Kap. 111.

Berachoth (ברכות)

Auszug aus dem „Chorew“ von Rabbiner S.R.Hirsch.
Textlich dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und leicht verändert von M. Bleiberg

§. 672.

Unsere Weisen erkannten es als ihre Aufgabe, nicht nur heraus aus dem Gewühl des Lebens zur Sammlung zu Gott uns zu rufen, sondern im Leben selbst wollten sie uns entgegentreten, uns im Leben den Gottesgedanken beleben um uns zu einem Gott dienenden tätigen Leben zu verhelfen. Diese ihre Aufgabe lösten sie durch Berachoth, die sie uns reichten, und sie sind Gegenstand unserer Betrachtung in diesem Kapitel.

§. 673.

ברכות. Die im inneren Gottesdienst erhaltenen Gottesgedanken müssen festgehalten werden im tätigen Leben, dass uns nicht etwa geteilt dastehe das Leben in Stunden des Gebets und Stunden des Lebens, in jenen wir vor Gott stünden, aber in diesen nicht wandelten vor Gott. Was wäre der innere Gottesdienst, wenn er dem tätigen Leben uns nicht heiliger, kräftiger, gotterfüllter wiedergäbe und nicht unser ganzes Leben zum Gottesdienst umwandelte! — Sonst — leben wir ein Leben — tragen in uns, an uns, um uns Gottesgaben, und denken ihrer nicht, denken nicht Gottes! Natur und Menschenwelt, der große Schauplatz, in dem wir leben, nichts als Offenbarungen Gottes und wir haben kein Auge für den Alleinen, der dort sich offenbart! Was wir genießen, sind nichts als Gottesgaben — und wir rüsten uns mit Gottesgaben zu einem gottentfremdeten Leben, weil wir nicht denken, dass sie Gottesgaben seien! Selbst die Pflichten, die uns zu Gott erziehen sollen, erzögen uns nicht, wenn wir, nicht als göttliche Anordnung, mit einem von Gott unerfüllten Gemüte sie übten (praktizierten). Ja, selbst die außerordentlichen Momente des Lebens wenden unseren Sinn nicht zu Gott, weil wir sie nicht von Gott gesandt und geleitet begreifen, nicht sehen, wie uns Gott mit jedem eine Aufgabe setzt, die wir tätig Ihm dienend zu lösen haben. Darum begleiten uns die Weisen mit in das Leben, begleiten unser Erwachen und Schlafengehen, unseren Blick in Natur und Menschenwelt, unseren Genuss und jede Übung erziehender Mizwah, und jeden hervorragenden Moment unseres Lebens, um uns überall im Leben auf Gott hinzuweisen und auf unseren Beruf, zu Ihm und nur zu Ihm mit Allem und in Allem hinaufzuleben, auf dass unser eigenes Selbst und unsere Welt und unser Genuss und unsere Pflicht und unser Leben uns gottheilig seien!

Sie fanden die Pflicht vor, eine Beracha zu sprechen, also sich der Erfüllung göttlichen Willens zu weihen, nach dem Genuss des Brotes und vor dem Lernen der Torah; nach dem Genuss des Brotes: also beim Innewerden der durch den Brotgenuss gewonnenen neuen Kraft und Stärkung, in dieser Kraft nur Gottesspende zu erkennen, und in ihr selber die Pflicht gebracht, die neugewonnene Kraft nur im Dienste ihres Spenders zu verwenden; vor dem Lernen der Torah: also vor Beschäftigung mit der Gott entstammten Lehre, zum Bewusstsein zu bringen, dass sie Gott entstamme, fürs Leben gegeben sei, aus ihr unser Leben und seine Pflichten zu erlernen, auf dass die Beschäftigung mit ihr auch nur in solchem Geiste fürs Leben geschehe, dem alleinigen Geiste, in dem das Erlernen der Torah gedeiht und zu dem Ziele führt, zu welchem das Erlernen derselben Pflicht ist. Wie nun unsere Weisen von Birkat Hatorah auch eine Beracha vor dem Brotgenuss übertrugen, damit nicht nur die gewonnene Stärkung nur zum Dienste Gottes verwendet werde, sondern schon von vorn herein der Genuss nur in solchem Sinne geschehe, und selbst unser Genuss, durch solchen Sinn geweiht, rein menschlich werde, ebenso heilig wie jede andere Pflichttätigkeit unseres Lebens,  wie sie ebenso vom Brotgenuss auch eine Beracha nach der Beschäftigung mit der Torah, und zwar der öffentlichen, übertrugen, damit nicht nur uns bei der Beschäftigung mit der Lehre stets ihr Zweck vor Augen schwebe, sondern wir nun auch im Leben sie  als  das  von Gott gegebene Gesetz unseres Lebens beachten (ברכות 21, 1): — so knüpften sie überhaupt an diese Berachoth, die sie so für die Hauptstützen unseres körperlichen und geistigen Lebens, Brot und Torah, angeordnet vorfanden, alle übrigen Berachoth, mit denen sie unser Leben in seinen bedeutendsten körperlichen und geistigen Verhältnissen durchdringen und weihen. Sie verfassten Berachoth beim Erwachen und Schlafengehen, bei Blicken auf Natur und Menschenwelt, bei Genüssen, bei Pflichten und bei den bedeutendsten Momenten unseres Lebens.

§. 674.

Formeln der Berachoth. In den Formeln aller Berachoth trittst du zu Gott hinan, und sprichst zu Ihm: Deinem Dienst will ich mich weihen [verstehe: in diesem Sein, in dieser Welt, mit diesem Genuss, durch diese Pflicht, mit diesem Leben] ברוך; Du, zu dem mir allgegenwärtig, ich jetzt aus meinem Leben hinan trete אתה; der du unter dem Namen „ד‘ willst gedacht werden, und der du unser Gott bist אלדינו, derselbe, der, nicht minder allgegenwärtig unsichtbar unser ganzes Leben umgibt und durchdringt und beherrscht, als Herr alles in der Zeit Hervortretenden מלך העולם; dessen Werk Sendung, Gabe, Anordnung, Verhängnis u. s. w., dieses Sein, dieses Wesen, diese Erscheinung, dieser Genuss, diese Pflicht, diese Begebenheit in unserm Leben u. s. w. ist (אשר- oder ש-, oder ה-, oder unmittelbar שם oder בינוני);
also

‚ברוך אתה ד‘ אלדינו מלך העולם אשר-, ש-, ה-, וכו 

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Quelle: https://archive.org/details/horevversucheb00hirsuoft/page/460/mode/2up

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