Das Bildungsideal S. R. Hirschs [1] זצ״ל.

Von Dr. W. Halberstadt.

Ich habe über den Autor des hier abgedruckten Artikels, Herrn Dr. W. Halberstadt, nicht sehr viel recherchieren können. Nur so viel: 1903 gründete sich der „Bund jüdischer Akademiker“. Wikipedia schreibt dazu: „Der Bund Jüdischer Akademiker bezog keine gesellschaftspolitischen Positionen. Typische Merkmale einer Studentenverbindung hatte er kaum. Er unterschied nicht zwischen Aktiven und Alten Herren und lehnte Mensur, Couleur und Kneipe ab. Ihm ging es um Glauben, Kultur und Wissenschaft.“ Dieser Bund bestand aus orthodoxen jüdischen Studenten und Akademikern, die sich vor allem trafen, um Thora und Talmud zu studieren und zu diskutieren. In diesem Umfeld ist wohl auch der Autor des nachfolgenden Artikels zu suchen. In der Freimann-Sammlung der Universität Frankfurt am Main habe ich eine Veröffentlichung von Dr. Halberstadt gefunden: Aus der Schriftenreihe des Bundes jüdischer Akademiker „Die Arbeitsschule“ (https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/4086856). Aus dem entnehme ich das Dr. Halberstadt Pädagoge gewesen sein muss, denn auch in dem hier abgedruckten Artikel hinterfragt er das Schulsystem von Rabbiner S. R. Hirsch זצ״ל. Er stellt das „naive“ osteuropäische Bildungssystem, das den jungen jüdischen Menschen außer Thora und Talmud nichts weiter an die Hand gibt, dem Bildungssystem Hirschs gegenüber, das die jungen jüdischen Menschen auch in den allgemeinbildenden Fächern gefördert sehen will. Ihm scheint jedoch dabei Talmud und Thora wiederum zu kurz zu kommen. Das hat auch der Nachfolger Rabbiner Hirschs, Rabbiner Salomon Breuer erkannt und zusätzlich zur Realschule Hirschs in Frankfurt am Main eine Jeschiwa gegründet.

Der nachfolgende Artikel entstammt der Zeitschrift Nachalat Zwi, Heft 7, Mai 1931. Sie finden ihn in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2551764

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst von Michael Bleiberg

Mit dem Auftreten Moses Mendelssohns war das alte, von den deutschen Juden seit Jahrhunderten festgehaltene Bildungsideal, das ausschließlich auf die Lehre der תּוֹרָה sich gründete und alle anderen Bildungselemente ausschloss, gestürzt. Er hatte den Juden seiner Zeit gezeigt, dass man an der jüdischen Kultur festhalten könne und auch dazu verpflichtet sei, dass es aber neben ihr andere Kulturgüter gäbe, deren Aneignung auch für die Juden erstrebenswert wäre. Damit hatte er freilich Probleme aufgerollt, über deren Tragweite er sich selbst nicht klar war. Seine Kinder und Schüler, der größte Teil der nachfolgenden Generation, erkannten die Problematik der mendelsohnschen Ideen, und sie scheiterten an ihr. Sie verneinten die Möglichkeit einer Vereinigung von allgemeiner und jüdischer Bildung und warfen deshalb das Judentum über Bord. Die „Reform“ sucht das Problem in der Weise zu lösen, dass sie das Judentum dem „Zeitgeist“ anzugleichen sucht. Sie erkennt nicht, dass diese Lösung des Problems keine ist, weil sie die Grundlagen des Judentums verlässt, aus dem Judentum herausführt. So kristallisiert sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts folgende Situation heraus. Eine Minorität von Altgläubigen, die aufgrund ihrer Erfahrungen jeder nichtjüdischen Bildung feindlich gegenüberstehen, auf der anderen Seite „Reformrabbiner“, die den Standpunkt der „Reform“, der „Weiterentwicklung des Judentums“, der „Trennung von Schale und Kern“ theoretisch begründen und praktisch als Richtschnur hinstellen, dazwischen die hin— und hergerissenen Massen, die zwar noch mehr gefühlsmäßig mit dem Judentum zusammenhängen, sich aber praktisch davon großenteils losgelöst haben. Das ist die Situation, die S. R. Hirsch זצ“ל beim Beginn seines Wirkens vorfindet. Unmöglich, dieser Generation das alte Ghettoideal der jüdischen Bildung aufzurollen. Selbst die größte Beredsamkeit würde an der Aufgabe scheitern, größere Massen zu diesem Ideal zurückzuführen. Alles ist verloren, auch die wenigen, die noch treu geblieben, werden abfallen, wenn man ihnen nicht neue Ideen gibt, an die sie sich klammern können. Ein neues, ein scheinbar neues Ideal muss gefunden und aufgestellt werden, das auf Menschen dieser Zeit wirkt, und das doch durch und durch jüdisch ist. Das ist die Aufgabe, vor die S. R. Hirsch זצ״ל sich gestellt sieht. Er hat sie gelöst, — soweit sie lösbar ist. Gelöst in der Anlehnung an die Großen früherer Zeiten. In seinen „19 Briefen[2]“ hat er das Ideal skizziert, im Chaurew[3] es ausführlich dargestellt. Bewusstes Erkennen des Judentums, seiner Lehre und Ideen, bewusstes Erfassen des Sinnes der [4] מִצְווֹת des in ihnen zum Ausdruck kommenden Gedankeninhalts, — wie es die [5] מִדְרָשִׁים andeuten, der Verfasser des Kusari [6] und der [7] רמב״ן (vgl. „Neunzehn Briefe“, Brief 18; Anm. von Dr. Halberstadt) gelehrt, das ist das neue, für seine Generation neue Bildungsideal, das S. R. Hirsch זצ״ל seiner Zeit und auch unserer gezeigt hat. Der Ausführung dieser Gedanken ist der größte Teil seiner Lebensarbeit gewidmet. Mit der Aufstellung dieses Bildungsideals hat er das Judentum in Deutschland, soweit wie noch möglich, gerettet.

Von diesem Standpunkt aus kann nun Hirsch auch das zentrale Bildungsproblem der Lösung näherbringen, das das [8] גָּלוּת seit der Emanzipation aufgeworfen hat: nämlich das Verhältnis zur Kultur der Umwelt. Dieses Problem ist überall da in seiner Schwere empfunden worden, wo Juden von der Kultur der Umgebung nicht abgeschlossen waren. Hirsch fasst das Problem zuerst im Chaurew in dem Kapitel über „Erziehung“ an. Schon hier — wo es sich doch eigentlich um die Darstellung und Sinnerfassung von Jisroels „Pflichten in der Zerstreuung“[9] handelt, erscheint es als jüdische Pflicht, neben jüdischen Unterrichtsgegenständen Deutsch, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Erdkunde und Geschichte zu behandeln. Das ist charakteristisch. Nicht als Kompromiss, — etwa weil der Staat es verlangt — will er den allgemeinen Unterricht in die jüdische Erziehung eingeführt wissen, sondern weil dieser allgemeine Unterricht ein wesentliches und wichtiges Hilfsmittel zur vertieften Erfassung des Judentums bildet. Er hat auch diese Gedanken später weiter ausgeführt. Aus diesen Gedankengängen heraus hat er in Frankfurt a. M. sein Schulwerk geschaffen, und er hat sie in Artikeln im „Jeschurun“ und in den Aufsätzen, mit denen er die Schulprogramme begleitet, immer wieder in verschiedener Form ausgeführt. Es ist hier nicht der Raum dazu, dies in Einzelheiten auszuführen. Hingewiesen sei nur auf zwei sehr instruktive Programmabhandlungen S. R. Hirschs: „Einige Andeutungen über den hebräischen Unterricht als allgemeines Bildungselement“ und „die Beziehungen der allgemeinen Bildungselemente zur speziell jüdischen Bildung“, in denen die engen Beziehungen zwischen allgemeiner und jüdischer Bildung im Einzelnen ausgeführt werden. Auch das mag noch gesagt werden, dass hier noch viel Arbeit zu leisten ist, dass unsere jüdischen Schulen in Deutschland noch längst nicht diese Beziehungen der allgemeinen zur jüdischen Bildung in genügendem Maß hergestellt haben. Ob freilich S. R. Hirsch זצ״ל selbst mit seinem Schulwerk wirklich das erreicht hat, was ihm im Chaurew vorgeschwebt hat, nämlich eine durchdringende jüdische Bildung, für welche die allgemeine Bildung nur Hilfsmittel ist, das erscheint mir [10] לפענ״ד doch etwas zweifelhaft. Mir scheint doch, dass in dem jüdischen Schulwesen, wie es sich nach dem Vorbild der Frankfurter, von ihm geschaffenen Schule in Deutschland entwickelt hat, die jüdischen Wissenszweige nicht die ihnen gebührende Stellung einnehmen. Letzten Endes ist die höhere Schule, wie sie besteht, doch ein Kompromiss zwischen den Forderungen des Judentums und des Staates[11], und als Kompromiss kann sie nicht dem Ideal der jüdischen Vorbildung entsprechen, wie es S. R. Hirsch זצ״ל vorgeschwebt hat. Nur wenn die Lernzeit auf der jüdischen Schule durch intensives [12] לִמּוּד תּוֹרָה daneben und danach ergänzt wird, kann das Bildungsideal S. R. Hirschs wirklich erreicht werden: nämlich die Heranbildung von bewussten Volljuden, die auf der einen Seite den Geist der תּוֹרָה, den Sinn der göttlichen Gesetze voll erfasst haben, die auf der anderen Seite zwar an der Kultur der Umwelt teilnehmen, die aber auch diese Teilnahme nur zur tieferen Erfassung der göttlichen Lehre führt.        

Man glaubt in neuester Zeit — beeinflusst durch die Berührung mit der ostjüdischen Welt[13] — von dem Bildungsideal Hirschs זצ״ל zu einer naiveren, ursprünglicheren Auffassung des Judentums zurückkehren zu können. Sein Ideal scheint manchem zu sehr „von des Gedankens Blässe angekränkelt“ zu sein. Diese Auffassung ist ebenso wenig richtig und ausführbar, wie es einst Rousseaus[14] Aufforderung zur „Rückkehr zur Natur“ gewesen ist. Wir alle sind viel zu sehr in die Bande der westeuropäischen Kultur verstrickt, als dass eine Rückkehr zu einem naiv erfassten Judentum[15] möglich wäre. Nur die Erfassung und Weiterbildung des Ideals, wie es Hirsch זצ״ל uns gelehrt, ist für uns möglich, und hier scheint mir auch der Weg gewiesen zu sein, der im Osten zu gehen ist, wenn es dort nicht in absehbarer Zeit zu einem ähnlichen Zusammenbruch kommen soll, wie wir ihn in Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts erlebt haben. Nicht Rückkehr zum naiven, gefühlsmäßig erfassten Judentum für den Westen, sondern Entwicklung zum sinn- und verstandesmäßig erfassten Judentum für den Osten, das ist der Weg, der eingeschlagen werden muss, um den Juden die תּוֹרָה zu erhalten. Und das scheint mir Grund genug, um in dieser Zeitschrift die Skizzierung des Bildungsideals S. R. Hirschsזצ״ל  zu rechtfertigen.


[1] זֵכֶר צַדִּיק לִבְרָכָה dem Gerechten sei segenreiches Gedenken

[2] Die „19 Briefe“ ist das Erstlingswerk Rabbiner Hirschs, das er unter dem Synonym Ben Usiel veröffentlichte

[3] Chorew ist das Standartwerk von Rabbiner S.R. Hirsch

[4] der Ge- und Verbote der Thora

[5] Midraschim: Religiöse Schriften die nicht in den Talmud aufgenommen wurden.

[6] Wahrscheinlich Jehuda Halevi (1074-1141)

[7] Wikipedia: Nachmanides (hebräisch מֹשֶׁה בֶּן־נָחְמָן Mōše ben-Nāḥmān, * 1194 in Girona, Grafschaft Barcelona; † 1270 in Akko, Königreich Jerusalem), eigentlich Moses ben Nachman, bekannt auch unter dem Akronym RaMBaN (hebräisch רמב“ן, hergeleitet von Rabbi Mosche ben Nahman), war ein herausragender jüdischer Gelehrter des Mittelalters, Arzt, Philosoph und Dichter aus Katalonien.

[8] jedweder Aufenthaltsort der Juden außerhalb Israels; Land der Zerstreuung

[9] Anspielung auf den Untertitel des Chorew: „Versuche über Jisraels Pflichten in der Zerstreuung“

[10] לְפִי עֲנִיּוּת דַּעְתִּי meiner Meinung nach

[11] Schulpflicht

[12] Thoralernen

[13] Vor den Pogromen nach Deutschland geflüchtete Juden aus Russland nach dem 1. Weltkrieg

[14] Wikipedia: Jean-Jacques Rousseau * 28. Juni 1712 in Genf; † 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris) war ein Genfer SchriftstellerPhilosophPädagogeNaturforscher und Komponist.

[15] Osteuropas

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