Tischri-Bilder nennt Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l den Aufsatz, der in der Zeitschrift „Jeschurun“, 3. Jahrgang, Heft 1, im Oktober 1856 veröffentlicht wurde. In der Liturgie des Feiertages Rosch Haschana treten die im nachfolgend beschriebenen Persönlichkeiten des frühen jüdischen Lebens auf. Sie sind Vor-Bilder für jüdisches Leben.

Rabbiner Hirschs Sohn, Dr. Mendel Hirsch s“l, hat diese Tischri-Bilder in die „Gesammelten Schriften“, Band 3, seines Vater aufgenommen und die Zwischenüberschrift hinzugefügt.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2940324.

————-

Thischri-Bilder.

Die weibliche Gruppe am Rosch Haschana: Sara mit Jizchak.
Hagar mit Ismael. Channa mit Samuel. — Die männliche
Gruppe: Abraham und Jizchak.

———————

1.

Die weibliche Gruppe.

Ich weiß nicht, ob die Bemerkung neu ist, das die Bilder, die uns der Brauch der Väter aus dem Gotteswort an der ernsten Schwelle des neuen Jahres entgegenführt, Frauengestalten sind. Frauen sind es, deren Gedächtnis belehrend und mahnend, weihend und erhebend die ernste Rosch Haschana-Feier durchdringt; Frauen, aus deren Geschick uns die allnahe Waltung der prüfenden und beglückenden Allmacht entgegenleuchtet; Frauen, von denen wir hoffen und harren, Gott schauen und — beten lernen sollen. Sara, Hagar, Channa, Rahel ziehen als leuchtende Gestalten an unserem Blick vorüber. Und in dem Schmuck des heiligsten Berufes, der höchsten Würde der Frauen glänzen die Gestalten. Als Mutter grüßt uns eine jede: Sara mit Jizchak, Hagar mit Ismael, Channa mit Samuel an der Hand, und noch zum Abschiedsgruß am zweiten Tag (des Neujahrsfestes) zeigt uns das Prophetenwort Rahel um ihre Kinder weinend, weil sie Gott unter ihren Kindern sucht und ihn nicht findet.

Ein Blick auf diese weibliche Gruppe, mit welcher das Judentum seinen großen Jahreszyklus beginnt, dürfte manchen Lästerer desselben verstummen machen. Ein Volk, dessen Augen in den feierlichsten Stunden der Nationalandacht zuerst auf das gottgetragene Geschick und Leben dieser weiblichen Gruppe gerichtet werden, braucht wahrlich nicht die Würde der Frauen, diese Grundbedingung aller Gesittung, erst von dem Jahrhundert vergötterter Kamelien-Damen oder von den Jahrhunderten des von dem Kultus einer Himmelskönigin getragenen entsittlichenden Minnedienstes zu lernen. —

Wir haben jedoch heute keine Verteidigung des Judentums gegen seine Verkleinerer zu schreiben. Wir wollten mit dieser Bemerkung eine Würdigung des Thischri und dessen einleiten, was dieser Monat mit seiner „Fülle von Mizwot“, mit seinem Posaunenruf des Gottesgerichtes und seinem still bescheidenen Hüttenbau unserem Gemüt und Geist bedeute.

„Ein Tag erschütternden Posaunenrufes sei er euch“, [1] יוֹם תְּרוּעָה יִהְיֶה לָכֶם hatte Gott für den ersten Thischri bestimmt, und diese Bestimmung selbst also näher kommentiert, dass er nicht nur יוֹם תְּרוּעָה sondern [2] זִכְרוֹן תְּרוּעָה, ein Erinnern und Gedenken der Therua werde, dass die schmetternden Schofartöne nicht nur augenblicklich erschütternd unserem sinnlichen Ohr vorüberrauschen, dass sie unserem Gemüt und Geist Gedanken wecken, Gedanken bringen sollen und auch diese nicht zur flüchtigen Anregung, sondern zur tief inneren Aneignung und bleibenden denkenden Erinnerung, זִכְרוֹן תְּרוּעָה. Der Ton verhallt, die schmetternde Schwingung endet, aber im Gemüt und Geist sollen die Töne fortschwingen und die Botschaft, die sie dort niedergelegt, soll unverlierbares Angebinde für die neue Zukunft werden.

„Im siebenten Monat, am ersten des Monats werde euch eine Sabbatrast zum Gedenken der Therua, eine Berufung zum Heiligtume,“ שַׁבָּתוֹן זִכְרוֹן תְּרוּעָה מִקְרָא קֹדֶשׁ (3. B. M. K. 23. V. 24.); in ungestörter Hingebung an die Gedanken, die der schmetternde Schofar bringt, sollt ihr der Ladung zum Heiligtum gehorchen und folgen!

Israels große Geister aber haben die Sprache des schmetternden Schofars verstanden, haben die Gedanken erfasst, die der Dreiklang des jüdischen Signals am Tag des neuen Jahres, im Augenblick der Zeitenwende in alle jüdischen Hütten und Herzen zu rufen bestimmt ist und haben seine Töne in Worte übersetzt und seine Botschaft in Sätze gekleidet, die eben das זִכְרוֹן תְּרוּעָה, das Denken und Gedenken, das Aneignen und Festhalten der Neujahrs-Botschaft des Schofars vermitteln.

Es ist die Zeit, die ruft, und es ist Gott, der den Ruf der Zeit an die Wände unserer Brust schallen lässt.

Dreifaltig ist das Wesen der Zeit. Der kleinste Tropfen, den wir aus dem dahinfließenden Strom der Zeit abschöpfen, der kleinste Moment, den wir aus dem Meer der Ewigkeit zur Betrachtung festhalten, enthält das dreifache Wesen des Ganzen und ist aus den in ewigem Wechsel begriffenen drei Zeitelementen zusammengewoben. In jedem Augenblick reichen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Hände. Jeder Augenblick ist Gegenwart, war Zukunft, wird Vergangenheit, und tauscht diesen Charakter mit der Schnelle des Gedankens.

In Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft liegt aber das ganze Geheimnis unseres Seins.

Hat die flüchtige Gegenwart einen Halt, die entschwundene Vergangenheit eine Gegenwart, die kommende Zukunft einen Boden? Oder ist alles vergänglicher, nichtiger Tand, daherströmend aus einem Born, wir wissen nicht woher; dahinströmend zu einem Ziel, wir wissen nicht wohin; alles vergängliche, sich selbst brechende Wellen, und wir nur die Blasen darauf, die buntfarbig schillernden Blasen, die sich bauschen und tanzen und brechen, um spurlos zu zerfließen?

מַלְכִיּוֹת Gott ist der Halt der flüchtigen Gegenwart. In seinem Dienst steht der winzigste gegenwärtige Moment der Zeit, hat in seinem Reich eine Aufgabe zu lösen und tritt mit dieser Lösung in den göttlichen Kreis ewiger Bedeutung. Gott ist jeder Gegenwart Meister und Herr: מַלְכִיּוֹת.

 זִכְרוֹנוֹתAber eben darum ist auch nichts Vergangenes vergangen. In Gottes Bewusstsein sind die flüchtigsten Momente der fernsten Vergangenheit gezeichnet, Ihm ward ja jeder Augenblick gelebt, als er Gegenwart war. Er hat die Frucht eines jeden solchen Lebensaugenblicks aufgenommen und bewahrt sie und prüft sie und gedenkt ihrer, wenn sie dem Bewusstsein der Sterblichen längst entschwunden. Gott ist jeder Vergangenheit Zeuge und Richter: זִכְרוֹנוֹת

שׁוֹפָרוֹת Und eben darin hat auch die Zukunft ihren gesicherten, freien Boden. Es ist nicht der Zufall und ist nicht eine blinde Notwendigkeit, die unsere Zukunft heraufführt. In unserer Vergangenheit wurzelt unsere Zukunft. Kind unserer Vergangenheit ist ein jeder unserer künftigen Momente. Allein es ist Gott, der dieses Band der Vergangenheit und Zukunft gewoben; nein, es ist Gott, der dieses Band der Zeiten webt. Das Gesetz, das jeden kommenden Augenblick als Wirkung aus dem ursachlichen Schoß des vergangenen keimen lässt, dieses Gesetz, das Band des Universums, das er gesetzt, ist noch in seiner Hand. Allmächtig frei steht er über der Notwendigkeit, die er geschaffen, und hebt in den Bereich seiner Freiheit alle die hinüber, die das Bewusstsein der Freiheit in sich nicht ertöten, die in dieser Freiheit sich mit dem einen einzigen Freien verwandt fühlen und sich ihrem Vater, dem einen einzigen Freien, als ihrem Erlöser in die Arme werfen. Mag aus dem ursachlichen Schoße der Vergangenheit Sünde, Knechtschaft und Tod als Wirkung keimen —: Gottes Schofarruf sprengt die Banden des sittlichen, gesellschaftlichen und leiblichen Todes und ruft als Erlöser alle Gestorbenen und Verlorenen aus den Gräbern der Sklaverei und der Verkommenheit zu Licht und Freiheit und Leben. Gott ist jeder Zukunft Vater und Erlöser: שׁוֹפָרוֹת

Gott aber als Herrn und Meister, als Zeugen und Richter, als Vater und Erlöser im Herzen zu tragen, unsere Zukunft ihm, als unserem Vater und Erlöser zu überlassen, unsere Vergangenheit unter seinem prüfenden Richterauge zu wissen, und unsere Gegenwart in dem Dienst unseres Herrn und Meisters auszufüllen, wie wir uns dies in jeder Beracha entgegenhalten, מלך העולםאלקנוה‘ — das ist die Weisheit und der geistige Lebensodem, die die jüdische Brust in jedem Augenblick erfüllen und durchs ganze Leben geleiten sollen. Jeder Augenblick von seiner Gnade gewährt, in seinem Dienst durchlebt, seiner Gerechtigkeit überantwortet und seiner Gnade empfohlen — das umwandelt das Dasein zum jüdischen Leben.

Diese Gottesgedanken aber, die uns das Jahr hindurch geleiten und durch alle heiteren und trüben Stunden des Lebens siegreich zu Gott tragen sollen, sie sind es, die mit Schofarmacht an der Schwelle des neuen Jahres immer neu unser Inneres ergreifen sollen, auf dass sie Besitz von unserem Geist und unserem Herzen nehmen und mit erneuter Kraft unsere Gedanken und Gefühle, unsere Worte und Taten auf der Wanderung durchs Leben beherrschen.

Sie, diese Gedanken der זִכְרוֹנוֹת, מַלְכִיּוֹת und שׁוֹפָרוֹת [3], sind es daher, die den ersten Wochen unseres Jahres das entschiedene Gepräge aufdrücken. In diesen ersten Wochen werden sie als die geistigen Saaten in unser Herz gestreut und in ernster Pflege zum Keimen gebracht, damit sie die reinen Heilsfrüchte eines Jahreslebens gewähren. In inniger Durchdringung füllen sie den ganzen Jahreseintritt aus. Jeder einzelne dieses Gedanken-Dreiklangs tritt an besonderen Tagen zur besonderen Beherzigung und Pflege besonders hervor und gibt ihnen den Charakter einer besonderen Weihe. So an den Tagen des Jahresanfangs: מַלְכִיּוֹת, in den Tagen der Theschuwa[4]זִכְרוֹנוֹת und שׁוֹפָרוֹת am Tage der Sühne, Jom Hakipurim.

Und mitten in diesen Gedanken der Huldigung unseres Herrn und Meisters, der Absicht der Besserung vor den Augen unseres Zeugen und Richters und des Erneuern des Sühnebundes mit unserem Vater und Erlöser, werden unsere Augen zuerst auf jene Frauengestalten gerichtet, auf jene Mütter mit ihren Knaben, auf Sara mit Jitzchaks, Hagar mit Ismael, auf Channa mit Samuel — auf die über ihre verlorenen Kinder weinende Rahel. Und wohl sind diese Gestalten geeignet, unsere sich in Gott versenkenden Gedanken in den Kreis derjenigen Betrachtungen zu umschränken, die allein geeignet sind, unsere Gottgedanken Saaten des wirklichen Heils und des Lebens werden zu lassen.

Es ist Gott, dessen Gedanke mit der erschütternden Schofargewalt seiner Erhabenheit und Größe dich am Rosch Haschana ergreift. Und dieser Gedanke mit dieser Allmacht, dieser Erhabenheit, dieser Größe, ist von so Welten umspannender Weite, reicht so schrankenlos in die unbegrenzte Ewigkeit hinaus, dass du Gefahr läufst, in diesem Meer der Unendlichkeit, während der schwindelnde Gedanke Gott sucht, dich zu verlieren. Eben vor dem Glanz der unendlichen Erhabenheit und Größe der Welten regierenden Allmacht deines Gottes schwindest du und schwinden alle deine großen und kleinen Verhältnisse und Anliegen zu solcher unbedeutenden Winzigkeit zusammen, dass du zuletzt kaum mehr zu denken wagst, selber in diesem Reich der Unendlichkeiten etwas zu bedeuten, dass du zuletzt Gott zu lästern meinst, wenn du es ihm zumuten solltest, seinen Sternenwelten musternden Blick auch auf dich, „den vergänglichen Staub, den verschwindenden Schatten, den dahinflatternden Traum,“[5] fallen zu lassen. So könnte gerade der Gedanke dich bis zur Selbstverachtung zusammenschmettern, der dich aufzumuntern und zu ermannen dir gesendet ist. So könntest du gerade einer stumpfen Gleichgültigkeit, die alles als das Ergebnis einer für dich blinden Notwendigkeit hinnimmt, in dem Anblick Gottes dich überlassen, vor dessen Auge du doch gerade zu Selbstprüfung und Selbstläuterung und Selbstheiligung berufen sein sollst.

Da treten die Muttergestalten mit ihren Knaben an dich heran und sprechen: בְּרֹאשׁ הַשָּׁנָה נִפְקְדָה שָׂרָה רָחֵל וְחַנָּה [6] (Rosch Haschana 10 b), am Rosch Haschana wurden wir von dem barmherzigen Vater bedacht! Am Rosch Haschana wurden unsere Wünsche erhört! Am Rosch Haschana wurden uns unsere Kinder geschenkt!

Nicht in den Harmonien der Sphären, nicht in dem Donner der Welten, nicht in dem Welten bauenden und zerstörenden Kreißen[7] der Elemente, nicht in den Völkergeschicke gestaltenden Umwälzungen gerade in deinem eigenen, kleinsten, beschränktesten, menschlichen Anliegen suche Gott.

Sterne ziehen vielleicht in den vom Schöpfer bei ihrem Werden ihnen angewiesenen Gleisen ihre, wie die Sterblichen es nennen, ewigen Bahnen; in dem Kampf der Elemente und — der Völkermassen walten vielleicht die noch an dem ersten, alten „Werde“ des Schöpfers hangenden Gesetz der Natur, und unrettbar folgt ihnen alles, was sich selber auf das Rad ihrer Notwendigkeit flicht. Aber dem Gott suchenden Herzen, dem Gott schauenden Geist, dem zu Gott sich aufschwingenden Gemüt, den Gott sich weihenden Menschenhütten und Kreisen ist Gott noch heute unmittelbar mit seinem freien, allmächtigen Schöpferwalten nahe, in jedem Augenblick eine neue Welt und ein neues Dasein und eine neue, frische, freie Zukunft zu gestalten. Die Schöpfung der Natur ist vollendet, aber die Menschenschöpfung, die Pflanzung, Pflege, Entwicklung, der ganze Ausbau des Menschlichen und des Göttlichen im Menschen auf Erden, ist das noch immer neu sich vollziehende Schöpferwunder des Allmächtigen, das alle Menschenweisheit zu Schanden macht und aller aberwitzigen Berechnung spottet. Siehe:

Sara und Jizchak!

Gott hatte Sara bedacht, wie er es verheißen, und Gott vollbrachte nun an Sara, wie er es gesprochen“ (1. B. M. K. 21. V. 1.) — Nahe ist Gott den Sterblichen, und „bedenkt“ sie, bestimmt ihnen eine neue Zukunft, und gibt ihnen Verheißungen, Versprechen, und erfüllt es und vollbringt es! Gott, der Sara, dem sterblichen Weibe, nahe in ihren zartesten Wünschen, ihren ein ganzes Menschenleben hindurch versagten Mutterfreuden nahe! Abraham lachte, Sara lachte, als ihnen zuerst die Verkündigung ward, die unfruchtbare Neunzigjährige werde noch Mutter werden. Und als sie nun Mutter geworden, da lachte die Welt der die Menschheit umfassenden Hoffnungen, die der hundertjährige Greis, die die neunzigjährige Mutter an den neugeborenen Säugling knüpften. Denn es lacht überall die Welt, wo sie große Zwecke mit kleinen, unzureichenden Mitteln erstreben, große Hoffnungen an kleine, unzureichende Anfänge knüpfen, wo sie Erwartungen hegen und pflegen sieht, zu welchen nach ihren Berechnungen alle und jede Berechtigung zu fehlen scheint.

Sara aber sprach: „Worüber wir alle gelacht, das hat Gott an mir doch vollbracht, so mögen nun ferner alle, die es hören, meiner lachen!“ [8] צְחֹק עָשָׂה לִי אֱלֹקִים כָּל הַשֹּׁמֵעַ יִצְחַק לִי Und sie drückte den Säugling an die Brust und sprach: „Wer hat dem Abraham die ganze Tiefe und Fülle dieses Ereignisses noch ausgesprochen — מִי מִלֵּל לְאַבְרָהָם „dass in diesem Säugling ich eines ganzen Volkes Mutter geworden“ —  הֵינִיקָה בָּנִים שָׂרָה; „denn ich habe ihm einen Sohn geboren, der ihn in seinem Alter jugendlich ersetzen wird“ — כִּי יָלַדְתִּי בֵן לִזְקֻנָיו (das. V. 6. 7.).

Seitdem Gott an der Sara vollbracht, worüber sie selber gelacht, seitdem lacht sie über keine Gottesverheißung mehr, seitdem erträgt sie ruhig das Gelächter der kurzsichtigen Welt, die nur das sinnlich Greifbare zu berechnen weiß, aber den unsichtbaren Allmächtigen nicht schaut und seiner Allmacht nicht Rechnung zu tragen weiß. Und ein Gelächter der Welt zu sein, wird Saras Same bestimmt. Er wandelt durch die Welt, in seiner Winzigkeit Träger der größten Verheißungen; in seiner Unscheinbarkeit Werkzeug der größten Gottesveranstaltung; in seiner Ohnmacht nichts weniger als den Sieg über die Gewalten der Erde beanspruchend.

Die Welt lachte — und lacht über den Sara-Geborenen. Gott aber hatte gesprochen: „Nenne du ihn „Jizchak“, er wird lachen — „und Abraham nannte seinen Sohn, der ihm geboren worden, den ihm Sara geboren hatte: Jizchak“ (das. V. 3). Und darin liegt der ganze Gegensatz dieses von der Sara geborenen Abrahamssohnes zu der ihn verlachenden, nur sinnlich Greifbares schätzenden und achtenden Welt. Die Welt lacht über die Ohnmacht Jizchaks, des zum Träger des Gottessieges auf Erden Erkorenen. Jizchak aber erträgt lachend das Gelächter der Welt und lächelt über den Wahnwitz der Lachenden, die mit ihren staubgeborenen Mächten den Kampf mit der Allmacht wagen zu können vermeinen — und auch יוֹשֵׁב בַּשָּׁמַיִם יִשְׂחָק ה‘ יִלְעַג לָמוֹ (Psalm 2. V. 4.).[9]

Zu uns aber spricht am Rosch Haschana-Tag die freudenstrahlende Mutter Sara: Legt nur eure liebsten Wünsche vertrauensvoll in Gottes Hand — und harret. Harret Jahre, Jahrzehnte, harret euer Leben hindurch der heitersten Erfüllung. Über eure Hütten, eure Ehen, eure Kinder wacht und waltet Gott. Die Wiegen eurer Kinder sind die Offenbarungsstätten seines Reiches; jede jüdische Mutter herze in ihrem Säugling ein ganzes gottdurchdrungenes künftiges Geschlecht und pflege und erziehe ihn für ein solches —

Aber auch

Hagar und Ismael

grüßen uns. Nicht nur der freudestrahlenden Herrin, auch der kummervollen, aus dem Herrnhaus in die Wüste gewiesenen Magd ist Gott nahe. Es hatte der Knabe[10][11]מְצַחֵק — sich zur großen Masse der „Lacher“ gesellt, die der schwachen Anfänge des Göttlich-Großen spotteten, und sich eben darin der großen Gotteserbschaft des Abrahamshauses unwürdig erwiesen. Aber einen Funken vom Geiste Abrahams nahm der Knabe doch mit hinaus aus dem Vaterhaus; diesen Funken sollte er auf seine Nachkommen vererben und dieser Funke sollte seine Nachkommen zu einer großen Bedeutung im Kreis der Völker beleben — [12]לְגוֹי אֲשִׂימֶנּוּ כִּי זַרְעֲךָ הוּא  — Und sie irrt in der Wüste, dort wo sie schon einst die Allnähe des „schauenden Lebendigen“[13] erfahren, und das Wasser ist aus dem Schlauch geschwunden, und sie wirft verzweiflungsvoll den Knaben unter einen Baum und setzt sich von fern, um den Todeskampf des verschmachtenden Kindes nicht mit anzuschauen — Da rief ihr ein Engel vom Himmel: „Was verzweifelst du, Hagar, fürchte dich nicht, gerade dort, wo er ist — בַּאֲשֶׁר הוּא שָׁם   — hat Gott schon das Flehen des Knaben erhört — Gott öffnete ihre Augen, sie sah einen Brunnen und ging und füllte den Schlauch und tränkte den Knaben“ (1. B. M. K. 21. V. 13 u. f.).

Und du willst verzweifeln, Unglücklicher, wenn die Wüste des Elends dich anstarrt, und dir die Hoffnung für dich, die Hoffnung für die Deinen schwindet —? Lerne auf Hagar schauen am Rosch Haschana-Tag, lerne Gott um Einsicht bitten, dass er die Augen dir öffne, seine Hilfe zu schauen, wo er sie dir gewährt, בַּאֲשֶׁר הוּא שָׁם. Gerade da, wo wir verzweifeln, quillt der Born der göttlichen Hilfe; aber unsere Verzweiflung macht uns blind, und lässt uns in der Ferne suchen, was Gott zu unseren Füßen gelegt. — [14] קוּמִי שְׂאִי Ermanne dich am Rosch-Haschana-Tage, stehe auf, trage mutig, was dein Gott dir auferlegt, pflege rüstig, was dein Gott dir anvertraut. Nicht dem Verzweifelnden, dem Mutigen ist Gott nahe. Nicht der Verzweifelnde, der Mutige schaut Gott und seine Hilfe. Erst: „stehe auf, nimm den Knaben auf und pflege ihn mit fester Hand —“ und dann erst: „da öffnete Gott ihre Augen und sie sah den Brunnen —“

Und nun gar

Channa und Samuel.

אֶל הַנַּעַר הַזֶּה הִתְפַּלָּלְתִּי „Um diesen Knaben habe ich gebetet“, mit diesen Worten ward das jüdische Weib, die Mutter Samuels, Vorbild und Lehrerin aller Beter auf Erden, zeigte Channa die Kraft des Gebets, den stillen Weg aus dem Herzen zum Welten beherrschenden Gott und die laute freudige Erhörung des dem Gebet der Menschengemüter lauschenden Meisters der Welt. (Sam. I. Kap. 1.)

Häuslicher Kummer, Kränkung im Schoß der eigenen Familie, das sind die stillen Nager am Herzen der Sterblichen, das sind die feinen Nadelspitzen, deren kleine Wunden das grobe Auge der Welt verlacht, an deren unaufhörlichen, unvermeidlichen Stichen sich aber so manches Herz verblutet. Denn sie treffen den Menschen eben da, wohin er sich sonst aus dem Kampf der Welt Frieden suchend flüchtet, und umwandeln ihm den Hafen der Ruhe selber zu einem dornenumfriedigten Stachelgehege.

Kommt her ihr Müden alle mit den blutenden Herzen, mit den wund geritzten Gemütern; wenn alle Welt euch verlacht, wenn kein Mensch euren Kummer begreift, euren Schmerz versteht, wenn selbst eure treusten, aufrichtigsten Freunde, eure Betrübnis tadelnd, sprechen: „Warum weinst du, warum isst du nichts, warum ist dein Herz so betrübt —?“ und ihr keinen Menschen auf Erden habt, vor dem ihr euren tiefen Jammer auszuweinen vermöchtet — so lernt von Channa, zu Gott mit eurem Schmerz flüchten, lernt von Channa, euch zu Gott betend emporzuweinen, lernt von Channa am Rosch Haschana Erhörung im Gebet erringen.

Sie stand am Rosch Haschana vor Gott, וְתִתְפַּלֵּל עַל ה‘ und sie betete hinauf zu Gott,וְחַנָּה הִיא מְדַבֶּרֶת עַל לִבָּהּ (das. V. 10. 13.), aber Channas Gebet war eine Sprache an ihr Herz,מִכָּאן לַמִּתְפַּלֵּל צָרִיךְ שֶׁיְּכַוֵּין לִבּוֹ [15], so sei das jüdische Gebet eine Ansprache an das Herz, eine Rede zu dem eigenen Herzen. Dem Herzen die wahre Richtung zu geben, das Herz auf das Wahre zu richten, durch die wieder wach gerufene Wahrheit im Herzen das Herz die Gott wohlgefällige Richtung finden zu lassen, das heißt beten, heißt הת פלל, התפלל sich richten, Richteramt in sich, über sich üben, das Urteil des Rechten und Wahren in sich zur Erkenntnis bringen! Der jüdische Beter richtet sich vor Gott, und Gott lauscht dieser Arbeit der vor ihm Betenden an ihrem eigenen Innern.

 רַק שְׂפָתֶיהָ נָעוֹת „Ihre Lippen waren bewegt.“ Allgemeine Gefühls- und Empfindungsregungen, Andachtsstimmungen von unbestimmtem Inhalt und Gehalt tun es aber eben darum nicht. Beten, jüdisches Beten, מִכָּאן לַמִּתְפַּלֵּל שֶׁיַּחְתּוֹךְ בִּשְׂפָתָיו, fordert bestimmte, in Worte gefasste, ausgesprochene Gedanken. — ״וְקוֹלָהּ לֹא יִשָּׁמֵעַ״ — מִכָּאן שֶׁאָסוּר לְהַגְבִּיהַּ קוֹלוֹ בִּתְפִלָּתוֹ  , aber der Betende hat sie zunächst nur zu sich zu sprechen, an sich zu richten und sie zur eigenen Aneignung zu verwenden. Kein anderer, nur Gott und das eigene Ohr höre das Zwiegespräch des Betenden mit seinem Herzen (Bera-choth 31 a).

[16]וְתִדֹּר נֶדֶר, und eben darum ist Blüte und Frucht eines jeden wahren Gebets ein Gelübde, ein Lebensvorsatz, Entschluss und Beschluss über das Erbetene, nach der Gewährung nie zu vergessen, wie man vor Gott um das Erbetene gerungen; nie zu vergessen, dass man es von Gott erbeten und dass Gott es dem Gebet gewährt hat; es, als von Gott erbeten und gewährt, nur seinem heiligen Wohlgefallen geweiht zu verwenden und durch solchen Entschluss und Beschluss die Gewährung erst zu verdienen.

Also betete Channa und fasste Entschlüsse am Rosch Haschana und weihte im voraus den von Gott erflehten Knaben und nannte ihn Schemuel, den nach Gott Genannten, und ward somit Mutter Samuels, des dritten „Gottverkündigers“ nächst Moses und Aharon, [17] וּשְׁמוּאֵל בְּקוֹרְאֵי שְׁמוֹ (Psalm 99, V. 6).

Die ganze Tiefe ihres Gemütes und die ganze Fülle ihrer Gottesanschauungen legte aber Channa in einen Namen nieder, mit dem sie zuerst Gott im Kreis der Sterblichen nannte und indem sie diesen Namen in Israel vererbte, steht sie selber als große Gottverkünderin da unter allen, die der göttliche Geist in Israel geweckt. צְבָאוֹת nannte sie Gott. (Sam. 1. K. 1. V. 11.), אָמַר רַבִּי אֶלְעָזָר: מִיּוֹם שֶׁבָּרָא הַקָּדוֹשׁ בָּרוּךְ הוּא אֶת עוֹלָמוֹ, לֹא הָיָה אָדָם שֶׁקְּרָאוֹ לְהַקָּדוֹשׁ בָּרוּךְ הוּא ״צְבָאוֹת״, עַד שֶׁבָּאתָה חַנָּה וּקְרָאַתּוּ ״צְבָאוֹת״ sie war die erste, die Gott „Gott der Heerscharen“ nannte. (Berachoth 31 b.) Kein anderer Gottesname ist aber so geeignet, dem Betenden die ganze Berechtigung und Bedeutung des Gebetes und den ganzen Standpunkt klarzumachen, auf welchem der Sterbliche zu beten und Erhörung zu erhoffen vermag, als eben dieser zuerst von Channa, der jüdischen Mutter, ausgesprochene Name Gottes.

Indem wir Gott צְבָאוֹת nennen, ist er uns nicht mehr der hoch über die Mächte der Welt hinausthronende heidnische Gott der Götter, und er ist uns auch nicht die blinde, in die Welt aufgehende Ursache aller Ursachen und der Weltgeist des Philosophems[18]. Indem wir Gott צְבָאוֹת nennen, ist uns Gott persönlicher Herr und Meister, Führer und Leiter, Befehler und Beorderer der Welt.

Und diese Welt steht ihm nicht mehr als ein Kosmos, als ein in sich unwandelbar geschlossenes Ganzes gegenüber; sie ist vielmehr mit allen ihren Mannigfaltigkeiten, Besonderheiten und Gegensätzen: צְבָאוֹת, ein Heer tausendfältiger Scharen, jedes in ihr von Ihm beordert, von Ihm an seinen Platz gewiesen und von Ihm für seinen Platz versorgt und ausgestattet, jedes in ihr von Ihm befehligt und in Seinem Dienste stehend und wirkend. Der Plan des Ganzen ruht in Seinen Händen und jedes hat seine Bedeutung ganz erfüllt, so es auf dem angewiesenen Posten mit Treue ausgeharrt und mit Hingebung den aufgetragenen Dienst, seine Pflicht, voll gelöst.

Da fehlt dann nur, dass du auch dich als Dienstmann in diesem großen Gottesheer begreifst und auch deinen Platz als den von Gott in seinem Dienst und für seinen Dienst dir angewiesenen Posten beherzigst, um sofort dich und alle deine großen und kleinen Anliegen, wie winzig sie auch dem blöden Auge erscheinen mögen, zu würdigen und zu achten, hoch und würdig zu achten von Gott erschaut, von Gott erwogen, von Gott beachtet und versorgt zu werden; mit Channa als „Diener“ und „Dienerin“ im großen Heeresdienst deinem Herrn und Meister dich zu nahen und für deinen Dienst von Ihm Kraft und Mittel zu erflehen. „Gott צְבָאוֹת“, sprach Channa, „wenn du auf die Armut Deiner Dienerin schauen wirst, und wirst meiner gedenken und wirst Deiner Dienerin nicht vergessen und wirst Deiner Dienerin einen Männer-Sprössling geben, so habe ich ihn hiermit Gott geweiht alle Tage seines Lebens und kein Messer soll sein Haupthaar berühren.“ Hast du mir nicht auch einen Posten in dem großen Heer deiner Diener angewiesen, mich nicht auch zum großen Mutterdienst berufen, hast du mir nicht auch die Mutterbrust gebildet? Gib mir den Säugling für die Mutterbrust — דַּדִּים הַלָּלוּ שֶׁנָּתַתָּ עַל לִבִּי לָמָּה? לֹא לְהָנִיק בָּהֶן?! תֵּן לִי בֵּן, וְאָנִיק בָּהֶן (Berachoth das.) —, ich will ihn ja nicht mir, ich will ihn Dir nähren und pflegen und erziehen. Lasse mich meine Aufgabe lösen, für die du mich erschaffen, — das ist die einzige Formel eines Gebetes, die immer Erhörung erhoffen darf.

Nicht als Geschöpfe des Schöpfers, als Diener und Dienerinnen im großen Dienstheere Gottes lehrt uns Channa wünschen und beten und mit unsern Wünschen betend zu Gott, unserm Dienstherrn, uns nahen. Dann wird שֶׁאָלָתֵנוּ, unsere Bitte, nur שָׁלַתְנוּ, nur das erzielen, was uns wahrhaft fehlt (שלל, wie: [19] שֹׁל תָּשֹׁלּוּ לָהּ Ruth, Kap. 2. V. 16.) und was wahrhaft zu unserer Ergänzung (שלה, שלו) gehört, und es darf dann auch zu uns gesprochen werden: לְכִי לְשָׁלוֹם וֵאלֹקֵי יִשְׂרָאֵל יִתֵּן אֶת שֵׁלָתֵךְ אֲשֶׁר שָׁאַלְתְּ מֵעִמּוֹ „Gehe in Frieden, Israels Gott wird deine Bitte gewähren, die du von ihm erbeten.“ (Sam. I. Kap. 1. V. 17.)

So lehrt uns die weibliche Gruppe am Rosch Haschana hoffen und harren, Mut und die Weihe und Kraft des Gebets; lehrt uns, uns selbst und unsere kleinen und großen Familien-Sorgen und häuslichen Anliegen als nächstes Augenmerk der göttlichen Allmacht und Liebe begreifen und mit den persönlichsten Beziehungen unseres Einzeldaseins uns unsere Stelle im großen Gottes-Haushalt finden.

Beten aber, mit dem Gemüt und Geist Gott nahe sein, im Gemüt und Geist sich zu Gott erheben, mit reinem Gemüt und Geist von Gott wünschen und von Gott empfangen, ist nur die eine, die weibliche Seite unserer Lebens-Entfaltung. Die zweite Seite heißt: Gehorsam, heißt die treue Stärke der Vollbringung, der reine Mut der Gottestat, die Unterordnung der eigenen Einsicht unter Gottes Einsicht, die selbstbeherrschende Erfüllung der von Gott angewiesenen Pflicht, die opfervolle Hingebung an den göttlichen Willen. Und gehorchen lehrt uns

2.

die männliche Gruppe am Rosch Haschana: Abraham und Jizchak.

Schaut auf Abraham und Isaak hin, ihr alle, die ihr den, Söhnen und Töchtern Abrahams diese zweite, höchste Seite ihrer Lebensvollendung zu entwinden trachtet, die ihr sie lehrt: Gott fürchten heiße beten, und Gott gehorchen heiße der eigenen Einsicht genügen; die ihr euer Volk von der Schmach der alten Väter-Einfalt befreien wollt, welche נַעֲשֶׂה, den Entschluss zur Tat, dem [20] נִשְּׁמָע, dem Verständnis der göttlichen Gebote vorangehen ließen und zur Erfüllung bereit waren, bevor sie noch die Aussprüche des göttlichen Willens vernommen. Schaut auf die Moria-Höhe hin und auf die Opfertat, die dort zu ewigem Muster leuchtet, die uns lehrt, was es hieße [21] יִרָא אֱלֹקִים zu sein und was Gott nennt: [22] אֲשֶׁר שָׁמַעְתָּ בְּקוֹלִי, seiner Stimme gehorchen!

(1. B. M. K. 21.), nach der endlichen Krönung eines ganzen hundertjährigen prüfungsreichen Lebens, das endlich im Jizchak sein Ziel und seinen Abschuss und seine bis in die Zukunft der Menschheit reichende Vollendung erhalten, [23] אַחַר הַדְּבָרִים הָאֵלֶּה , nachdem im Jizchak Abrahams Leben und Streben die einzige Frucht und die Gottesverheißung die einzige Wurzel gefunden,   וְהָאֱלֹקִים נִסָּה אֶת [24]אַבְרָהָם  hub Gott Abraham prüfend empor, richtete er ihn zum [25] נֵס auf, zum hohen, weithin leuchtenden Wahrzeichen, und sprach zu ihm: „Abraham! und Abraham sprach: „הִנֵּנִי!, Hier bin ich!“ Und dieses: הִנֵּנִי!, dieses Bereitsein zu jeglichem Opfer und jeglicher Tat, so Gott sie fordert, dieses im vor-aus Bereitsein zur Erfüllung einer jeden Anforderung des göttlichen Willens, diese Bereitwilligkeit, die nur auf den Gottes-Ausspruch wartet, um ihn zu erfüllen, ohne das Gebot zuvor der Kritik der eigenen Einsicht und Ansicht und des eigenen Beliebens zu unterziehen, dieser Gehorsam, mit welchem der Sterbliche in den Chor der Gott dienenden unsterblichen Engel sich emporhebt, die גִּבֹּרֵי כֹחַ עֹשֵׂי דְבָרוֹ לִשְׁמֹעַ בְּקוֹל דְּבָרוֹ (Psalm 103, V. 20.), die kraftgerüstet sein Wort vollstrecken, um dem Geheiß seines Wortes zu gehorchen, dieses הִנֵּנִי!, ward das ganze Vermächtnis, in welchem Abraham seinem Haus seinen Geist und seine Gesinnung vererbte. Und nur wer zu der Höhe dieses „הִנֵּנִי!“ , emporzustreben bemüht ist, mag sich Sohn Abrahams nennen und Tochter.

Und es war kein leichtes Gebot, das die Gottesprüfung dem Abraham setzte. „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst“, der dir so teuer ist; „nimm Jizchak“, der mir so teuer ist, an den ich meine ganze Verheißung geknüpft, [26] כִּי בְיִצְחָק יִקָּרֵא לְךָ זָרַע — nimm ihn „und gehe zum Lande Moria“, zur einstigen Stätte der „Lehre“ und „opfere ihn dort auf einem Berge, den ich dir sagen werde“! Und Abraham erhob sich früh und sattelte das Tier und nahm seine beiden Leute mit sich, und seinen Sohn Jizchak und spaltete Opferholz und machte sich auf und wanderte zu dem ihm von Gott bezeichneten Ort. Und er hatte drei Tage zu wandern, hatte wohl Zeit das Tiefschreckliche der Ausführung dieses Gebotes durchzufühlen, hatte wohl Zeit das Unbegreifliche eines solchen Gebotes durchzudenken; aber weder das Unbegreifliche des Gebotes, noch das Schmerzlichharte der Ausführung ließ ihn einen Augenblick zaudern, das Gebot seines Gottes zu erfüllen.

Er sieht am dritten Tage den zur Opferung bestimmten Ort, lässt seine Leute zurück, legt Jizchak, seinem Sohn, dem Jüngling, das Opferholz auf, nimmt das Feuer und das Schlachtmesser und sie gingen beide zusammen,[27]   וְיֵלְכוּ שְׁנֵיהֶם יַחְדָּיו — Und obgleich Jizchak das Opfer ahnt, das unter diesem Messer bluten, das auf diesem Feuer dampfen soll, dennoch gingen sie beide zusammen, der Vater  und der Sohn, der Greis und der Jüngling, beide zusammen, jener zu opfern, dieser geopfert zu werden, beide zusammen, den Willen ihres Herrn und Meisters zu erfüllen!?

Wo sind die Zeiten hin, wo also der Vater und der Sohn, der Greis und der Jüngling, das alte und das junge Geschlecht zusammen wandelten, die Gebote ihres Gottes zu vollbringen! Wo sind die Zeiten hin, wo es nur einen Weg gab zur Moria-Höhe der Gottesverherrlichung für den Vater und den Sohn, für den Greis und den Jüngling, für das alte und das junge Geschlecht! Wo sind die Zeiten hin, wo der Sohn keinen Zweifel setzte in das ihm durch den Vater überkommene Gottesgebot, der Jüngling von dem Greis, das junge Geschlecht aus den Händen des alten das Gottesgebot hinnahm und bereit war, für die väterliche Überlieferung zu leben, für die väterliche Überlieferung zu sterben, sich hinzuopfern, in den Tod zu gehen, um dem Gebot Gottes zu genügen, das ihm die väterliche Überlieferung als göttlichen Willen gebracht!

Diese Zeiten waren. Jahrtausende lang hat diese Mustertat von Moria, von der Stätte der Horaah, der Stätte der Gotteslehre herab alle jüdischen Geschlechter hindurch geleuchtet, und hat die Väter und die Söhne, die Greise und die Jünglinge, das scheidende und das kommende Geschlecht zur gleichen Treue für die Moria-Thora begeistert. Und ob diese Thora die herbsten Opfer verlangte, ob auch Zeiten gekommen waren, in denen nicht die Heiterkeit und die Freude, die sie verhieß, in denen vielmehr der Schmerz und der Jammer aus ihrer Erfüllung zu keimen schien, in denen der Vater seinen Sohn hinzuopfern schien, da er ihn für diese Thora erzog und der Sohn sich hinzuopfern schien, da er die Thora aus des Vaters Händen empfing, ja, obgleich auch Zeiten gekommen waren, in welchen der Feuertod und die Marter, der Scheiterhaufen und der Dolch denen sicher waren, die diese Thora erfüllten —: dennoch bedachten sich die Väter und die Söhne nicht, das alte und das junge Geschlecht schauten zur „Akeda“, zur Moriahöhe, zu Abraham und Jizchak empor. Und es freute sich der Vater, Abraham gleich zu opfern, und es freute sich der Sohn, Jizchak gleich geopfert zu werden, und Abraham und Jizchak begeisterten das alte und das junge Geschlecht, zu leben und zu sterben für Gottes Gebot.

Sie gingen beide zusammen —

Wenn daher am Rosch Haschana unser Herr und Meister, unser Zeuge und Richter, unser Vater und Erlöser, wenn Gott uns am Rosch Haschana mit dem Schofar ruft, lässt die tief sinnige Weise der Väter diesen Ruf an uns am liebsten mit dem [28] שׁוֹפָר שֶׁל אַיִל erheben, auf dass jene Akeda uns in die Seele trete, auf dass, Abraham und Jizchak gleich, jung und alt diesem Gottesruf mit der Erwiderung begegnen:“ הִנֵּנִי!“, wir sind bereit zu leben und zu sterben nach deinem Gebote, — wir wollen nicht nur beten wie Channa, wir wollen auch opfern und geopfert werden wie Abraham und Jizchak — du rufst uns — [29] „הִנֵּנוּ“ — wir sind bereit!


[1] Numeri 29:1

[2] Levitikus 23:24

[3] Siehe hierzu auch die Mussaf-Schmone-Esre von Rosch Hashana

[4] Das sind die 10 Bußtage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur

[5] Aus den Unetakef – Gebet

[6] … am Neujahrsfest wurden Sara, Rachel und Channa bedacht … (Sie waren kinderlos)

[7] kreißen=schreien, kreischen; man denke auch an Kreißsaal

[8] Genesis 21:6

[9] Der im Himmel sitzt, lächelt, mein Herr spottet ihrer (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[10] Ismael

[11] lustig

[12] Genesis 21:13; „Und auch den Sohn der Magd werde ich zu einem Volke machen, denn er ist dein Same.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[13] In Genesis mehrfach vorkommender Name eines Brunnens בַּאֵר לַחַי רֹאִי

[14] Genesis 21:18; „Erhebe dich, nimm den Knaben auf und kräftige deine Hand an ihm, denn zu einem großen Volke werde ich ihn machen.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[15] Berachot 31a:27

[16] 1. Samuel 1:11; „Sie sprach ein Gelübde aus …“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[17] … und Schmuel unter den Verkündern Seines Namens…(Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[18] philosophische Lehrmeinung

[19] Auch aus den Bunden (Garben) spendet ihr,…

[20] נַעֲשֶׂה ונִשְּׁמָה siehe Exodus 24:7; „was Gott gesprochen, wollen wir tun und hören.“(Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[21] Gottesfürchtig

[22] Genesis 22:18; “…. dass du meiner Stimme gehorcht hast.“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[23] Genesis 22:1; nach diesen Ereignissen

[24] W.v.: hat Gott Abraham geprüft

[25] Banner, Zeichen

[26] Genesis 21:12; “denn von Isaak sollen die stammen, die deine Nachkommen genannt werden.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[27] Genesis 22:8

[28] Das Schofar des Widderhorn

[29] Hier sind wir

  • Beitrags-Kategorie:Monatsblatt