Diesen Artikel in Form einer Glosse habe ich in der Zeitschrift Jeschurun, 3. Jahrgang, Heft 4 vom Januar 1857 gefunden. Der Autor versteckt sich hinter dem Synonym R-. L-. Die elektrisierende (anziehende) Wirkung, die das Reformjudentum bis heute ausübt, vergleicht er mit elek-trophysikalischen Phänomenen.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2940672?query=Elektrizit%C3%A4t
Ein physikalischer Versuch
von
R—. L—.
Des Jeschuruns Devise: [1] קוּשְׁטָא קַאי, שִׁקְרָא לֹא קַאי bewährt sich von Neuem durch das Bekenntnis eines Veteranen unsrer religiösen Antipoden. Liest man die Blätter, die sich historisch-jüdische nennen, so findet man, daß mehrere derjenigen Kultusreformen, deren künstlich erzeugter elektrischer Funke vorgeblich die erschlafften Gemüter zu neuem Leben rufen und die ganze Kette der Judenheit durchdringen sollte, schon jetzt nach kurzer Zeit seines Bestehens seine Abstoßung, seine Negation, seinen Isolator gefunden hat. So überraschend, so neu uns auch dieses Geständnis erschien, so natürlich, so alt ist das Faktum.
„Jede Sympathie für eine Sache, nicht um der Sache selbst willen, hat ja keinen Bestand.“ Was bildete und bildet die reformistische Elektrizität, oder gar die galvanische Batterie des Umsturzes? In der Regel sind es die Metallplatten, die geprägten nämlich, welche auch die elektro-magnetischen Schwingungen und Schwankungen nach rechts und nach links erzeugen und die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiet der Reform bis in die entlegensten Gemeinden und Gemeindchen leiten. Damit wird nun der Prozess der Reibung verbunden. Man ruft einen Zwiespalt hervor zwischen einträchtigen Gemeindegliedern, trennt Söhne von Vätern, Töchter von Müttern, Brüder von Brüdern etc. und gefällt sich in diesen Reibungen, in diesen Spaltungen. Eigentümlich ist der Geschmack, der empfunden wird, wenn die Zunge mit dem elektrischen Apparat in Berührung kommt, d. h., wenn das Verbindungsmittel zwischen Gehirn und Magen den Weg über die Zunge nimmt. Noch mehr aber tritt die Wirkung der künstlichen Elektrizität hervor in dem chemischen Prozess der Trennung von „Lehre“ und „Leben“ über-haupt, in der Zersetzung des sabbathlichen Werkverbots insbesondere u. m. dgl.
An Geräusch, an Getöse während der Ausströmung der reformistischen Elektrizität fehlt es auch nicht; und was dieses, seiner Flüchtigkeit wegen, nicht zu erzielen vermag, das muss die Fama-Trompete[2] ersetzen. Ist auch diese verklungen, da fängt das Spiel wieder von neuem an; man wiederholt die Ladungen; beredet sich, vom Reize der Neuheit abermals sich affizieren[3] zu lassen; bis endlich auch diese Manipulation ihre Wirkung versagt und eine Natürlichkeit, eine Nüchternheit eintritt, welche die Dinge in der Gestalt erblicken läßt, wie sie in der Wirklichkeit sind. Nun wird man gewahr, daß die knisternden Funken einzelner Reformen weder Licht noch Wärme dauernd verbreiten: man kommt allmählig zu der Einsicht, dass auch das eklatante Gekrache reformierender Versammlungen nur die Folge der Ausströmung selbstsüchtiger Bestrebungen war; daß auch der Blitzstrahl, der gegen den Talmud und gegen alles Altehrwürdige geschleudert wurde, eben nichts anderes war, als die Entladung der verdichteten und angehäuften Sichgeltendmachung. Diese Entladung lockert freilich — nur allzusehr — den Boden der Religiosität; macht ihn aber nicht empfänglich für das Wachstum der Wahrheit, der Thorah. Sie reinigt zwar die Luft, indem denjenigen, welche zwischem positivem und negativem Glauben schweben, dadurch ein Standpunkt angewiesen wird, auf welchen sie sich stellen können; aber welch ein Standpunkt! der des Nivellierens, des Gleichmachens der vom Ewigen ausgegangenen, somit ewig bestehenden Gesetzeslehre, mit dem selbstfabrizierten, somit stets wechselnden Zeitgeist. Das Liebäugeln mit der herrschenden Richtung, das Umarmen der Erscheinungen in fremden Kreisen, erzeugt „ein Geschlecht, das seinen Vater geringschätzt und seine Mutter nicht segnet; das rein sich dünkt, von seinem Unrat aber nicht gewaschen wurde; das stolz um sich blickt und seine Augenlieder hoch erhebt.“ Mit den Aussprüchen einiger erborgten flüchtigen Funken will man Licht verbreiten, Wärme mitteilen, indes eine solche Maschine eben nur Maschine ist, die nur das wiedergeben kann, was in sie hineingelegt wurde. Und selbst wenn die Ladung eine größere ist, so kann die Ausströmung nur zünden, nur verderben, nicht leuchten, nicht erwärmen.
Trotz all dieser traurigen Erscheinungen aber fürchte dich nicht, Jakob![4] verzage nicht, Israel! Es gibt noch eine natürliche elektrische Wirkung, von welcher uns Heil ersprießen kann und wird. Das „Eliasfeuer“[5], die Begeisterung für das Wahre, für das Göttliche — wahrnehmbar an den hohen Ma-sten, an den hervorragenden Geistern der Zeiten, dieses — so hoffen wir, so erwarten wir zuversichtlich, wird wieder in uns wach werden, und — wird dann dem Hüpfen auf zwei Zweigen[6] ein Ende machen und den niedergerissenen Altar Gottes wieder herstellen. Das Eliasfeuer ist zwar klein, fern, selten. Dagegen blendet es auch nicht, zündet auch nicht und zeichnet sich dadurch aus, dass es aus weiter Ferne die Blicke auf sich zieht und in seiner anmutigen Bescheidenheit von seiner Höhe herab, gerade durch seine Seltenheit, wohltätig auf andere wirkt. Ein einziger Funken vom Eliasfeuer verdunkelt Hunderte von Blendsternen; erwärmt mehr Herzen, als aller künstliche Affekt. Wäre auch die Zahl der falschen Propheten noch so groß; mögen sie auch einen für Juden fremdartigen Gottesdienst herbeizaubern; mögen sie auch hierin von einer äußeren Macht begünstigt werden: Das Eliasfeuer wird all diese Äußerlichkeiten beleuchten; erleuchten die nach Wahrheit Suchenden, deren Herzen noch nicht rücklings abgewandt sind, und wird die Wahrheit zum endlichen Siege führen.
[1] Aramäisch: Die Wahrheit steht, die Lüge steht nicht oder zu Deutsch: Lügen haben kurze Beine
[2] Spitzbubenpfeife
[3] reizen; auf jemanden Eindruck machen
[4] Eine Anspielung auf das Lied אָמַר ה‘ לְיַעֲקֹב – אַל תִּירָא עַבְדִּי יַעֲקֹב das man Mozeh Shabbat zu Melavet Ha´Malka singt
[5] Elmsfeuer, Eliasfeuer, relativ häufigste Form einer Spitzenentladung; erfolgt von hochreichenden Spitzen (Blitzfangstäbe, Felsvorsprünge, Aufbauten von Schiffen usw.) aus, meist von elektrischen Leitern. Bei hoher elektrischer Ladung und entsprechend hohem Spannungsgefälle der Luft, besonders während gewittriger Lagen, kommt es bei geringen Krümmungsradien von Spitzen zu sehr hohen Feldstärken. (Siehe https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/elmsfeuer/2004)
[6] Dem reformistischen und dem orthodoxen. Vielleicht auch eine Anspielung auf das Lied „Lied der Vögelein“ von Dichter der deutschen Romantik Ernst Conrad Friedrich Schulze (* 22. März 1789 in Celle; † 29. Juni 1817 ebenda). Es beginnt mit der Zeile: „Von Zweig zu Zweige hüpfen“