Die Texte von Rabbiner Hirsch sind nicht immer leicht zu lesen. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen den Text vorlese. Probieren Sie es einfach aus. (Die Sprach- und Klangqualität ist noch nicht perfekt, ich arbeite daran.)
(Mar)-Cheschwan.
Die Segenssprüche. (Berachoth).
האי מאן דבעי למהוי חסידא לקיים מילי דברכות. (ב’ק ל‘ א.)
(Wer fromm sein will, sollte die Segensprüche beachten)
Dieser Artikel von Rabbiner S.R.Hirsch erschien in der Monats-Zeitschrift Jeschurun im Jahre 1859, Heft 2., später auch in „Gesammelte Schriften“ Bd. VI. Er wurde dem heutigen Sprachgebrauch angepasst, leicht verkürzt und mit erklärenden Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.
Vorab zum besseren Verständnis des Artikels: Das hebräische Wortברוך , mit dem jeder Segenspruch beginnt, bedeutet weder gelobt noch gepriesen, wie es in vielen Übersetzungen heißt, sondern gesegnet!
Jeder Monat unseres Kalenderjahres hat, sei es durch das jüdische Gesetz, sei es durch die jüdische Geschichte, sei es durch beide zusammen irgendeine besondere Eigentümlichkeit erhalten, die er zur erneuten besonderen Einwirkung auf unseren Geist und unser Gemüt mit seinem jedesmaligen Erscheinen uns entgegenbringt. Nur der Marcheschwan ist in dieser Beziehung völlig leer ausgegangen und während sein Vorgänger so tief ergreifende, Ernst und Freude, jüdischen Ernst und jüdische Freude weckende Erinnerungen und noch reichere, unser ganzes Leben mit ihrer Wahrheit begründende Mizwoth zu bringen hatte, tritt der Marcheschwan bei uns ein und hat keine andere Botschaft, als nun, nach einem Monat so reicher Fülle von Erregungen, das jüdische Leben in dem ganzen Charakter seiner Alltäglichkeit auf einem von diesen Erregungen und Anregungen getränkten Boden beginnen zu lassen. Dieses alltägliche Leben, wie sehr ist aber gerade es das wirkliche eigentliche Leben, durch welches alle Festtage, Festwochen und Festmonate ihren Wert und ihre Bedeutung erhalten und in welchem gerade alle die Früchte reifen sollen, zu welchen jene Festzeiten ja nur die Saat streuen und die Keime wecken konnten und wie sehr haben „unsere Weisen“ — und vor allem sei dafür ihr Andenken gesegnet — es verstanden jene Saaten und Keime des Geistes und der Weihe mit hinüber in den Kreis des alltäglichen Lebens zu verpflanzen und dieses alltägliche Leben selbst, mit allem was uns in demselben in näherer oder fernerer Beziehung trifft und berührt, zu einem sich unerschöpflich ergießenden Strom der Weckung und der Weihe, des Geistes und der Kraft zu umwandeln!
Hoch unter allem glänzt hier ihre Institution der Berachoth hervor, mit welchen sie den „Gottesdienst“ aus dem Umkreis der Tempel und der Altäre in den Kreis der Lebenserscheinungen und Erfahrungen, in die Bahn des genießenden und schaffenden Lebens zu versetzen gewusst…. Sie wussten, was sie mit dieser ihrer Institution (der Berachoth) ihrem Volk Unschätzbares geschaffen und sprachen im wohlberechtigten Vollgefühl des ganzen Wertes ihrer Schöpfung: „Wer immer fortschreiten will zu dem hohen Ziel sittlicher Vollendung, der achte auf die Institution der Berachoth — האי מאן דבעי למהוי חסידא לקיים מילי דברכות —“ und wenn etwas den Juden unter Nichtjuden kennzeichnet, so sind es eben diese Berachoth im Munde des Juden.
Dasselbe Leben umrauscht den nichtjüdischen wie den jüdischen Menschen, dieselbe Natur mit ihrem Ernst und ihrer Lieblichkeit, mit ihren Schauern und Wonnen, dasselbe Menschengeschick mit all‘ seinen freudvollen und leidvollen Geschehnissen und Erfahrungen umfängt den Nichtjuden wie den Juden: allein nur der Jude hält beim Donner und der Blüte, bei dem Schmerz und bei der Freude inne, und blickt aus jedem Weh und jeder Wonne, über jede sinnliche Erscheinung und Erfahrung zuerst zu dem Unsichtbaren, Einen empor, als dessen Herolde und Boten jede Erscheinung und jedes Geschehnis an ihn hinan tritt, und gewinnt in diesem Hinaufblick immer aufs Neue das Bewusstsein seiner eigenen Stellung und seiner eigenen Bestimmung in dieser Gotteswelt des Seins und des Werdens.
Freilich sind es nur einfache kurze Sätze, die die Weisen uns in den Mund gelegt; allein diese kurzen Sätze sind einfach wie die Wahrheit und kurz wie der Gedankenblick und die Gefühlsregung, wie die aufatmende Pause in welcher Geist und Gemüt immer aufs Neue den frischen Sinn und die frische Kraft für die rechte Tat und den rechten Genuss aus dem tiefen Born der Seele zu schöpfen weiß. Sie sind einfach und kurz, wie die Erscheinung, wie das Geschehnis, wie die Erfahrung, wie der Entschluss, den sie begleiten und deren Dolmetsch und Herold sie sind.
Wie der Gottessänger קול ד‘ בכח קול ד‘ בהדר, Gottes Stimme in jeder Kraft, Gottes Stimme in jeder Schönheit lauschte, so wird nimmer diese Stimme in den ernsten und entzückenden Erscheinungen der Natur laut, ohne das entsprechende Echo in der jüdischen Brust wach zu rufen.
Wenn im Gewitter die Licht und Leben schaffende und die trägen Massen überwältigende Lebenskraft der Natur, wenn sie im Sturm vernichtend, wenn sie im Erdbeben erschütternd hervortritt, dann erkennt der Jude שכחו וגבורתו מלא עולם (Seine Kraft und Stärke erfüllt die Welt), dass es Seine überwältigende Kraft sei, der die Welt voll ist. Wenn der Blitz wie das erste: „Es werde Licht“, leuchtend durch die Erdräume fährt, wenn Berge, Hügel, Wüsten, Meere, Ströme, — die Schöpfung in ihrer ursprünglichen von Menschenhand unberührten Massenhaftigkeit, — wenn die Lichter des Himmels nach vollendetem Kreislauf wieder am Anfang ihrer vorgemessenen Bahn und in der Frische ihrer ursprünglichen Stellung sich zeigen, sieht das jüdische Auge kein bloßes in tausendstufiger Kausalitäts-Abschwächung auf eine in grauer Urnacht verhüllte, beim Anfang des Werdens … wirksam gewesene Urkraft zurückgeführtes Produkt. — Sondern das Bestehen der Schöpfung ist ihm nur ein fortgesetzter Akt der Schöpfung. עושה מעשה בראשית !„Er wirkt das Werk des Anfangs!“ predigt ihm Blitz und Wüste, Berg und Hügel, Meer und Strom. — שככה לו בעולמו (Wer hat Solches auf der Welt). Erkenne den, der so Herrliches in seiner Welt geschaffen hat, spricht zu ihm jedes, in natürlicher Schönheit leuchtende Geschöpf. Und משנה הבריות, dass der, der so unerschöpflich in Formenmannigfaltigkeit ist, dass jedes Ding mit seiner abweichenden Gestalt, den mit seinen Zwecken von Stoff und Form unabhängigen Schöpfungsmeister offenbart. Und im Menschenkreis, wo irgend in hervorragender Persönlichkeit sich der Menschengeist und die Menschenmacht in ihrer Überlegenheit zeigt, da ist es wiederum der Eine Einzige, der dem Sterblichen diese Gabe des Geistes und der Macht übenden Tatkraft verliehen: שנתן מחכמתו ומכבודו לבשר ודם (der dem Menschen von Seinem Geist und Seiner Herrlichkeit gegeben) ja der, wenn die Sterblichen beides nur in seinem Dienste bewusst voll verwenden, sie eben mit diesem Geist und dieser Kraft zum Anteil an seinem Geist und seiner Herrlichkeit, zum Mitwirken an seiner Erleuchtung und Leitung der Menschen berufen: שחלק מחכמתו ומכבודו ליראיו (Der, die Ihn fürchten Seinen Geist und Seine Herrlichkeit zuteilt).
Denn wenn in der Natur, so vor allem im Kreise des Menschenlebens, der Menschenentwicklung und der Menschengeschichte, Gottes Gegenwart zu erblicken, wird dem Juden das Auge geöffnet. Gott hat nicht nur die Erdenwelt mit allen Bedürfnissen des Menschen fürsorglich ausgestattet und lässt die Blüten des Lenzes zur Freude und zum Genuss der Menschen keimen und reifen שלא חסר בעולמו דבר וברא בו בריות טובות ואילנות טובים להנות בהם בני אדם (damit nichts in seiner Welt fehle, schuf er gute Wesen und gute Bäume, damit der Mensch sich an ihnen erfreue), — er hält darüber hinaus, das mit dem gesamten Menschengeschlecht geschlossene Bündnis aufrecht, das Menschengeschlecht … zu dem einen, reinen lichtigen Ziele der Vollendung milderziehend zu leiten, damit die Gesamtgeschichte aller seitherigen Jahrtausende des Menschengeschlechtes nichts anderes ist, als die Erfüllung und Verwirklichung der der noachidischen Welt gegebenen Verheißung. Als deren Symbol und Denkmal spannt sich der siebenfarbige Lichtbogen in den Wolken, זוכר הברית ונאמן בבריתו וקים במאמרו (Er gedenkt des Bundes, ist treu seinem Bund und steht zu seinem Wort). — Jeder einzelne Mensch ist Gegenstand seiner besonderen leitenden und richtenden, erziehenden und beglückenden Fürsorge. Das Geschick eines jeden einzelnen Menschen ist in der Würdigkeit der gesamten Weltgeschichte gleich. Jeder Moment des vereinzelten Einzellebens ist ein Geschenk der lebendig und aufrecht erhaltenden und zu diesem Momente führenden Gottesmacht und Liebe שהחיינו וקימנו והגיענו לזמן הזה (Der uns Leben und Beistand gegeben und uns diese Zeit hat erreichen lassen). Die leidvollsten und freudvollsten Ereignisse des Einzellebens sind nicht minder von dem Finger des gerechten Richters und des allgütigen Vaters der Menschen gegeben, des דיין האמת, wie des הטוב והמטיב: das tritt dem Juden bei hervorragenden Lebensereignissen ins Bewusstsein. Ihm wird aber gelehrt, dass er nur des Glückes als eines wahrhaft „Guten“ sich zu freuen habe, aus welchem nicht nur ihm allein, in welchem auch anderen mit ihm Heil und Freude erblüht, nur das, was טוב לו ולאחרים, (was gut für ihn und für die anderen) begreift er als die vollendete Güte des Allgütigen. — Aber nicht nur in den hervorragenden Momenten ist ihm diese waltende Liebe gegenwärtig. Jeder Tag und jeder einzelne Moment des sich erneut aufrichtenden und abspinnenden täglichen Lebens, jede Kraft, jede Fähigkeit, jede Lebensstellung und Bestimmung, deren er sich bewusstwird, …. alles ist ihm Werk und unmittelbare Spende der einen Macht und Liebe, die auch für ihn dieses alles entstehen und reifen lässt und deren Gnade ihn zu dem Besitze dieser Kraft, zu dem Innehaben dieser Stellung, zu dem Genuss dieses Genusses geführt, בורא, שהכל, המוציא u. s. w.
Auf all das richtet aber die Institution der Berachoth der Weisen unsern Blick nur, um uns in allem diesem und durch all dieses
מלך העולם
den „König der Welt“ zu zeigen, uns so oft als möglich und so tief als möglich inne werden zu lassen, dass die Welt nicht nur einen Schöpfer habe, durch den alles ward, nicht nur einen Erhalter, durch den alles ist, nicht nur einen Herrn, der über alles gebietet, sondern einen König habe, in dessen Namen alles geschieht was geschieht, dessen Wille durch das Kleinste wie das Größte in Vollzug zu bringen ist. Der jegliches an seinen Posten hingewiesen und dessen Auftrag ein jedes an dem angewiesenen Posten mit den zugewiesenen Mitteln zu vollbringen hat. Einen König hat die Welt, um den sie sich mit ihren ‚צבאו, mit ihren Scharen, mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Stoffe und Kräfte, ihrer Wesen und Gruppen, ihrer Geschlechter und Reiche, wie das Heer um seinen Heermeister schart und bis hinab zu dem letzten Mann auf dem verlorensten Posten nur dem Befehl des Einen Einzigen gehorcht, nur in Erfüllung seines Machtgebotes ausharrt, selig, heiter lebend und sterbend in dem Bewusstsein: eben in diesem Gehorsam, in dieser Erfüllung teil zu haben an dem großen Werk des Einen Einzigen und kein verlorener Posten zu sein in Seinem Reich.
Und darum ist diese Welt als עולם (Ewigkeit) zu begreifen! In der ursprünglichen Sprache unserer Blütezeit war uns diese sichtbare, gegenwärtige Welt „שמים וארץ„, Himmel und Erde, die mit ihrer ganzen Herrlichkeit gleichwohl zu einem חלד (Vergänglichkeit, siehe hierzu Psalm 49, V.2 und dazu Hirschs Kommentar, „Hirsch Psalmen S. 265), zu einem Punkt der Vergänglichkeit gegen den großen Gedanken einer Ewigkeit zusammenschwand,… auf dass uns im Glanz der Gegenwart, diese Gegenwart nicht alles würde, und wir den Gedanken an jene noch lichtere, unvergängliche Zukunft nicht bis auf die letzte Ahnung verlören, die uns in dem Begriff „עולם,, als das verhüllte „Ewige“ erhalten bleiben sollte.
Seitdem aber die sichtbare Gegenwart schon von selbst den Stempel der Vergänglichkeit trägt, seitdem galt es Geist und Gemüt vor dem anderen Irrtum zu bewahren, diese Gegenwart selbst nicht um ihrer Vergänglichkeit willen als „Vergängliches“ zu verachten, seitdem galt es uns schon das gegenwärtig Ewige in der vorüberrauschenden und abblühenden Zeitlichkeit erkennen zu lassen, seitdem nannte der Mund der Weisen diese Zeitlichkeit selbst, alles in dieser Zeitlichkeit Bestehende selbst schon עולם (Welt), und was früher die Ewigkeit bedeutete und unsern Blick aus dem Jetzt in das Jenseits lud, heißt jetzt „Welt“ und lässt uns schon die Gegenwart selbst, die Welt die uns schon jetzt und hienieden umfängt, als einen Teil dieser Ewigkeit begreifen. Und ist sie es denn nicht? Ist denn nicht jeder Meerestropfen selbst ein Teil des in seiner Unendlichkeit dahinströmenden Ozeans und hat somit teil an dieser Unendlichkeit? Ist nicht jeder vorüberrauschendste Moment der Gegenwart doch ein Teil, ein unverlierbarer und unverlorener Teil der Ewigkeit? Und wenn diese Ewigkeit einen König, den Einen Einzigen zum König hat und auch die Gegenwart, die zeitliche Welt mit all ihrem Kummer und Weh, mit all ihrer Verirrung und Schwäche, doch auch unter dem Befehl dieses Königs steht, doch auch nach dem Gebot dieses Königs durchlebt wird, gehört sie dann nicht auch zu dem Reich dieses Einzigen, und birgt und gewährt und sichert dann nicht selbst der verschwindendste, wehevollste Moment, der in dieser Zeitlichkeit unter seiner Herrschaft in seinem Dienste treu verlebt wird, alle die Seligkeiten und alle die Wonne, die nur im Licht seiner Ewigkeit reifen? Haben wir die Ewigkeit erst jenseits zu suchen? Beginnt nicht unsere Ewigkeit schon hier? Sind wir nicht schon hier mitten inne im Reich dieser Ewigkeit unter dem Banner des מלך העולם?
Und dieser מלך העולם ist
! אלדינו
ist unser Gott! Vergebens sind alle Hymnen, die du der Herrlichkeit Gottes in Natur und Geschichte anbetend singst, wenn dir seine Herrlichkeit nicht in deinem eigenen Leben, in deinem Anteil an Natur und Geschichte leuchtet; vergebens alle Gedanken von seiner Allmacht, seiner Größe, seiner Allgegenwart, seiner Weisheit, seiner Gerechtigkeit, seiner Güte, wenn du alles, nur dich nicht getragen von seiner Allmacht, überstrahlt von seiner Größe, umgeben von seiner Gegenwart, geordnet von seiner Weisheit, gerichtet von seiner Gerechtigkeit, gepflegt von seiner Güte fühlst; vergebens, wenn du Gott den Thron im Himmel und auf Erden zurecht stellst, nur dich nicht, nur die Spanne Welt, die dein Herz deckt, seiner Herrschaft nicht hingibst, alles ihm dienen lässt, nur dich nicht als seinen Diener begreifst; vergebens, wenn er dir ein Gott des Himmels und der Erde ist, du ihn aber nicht אלדינו, nicht deinen Gott nennst und ihm nicht als deinem Gott huldigst. Vergebens, wenn du alles auf den von ihm, dem מלך העולם, angewiesenen Posten erblickst, aber gerade deine Stellung, die du in der Welt als Mensch und in der Menschheit als Jude und in der Judenheit als gerade dieser Jude mit diesem Maß von Gütern und Kräften, in diesen Beziehungen und Verhältnissen des Daseins, der Familie und der Gesellschaft inne hast, nicht als den von Gott angewiesenen Posten und mit freudiger Willfährigkeit begreifst, darauf deinerseits nach Seinem Willen deinen Anteil an seinem Reich zu lösen! Vergebens, wenn wir ihn wohl מלך העולם ,מלך, wohl ‚אלדי, aber nicht „אלדינו,, nennen!
Und nun dieser Einzige, den uns jede Erscheinung in der Natur, jedes Geschehnis in der Gesellschaft, jedes Geschöpf, jeder Mensch, jedes Gut, jede Kraft, jeder Genuss, mit welchem wir gerade in Beziehung treten, als אלדינו מלך העולם, „als unseren Gott, König der Welt“ aufs Neue zur Beherzigung bieten, und darum diese Welt als עולם, als Teil der von Gott getragenen Ewigkeit begreifen lehren, dieser Einzige, Er ist uns
‚ד,
er ist nicht nur …. jenes transzendente, über Zeit und Sinnlichkeit hinausragende, von nichts Zeitlichem und Sinnlichem Fassbare, in abgeschlossener, unveränderlicher Unzugänglichkeit hoch über das irdische Getriebe hinaus erhabene Ewige, das allein war und ist und sein wird in alle Ewigkeit, — er ist nicht nur der, durch den alles Gewesene ward, alles Seiende ist, — Er ist, wie dieser Name haucht, Der, durch den noch jetzt alles Werdende wird! Er ist Der, durch den jeder werdende Augenblick bedingt, von dem jedes werdende Wesen sein Werden, jede dauernde Kraft ihre Dauer, jeder eintretende Moment seinen Eintritt erhält, — du stehst vor Ihm nicht nur mit dem, was du geworden und was du bist; mit allem was du werden willst in jedem Augenblick deines fortströmenden Daseins, mit jedem neu zu schöpfenden Atemzug, mit jedem neu zu holenden Pulsschlag bist du Sein, nicht nur mit deiner Vergangenheit und Gegenwart, mit deiner Zukunft, mit deinem vorwärts gewandten Antlitz stehst du in jedem Augenblick vor Ihm, und schöpfst nur aus seinem Gnadenblick die Möglichkeit jeden nächsten Daseins-Augenblick zu sein, und die Kraft jeden nächsten Lebensschritt zu tun.
Denn er ist nicht nur der unsichtbare „הוא,, der sich uns entziehende „Er„, der nur geahnt, nur gedacht, von dem nur gesprochen, zu dem aber keinem Sterblichen die Bahn eröffnet werden kann. Nein! Nein! Wer in der Natur, die Er schafft, in der Geschichte, die Er lenkt, in der Kraft, die Er spendet, in dem Gut, in dem Genuss, den Er gewährt, in dem Daseins-Werden, das Er schenkt, Ihn erblickt, und Ihm sich als seinem Gotte weiht, Ihm dienen will in der Natur, die ihn umgibt, in der Geschichte, die ihn trägt, mit jeder Kraft, jedem Gut, jedem Genuss, jedem sich eröffnenden Augenblick des Daseins, mit welchem er die Spanne seines Lebens erfüllt, dem ist Er gegenwärtig, dem ist er nah, der schaut ihn an, wie er zu Ihm aufschaut, der ist ihm der „gesehen werdende Sehende“ — יראה יראה — der spricht zu ihm
„!אתה“
„Du!“
und tritt mit (dem) einen Worte ( ברוך ) zu Ihm hinan, das die ganze Innigkeit, aber auch zugleich den ganzen Ernst des Verhältnisses enthält, in welcher er zu Ihm, diesem Einzigen steht, das den, in dessen Mund es gelegt ist, hoch heraushebt und scharf und unvermischbar abgrenzt von allem, was sonst überall irgendwo und irgendwie zu irgend einem Göttlichen oder zu irgend einem Gott hinan tritt, — das aber zur Blasphemie würde im Munde eines jeden anderen, als im Munde desjenigen, der Ihn nicht nur in Natur und Geschichte, in jeder Erscheinung, in jedem Geschehnis, in jeder Kraft und jedem Gut, in jedem Pulsschlag und Atemzug anschaut, sondern mit allem was in der Natur und Geschichte in die Erscheinung und Wirklichkeit tritt, mit allem was im eigenen und anderer Leben sich bewegt, mit allen Kräften und Gütern, mit allen Pulsen und Atemzügen bereit ist, Ihm und nur Ihm zu dienen.
Dieses Wort ist
„ברוך“,
(Segen)
(ברוך) ist dasjenige Wort, nach welchem diese ganze „Institution unserer Weisen“ (Berachoth) sich nennt, ist dasjenige Wort, das sie eben mit dieser Institution dem Juden als das ewige Wort seines Daseins und Lebens unverlierbar in den Mund legen wollten; denn es ist dies eben dasjenige Wort, das die ganze Lebensaufgabe des Juden enthält, das ihn, wie nichts anderes sonst, von allem Nichtjüdischen unterscheidet.
Alles was sonst atmet und lebt, tritt zu seinem Gott bittend und betend hinan, und die Bitte und das Gebet heißt: Segne (mich)! Von dem Wilden, der vor seinem Fetisch kniet, bis zu dem Weisen, der die Religion wenigstens „den Gebildeten unter ihren Verächtern“ lehren möchte, ist es „das Gefühl der Abhängigkeit“, das das erzeugt, was die Menschen Religion nennen. Das Abhängigkeitsgefühl, das Gefühl der eigenen Ohnmacht, der Hilfsbedürftigkeit und die Ahnung der Höheren oder des Höheren, von denen oder von dem wir abhängen, der Ohnmacht, die uns unsere Schwäche fühlen lässt, der reichen Allmacht, die uns alle Hilfe gewähren, die uns alle Wünsche erfüllen könnte, dieses Gefühl und diese Ahnung baut der Gottheit im Kreise der Menschen die Altäre und legt dem Wilden wie dem Weisen das Gebet in das Herz, die Bitte auf die Lippe: Segne (mich)!
Nicht also der Jude! Nicht „segne mich!“ heißt das Wort, das ihn zu seinem Gott führt; er weiß sich, er sieht sich ja gesegnet durch alles, was in Natur und Geschichte an Kräften und Gaben, an Genüssen und Lebensmomenten ihm gewährt und versagt wird, mit Freud- und mit Leidvollem gesegnet. Nicht Segen zu empfangen, Segen zu spenden heißt der Hebel seiner Kraft, heißt die Sorge seines Strebens, die ihn weiter führen soll in jedem Moment seines sich fortspinnenden Lebens, nicht ברוך, segne mich, sondern ברוך אתה, „werde gesegnet“ heißt das Wort der Weihe, das jeder Atemzug des Juden seinem Gott entgegentragen soll.
„Werde gesegnet!“ „Dein Wille, (oh Gott), werde durch mich vollbracht!“ „Deine Wünsche, (oh Gott), werden durch mich erfüllt!“ „Dein Reich werde, (oh Gott), durch mich gefördert!“ „Dein Werk, (oh Gott), werde durch mich verwirklicht!“
Du (Gott) hast die Vollbringung deines Willens, die Erfüllung deiner Wünsche, die Förderung deines Reiches, die Verwirklichung deines Werkes in den Schoß der freien Menschentat gelegt. Dazu bin ich (als Mensch) da, dazu hast Du mich Mensch und Jude werden lassen, hast mir als Mensch die Kraft zur freien Tat gegeben und als Jude deinen Willen und die Zwecke offenbart, die Du erfüllt und gefördert wissen willst durch uns auf Erden. Gott, mein Gott! durch alles, was Du mich erleben und erfahren lässt in Natur und Geschichte, durch alles, was Du mir gibst und versagst durch Natur und Geschichte, mahnst Du an diese Aufgabe mich, gibst Du mir immer neue Kraft und neue Anforderung, diese Aufgabe zu erfüllen. Ich will die Aufgabe lösen, mein Gott! Werde gesegnet mein Gott mit allem und durch alles, was du mir gibst und nimmst!
Sollen wir — auszusprechen, wer vermöchte es! —sollen wir anzudeuten versuchen, welche Kraft, welcher Frieden, welche Seligkeit dem Juden mit dem Schatze dieses Wortes vermacht worden?
„Segne mich!“ — bedeutet: einer Welt voller Berge und Klippen, einer Natur voller dämonischer segenstörender Kräfte, einer Gesellschaft voller neidischer, das Glück jedes einzelnen versagender und bekämpfender Mächte musst du die Erfüllung dieses Wunsches abringen.
In der Hoffnung auf טרף (Beute): der Natur abgejagten Raub, und לחם (Brot, Speise): der Gesellschaft abgewonnenen Kampfpreis, nennst du schon das nackteste Stückchen Nahrung und Brot, mit dem du das bloße Dasein fristest, Segen. — Dieser Segen ist dir doch aber noch so weit, so weit ab von dem, was du gerne Segen nennen möchtest — und dieser Wunsch nach Segen auf deinen Lippen sollte dir doch Mut und Kraft verleihen, jene Jagd zu vollbringen, jenen Kampf zu bestehen, Mut und Kraft zur Jagd und zum Kampf um das was dir das Höchste ist; du Ohnmächtiger, Armer, Einzelner gegen eine ganze Welt feindlicher, verneinender Mächte! Warum sollte gerade dir gewährt werden, was allen anderen versagt? Wieso gerade dir das gelingen, woran Tausende scheitern?!
Aber: „Werde Gott gesegnet durch mich!“ — und es ist gar nicht mehr dein Werk, das du treibst, sind gar nicht mehr deine Wünsche, deren Erfüllung du anstrebst, — so klein und gering und von Menschen vielleicht belächelt dein Beginnen sein mag, an der Stelle, wo du stehst mit dem kleinen Maß von Kräften, das dir verliehen, in dem umschränkten Umkreis deines Wirkens ist es doch der Wille und das Werk des allmächtigen Gottes des Himmels und der Erde, des Königs der Welt, deines Gottes, der dich dahin gestellt hat, und dessen Hauch dich belebt, an deiner Stelle, auf deinem Ihm nicht verlorenen Posten Sein Werk zu vollbringen, und somit ist Er dir zur Seite, kämpft für dich den Kampf mit der Natur, ringt für dich den Kampf der Gesellschaft, ist dein Schirm und dein Schild, dein Sieg und deine Macht; vor Ihm, nicht vor dir weicht die zu überwindende Welt zurück; du bist sein Arbeiter, „hast seinen Willen zu dem deinigen gemacht, darum macht Er deinen Willen zu dem seinigen, hast deinen Willen aufgegeben vor dem seinigen, darum weist Er den Willen anderer ohnmächtig vor dem deinigen zurück! — ברוך אתה ד‘, dein Werk will ich vollbringen!“ Das ist der jüdische Schlachtenruf des ununterbrochen kämpfenden und ringenden Lebens.
„Segne mich!“ Wann wirst du diesen Wunsch für erfüllt achten, wann sagen: Du hast mich genug gesegnet? Sprosst nicht aus jedem erfüllten Wunsch ein neuer, wächst nicht aus jedem errungenen Segen die Sorge um die Bewahrung und Erhaltung des Segens? Wo ist die Sättigung des nach Segen dürstenden Herzens, wo ist die Befriedigung, die Zufriedenheit der um Segen bittenden Seele?
Aber: „Werde Gott gesegnet durch mich!“ — und du stehst in jedem Augenblick an dem Ziel deiner Wünsche, hast in jedem Augenblick die Höhe deines Strebens erreicht. Ob dir viel oder wenig vergönnt, das macht’s nicht aus, nicht einmal das Gelingen macht’s; denn auch das Gelingen ist deines Gottes, ist nicht dir. Wenn du nur in jedem zur Vollbringung Seines Willens gegebenen Augenblick das Deinige getan, wenn du dir nur sagen kannst, du hast den Augenblick mit dem vollen Ausmaß verliehener Macht, mit der vollen Hingebung dir zustehender Willenskraft ausgefüllt nach dem Willen deines Meisters, hast Ihm geleistet, was du vermochtest, darüber hinaus kennst du keinen Wunsch, darüber hinaus brauchst du keinen Wunsch, — wenn dein Gott dich abruft (nach 120 Jahren), du gehst befriedigt und selig von dannen — denn in diesem Bewusstsein, in dem Bewusstsein nicht Segen empfangen zu haben, sondern Segen geworden zu sein, liegt der einzige Frieden und liegt die einzige Seligkeit des Menschen.
Als Gott den ersten Juden (Abraham) in den Acker der Menschheit pflanzte, riss er ihn aus allem heraus, woraus sonst die Menschen Segen schöpfen, sprach zu ihm: dich zu segnen überlasse mir, du aber: היה ברכה, werde Segen! und hatte mit diesem einzigen Wort ihn inmitten einer Segen suchenden Menschheit zum Segen spendenden Menschen isoliert, hatte mit diesem einzigen Wort ihm die Aufgabe seines ganzen übrigen Lebens und das Vermächtnis angewiesen, das er seinen Kindern und seinem Haus nach sich hinterlassen sollte: „nur auf den von Gott vorgezeichneten Weg zu achten, Pflicht und Recht zu vollbringen!“
Und wenn seiner edelsten Enkel (König David) einer, „durch den Gottes Geist gesprochen, und auf dessen Zunge sich sein Wort bewegt“ wenn dieser die Herrlichkeit des Gottesreiches und in diesem Gottesreich die Seligkeit seiner Engel und Schöpfungschöre und in diesen Chören die Seligkeit seiner eigenen Seele besingen will, dann singt er nicht von dem Gottessegen, der auf alle diese Engel, auf alle Geschöpfe und auch auf seine Seele von Gott herniederströmt, dann singt er von dem Segen, der von allen seinen Engeln, von jeglichem seiner Geschöpfe, der auch von seiner Seele zu Ihm, in Förderung seines Willens aufsteigt, dann singt er:
Im Himmel hat Gott seinen Thron bestellt,
Aber sein Reich waltet durch alles!
Segnet Ihn, seine Engel ihr, Kraftgerüstete Vollstrecker seines Wortes
Um seines Wortes Stimme zu gehorchen!
Segnet Ihn, all‘ seine Scharen, Seine Diener ihr, Vollbringer Seines Willens!
Segnet Ihn, all‘ seine Geschöpfe ihr,
An allen Stätten seines Reiches!
Segne auch du, meine Seele, den Herrn!
!’ברוך אתה ד
(Ps. 103. V. 19. u. f.)
R. Hirsch, Gesammelte Schriften VI.
(Mar)-Cheschwan.
Die Segenssprüche. (Berachoth).
האי מאן דבעי למהוי חסידא לקיים מילי דברכות. (ב’ק ל‘ א.)
(Wer fromm sein will, sollte die Segensprüche beachten)
Dieser Artikel von Rabbiner S.R.Hirsch erschien in der Monats-Zeitschrift Jeschurun im Jahre 1859, Heft 2., später auch in „Gesammelte Schriften“ Bd. VI. Er wurde dem heutigen Sprachgebrauch angepasst, leicht verkürzt und mit erklärenden Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.
Vorab zum besseren Verständnis des Artikels: Das hebräische Wortברוך , mit dem jeder Segenspruch beginnt, bedeutet weder gelobt noch gepriesen, wie es in vielen Übersetzungen heißt, sondern gesegnet!
Jeder Monat unseres Kalenderjahres hat, sei es durch das jüdische Gesetz, sei es durch die jüdische Geschichte, sei es durch beide zusammen irgendeine besondere Eigentümlichkeit erhalten, die er zur erneuten besonderen Einwirkung auf unseren Geist und unser Gemüt mit seinem jedesmaligen Erscheinen uns entgegenbringt. Nur der Marcheschwan ist in dieser Beziehung völlig leer ausgegangen und während sein Vorgänger so tief ergreifende, Ernst und Freude, jüdischen Ernst und jüdische Freude weckende Erinnerungen und noch reichere, unser ganzes Leben mit ihrer Wahrheit begründende Mizwoth zu bringen hatte, tritt der Marcheschwan bei uns ein und hat keine andere Botschaft, als nun, nach einem Monat so reicher Fülle von Erregungen, das jüdische Leben in dem ganzen Charakter seiner Alltäglichkeit auf einem von diesen Erregungen und Anregungen getränkten Boden beginnen zu lassen. Dieses alltägliche Leben, wie sehr ist aber gerade es das wirkliche eigentliche Leben, durch welches alle Festtage, Festwochen und Festmonate ihren Wert und ihre Bedeutung erhalten und in welchem gerade alle die Früchte reifen sollen, zu welchen jene Festzeiten ja nur die Saat streuen und die Keime wecken konnten und wie sehr haben „unsere Weisen“ — und vor allem sei dafür ihr Andenken gesegnet — es verstanden jene Saaten und Keime des Geistes und der Weihe mit hinüber in den Kreis des alltäglichen Lebens zu verpflanzen und dieses alltägliche Leben selbst, mit allem was uns in demselben in näherer oder fernerer Beziehung trifft und berührt, zu einem sich unerschöpflich ergießenden Strom der Weckung und der Weihe, des Geistes und der Kraft zu umwandeln!