine unten geschrieben], um die Völker, die außerhalb der Grenzen des Landes Israel lebten, darüber zu informieren, dass ihnen [d. h. den Israeliten] nicht befohlen wurde, [Bevölkerungen] zu vernichten, außer denen [den sieben Völkern], die innerhalb der Grenzen lebten, damit sie [die Kanaaniter] ihnen nicht ihre perverse Lehre lehren sollten.