In der Monatsausgabe für den Monat Kislew der Zeitschrift „Jeschurun“ des Jahres 1857 befasst sich Herr Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l mit der Frage, ob wir, die wenigen orthodoxen Juden, die ja innerhalb der Judenheit nur eine Minderheit darstellen, überhaupt eine Daseinsberechtigung haben. Nach orthodoxer Auffassung hat sich die Minderheit der Mehrheit zu beugen.

An der Länge dieses Artikel allein schon ist zu erkennen, dass es sich mit der Beantwortung dieser Frage Rabbiner Hirsch nicht einfach gemacht hat. Der betrachtet das Thema aus sehr vielen Blickrichtungen.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932853

Die Minorität.

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 —Ihr seid die Minorität —

[1] אַתֶּם הַמְּעַט

„Ihr seid die Minorität!“ hören wir nicht selten uns entgegenhalten, „Ihr seid die Minorität!“ — Ob wir es wirklich sind, ob in der großen Gemeinde der allzerstreuten jüdischen Gesamtheit die Bekenner des alten jüdischen Gesetzes in der Tat heutzutage die Minderzahl bilden, wir wissen es nicht, wir glauben es nicht einmal. Da man uns jedoch dafür hält — und in gewissen, bestimmten Kreisen sind wir ja unleugbar die Minorität, — da man unsere Sache damit in den Augen unserer jüngeren Zeitgenossen zu diskreditieren strebt, — hält sich doch der Gedankenlose am meisten geborgen, wenn er dem breitgetretenen Geleise der Menge folgt, — und da wir endlich, wie bemerkt, in bestimmten, einzelnen Kreisen unleugbar die Minderzahl bilden — so ist ja wohl Veranlassung genug, darauf einzugehen und einmal ernst und ruhig unsere Lage und unsere Aufgabe von dem Standpunkt einer Minorität aus zu würdigen, und zu ermitteln, wie viel Wohl oder Wehe, wie viel Niederschlagendes oder Ermutigendes in dem Bewusstsein liege: zur Minorität zu gehören, vor allem aber sodann uns klar zu machen, welche Gefahren wir zu vermeiden, welche Pflichten wir zu erfüllen haben, wenn wir denn von der Gegenwart irgendwo und irgendeinmal auf den Standpunkt einer Minorität uns zurückgedrängt erblicken. Bringt uns doch ohnedies dieser Monat das Makkabäerfest des Sieges der מְעַטִּים über die רַבִּים [2], der Minorität über die Majorität, weil es  טְהוֹרִיםgegenטְמֵאִים  [3] waren, weil es der Sache der Gesetzestreue gegen den Abfall galt, und kann keine Stimmung geeigneter sein, die Vorteile, Gefahren und die eigentümliche Aufgabe einer Minorität in dem rechten Licht zu betrachten, als eben die, die der Geist eines solchen Erinnerungsfestes über uns verbreitet.

1.

Wir sind also die Minorität; wohl! Sollen wir darum unserer eigenen Sache misstrauen, an unserer eigenen Sache verzweifeln? Lasst uns sehen! Sind es die quantitativ größeren Massen, denen wir überall die edleren, wichtigeren, zukunftsreicheren Zwecke und Tätigkeiten überantwortet sehen? Ist es vorzugsweise das Unedlere, Bedeutungslosere, das der Verkümmerung und dem Vergehen Anheimfallende, für welches wir das massenhaft Geringere überall als Träger und Werkzeug erblicken? Und waren es die Majoritäten oder Minoritäten, die uns die Geschichte unserer Vergangenheit als die jedesmaligen Retter unserer Zukunft verkündet?

Welch eine verschwindende Größe ist die Masse der Knospen, der Blüten, des Samens, des Samenstaubes gegen die Masse der Zweige, der Äste und des Stammes; und wo haben wir die Zukunft des Baumes, wo die edleren, weiterreichenden, zweckschaffenden, zukunftbauenden Tätigkeiten zu suchen, im massigen Stamm, oder im Kreis der stoffarmen, schwachen, kleinen, zarten Blüte und ihrer verduftenden Genossen?

Welche Majoritäten und Minoritäten erscheinen uns im Wunderbau des menschlichen Organismus! Welche Majoritäten und Minoritäten, wenn wir die Träger des Empfindens, Wahrnehmens, Denkens, Wollens, Bewegens, Lebens, der Masse des übrigen Leibes gegenüber messen und wägen — etwa wie 7 zu 1 steht die Masse des Fleisch- und Knochenleibes zur Masse des Bluts, wie 30 zu 1 zur Masse des Gehirns, wie 200 zu 1 zur Masse des Herzens, und nun gar zur Masse eines einzelnen, das Hören, das Sehen bedingenden Nerven — hat der Schöpfer des Menschenorganismus Majoritäten oder Minoritäten zu Trägern des Lichtes und des Lebens bestellt, zu Werkzeugen der Erkenntnis und der Empfindung, zu Wahrern und Bildnern jedes göttlichen Gedankens und jeder Gott nachstrebenden Regung berufen, hat er Majoritäten oder Minoritäten die Wartung und Pflege, die Verwirklichung und Vollendung des Höchsten im Menschen anvertraut —?

Und nun gar die Geschichte! Unsere Geschichte! Mit welcher Minorität beginnt unsere Geschichte! Welch eine Minorität unter allen Minoritäten hatte sich der Hort Israels und der Menschheit herausgegriffen und auf sie, auf diese kleinste, winzigste aller Minoritäten, Israels und der Menschheit ganze Heilszukunft gelegt! Die Gesamtmenschheit und — Abram: Da habt ihr eine Majorität und Minorität! „Abram der Ibri“ — [4]  כָּל הָעוֹלָם כֻּלּוֹ מֵעֵבֶר אֶחָד וְהוּא מֵעֵבֶר אֶחָד, wie R. Jehuda dieses Epitheton[5] deutet — Die ganze Welt auf der einen Seite, die ganze Welt auf der Seite polytheistischer Lüge und Entartung, und er allein auf der andern, er allein auf der Seite der Wahrheit und Reinheit bei seinem Gott! — und nach einem solchen Anfang wollt ihr von Majorität und Minorität im Judentum reden?

Und nun weiter nach Abraham, in welch kleine Kreise blieb Geschlechter hinab die Erkenntnis des Wahren und Guten geflüchtet (verborgen) , mit welchen kleinen Minoritäten muss sich noch Jahrhunderte hindurch die Wahrheit begnügen, deren endliche (eigentliche) Bestimmung der Bereich der Gesamtmenschheit ist und die, wie sie mit der kleinsten aller kleinen Minoritäten, mit der Überzeugung eines einzigen Mannes begonnen, ihr Ziel nicht erreicht hat, so lang sie nicht die größte aller großen Majoritäten, solange sie nicht das Herz aller Menschen für sich gewonnen![6] Jahrhunderte hindurch sieht sie sich noch nur von einem einzelnen Haus, von einer einzelnen Familie — Isaak, Jakob — gekannt, anerkannt und vertreten, und als diese Bekenner der härtesten Probe in dem Schmelzofen der Knechtschaft, des Drucks und der Verhöhnung hingegeben werden sollten, zählte ihre Minorität nicht mehr als 70 Seelen! Ja, so sehr, scheint es fast, soll die Geschichte des Reichs der göttlichen Wahrheit auf Erden es von vornherein an der Stirn tragen, dass sie des materiellen Übergewichtes der Massen nicht bedarf, dass sie selbst innerhalb ihrer kleinen Minorität die materiell bevorzugten Persönlichkeiten — die Ältesten, Erstgeborenen — übergeht und ihre Träger, Vertreter und Verfechter in den Jüngeren, Nachgeborenen findet. Nicht Ismael: Isaak, nicht Esau: Jaakob wird Fortträger des göttlichen Bundes. Nicht Reubens, des Erstgeborenen, Josefs des Jüngeren, Scheitel schmückt der Kranz des göttlichen Wohlgefallens. Selbst Moses war der Jüngste unter den von Gottes Geist berührten Geschwistern, und David — „der Kleine“, Jüngste, Letzte unter den kraftstrotzenden Söhnen Ishais!

אַתֶּם הַמְּעַט, ihr seid die Minorität, sprach Gott zu Israel, als er es als sein Volk in den Kreis der Völker einführte und auch in Israel waren es meist nur Minoritäten, die seine Sache in Israel und Israel für seine Sache retteten. Moses mit seinen Leviten beim goldenen Kalb, Josua und Kaleb bei den Kundschaftern, Pinchas mit seinem Feuereifer, die Richter und Retter alle, die Gott seinem Volk in Zeiten des Verfalls weckte, Jerubbaal[7], der seines Vaters Baals-Altar umstürzte und dann mit den 300 Nichtknienden Israels Rettung vollbrachte, Obadja[8], Achabs[9] Haushofmeister, der an Isabels Hof der Gottes-Sache lebte und der Propheten des Herrn Retter ward, Elijahu[10] am Karmel, Elischa[11] und die Dreitausend, deren Knie sich nicht dem Baal gebeugt und deren Mund nicht den Baal geküsst, alle Propheten, alle die Männer, die Gott „mit der Macht seines Geistes erfasste und sie zurückhielt, nicht in dem Weg der Masse zu gehen und zu ihnen sprach: Nennet nicht Verrat, was dieses Volk Verrat nennt, und was es fürchtet, fürchtet nicht und haltet nicht für stark! ה‘ צְבָאוֹת Den heiliget, Er sei, was ihr fürchtet, Er, was euch Kraft und Stärke gibt!“, sie alle und Esra und Nechemia[12] und die Männer der großen Versammlung, die „der Gottes-Erkenntnis und der Gesetz-Verehrung die alte Krone wieder verschafften“, und Matisjahu[13] und sein Haus, die ihr Volk vor dem Untergehen ins hellenische Unwesen retteten, — was waren sie anders, als kleine, winzige Minoritäten, die den Mut hatten, der großen, bedeutenden Volksmajorität gegenüber Opposition zu machen und, Gott und der Wahrheit ihrer Sache vertrauend, in der Zuversicht lebten und starben, für diese Majoritäten selber, jedenfalls aber für deren Nachkommen die heilige Gottessache durch ihre Treue und Festigkeit siegreich hinüber zu retten?

Und für die Gegenwart, für die fernere Zukunft? Schlagt doch die Bücher der Propheten auf, sind es Majoritäten, auf die sie für die fernen und fernsten Zeiten die Hoffnungen ihres Volkes die Siegeszuversicht ihrer Gottessache bauen?

„Ein armes und erschöpftes Volk lasse ich in dir übrig, die werden ihre Zuversicht setzen in den Namen: Gott! Israels Rest wird kein Unrecht üben, und keine Täuschung reden, in ihrem Munde wird sich keine Sprache des Truges finden, denn sie, sie werden weiden und ruhen und keiner stört.“

(Zephanja.)

„Ihr sagt, Torheit ist’s, Gott zu dienen, was kommt dabei heraus, wenn wir sein Gebot beachten und wenn wir trüb und ernst in Angst vor Gott wandeln, die Mutwilligen preisen wir glücklich, usw. Da sprachen sich Gottesfürchtige einer gegen den andern aus und Gott merkte auf und hört und es wird ins Gedächtnisbuch vor ihm verzeichnet, für die Gottesfürchtigen und Denker seines Namens. Und das werden die Meinen für die Zeit, da ich mir einen Kern bilde usw.“

(Maleachi.)

— — — — — Die Schweinefleisch essen und verworfener Speisen Brühe in ihren Geräten haben und dabei sprechen: bleibe für dich, komme mir nicht nahe, denn ich bin heiliger als du, die sind Dampf in meinem Zorne, loderndes Feuer jeden Tag! — — — Wie man Most in der Traube findet und spricht: vernichte sie nicht, es ist noch Segen daran, so tue ich auch um meiner Diener willen, um nicht alles zu verderben, und entwickle noch aus Jaakob eine Saat und aus Jehuda einen Erben meiner Berge, meine Erwählten werden es erben und meine Diener dort wohnen — — — Ihr aber, die ihr Gott verlasset, meines heiligen Berges vergesset, die ihr dem Glücke den Tisch decket und der Bestimmung Trankopfer füllet, Euch usw. —  — — Höret das Wort Gottes, die ihr ängstlich seinem Worte zustrebet! Eure Brüder, die euch hassen und verachten, sagen freilich: „wegen meines Ansehens wird Gott geehrt!“ In eurer Freude wird Er sich zeigen und sie werden beschämt. Hört ihr die Stimme des Aufruhrs aus der Stadt, die Stimme aus dem Tempel? Es ist Gottes Stimme, der seinen Feinden Vergeltung lohnt usw. Wie ein Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch und in Jeruschalaim findet ihr Trost. Ihr sehet es, und es geht euch euer Herz auf usw. Denn siehe, in Feuer kommet Gott und wie Sturm seine Gespanne usw. usw. Die sich eine Heiligkeit, eine Reinheit erträumen, den Lustgefilden nach, der weiblichen, abhängigen zwischen Gott und Menschen gestellten (Welt=) Einheit nach, Schweinefleisch essend, Wurm und Nagetier, sie nehmen zusammen ein Ende, spricht Gott usw. — — — Meinen Leib gab ich den Schlägern, meine Wange den Raufern, hab‘ mein Angesicht nicht vor Schimpf und Speichel geborgen, und Gott, wird mir beistehen, darum scheute ich mich nicht, darum machte ich kieselfest mein Angesicht, wusste ich doch, ich würde nicht zu Schanden usw. usw. Wer darum unter euch, der gottesfürchtig und seines Dieners Stimme gehorsam, im Dunkel wandelt und ihm kein Lichtstrahl leuchtet, er vertraue auf den Namen: „Gott“, und stütze sich auf seinen Gott usw. usw. Schauet hin auf den Fels, aus dem ihr gehauen, und auf den Bornhammer, mit dem ihr gegraben, schauet auf Abraham hin, euren Vater, auf Sara, die euch gebären sollte: es war eben nur ein Einziger, den ich berief, auf dass Ich ihn segnen, Ich ihn wollte viel lassen werden! — — — Nur ein Rest wird zurückkehren, ein Rest Jaakobs zum allmächtigen Gott, — — — Noch ist ein Gott geweihtes Zehnt darin, werde es auch wieder und wieder der Vernichtung wie Eiche und Buche, die wie Blätter-Abwurf den Stamm doch bewahren, so bleibt Heiligtumssaat sein Stamm! (Jesaias) — — Einen aus der Stadt und zwei aus der Familie nehme ich euch und bringe euch nach Zion, und gebe euch Hirten nach meinem Herzen, die weiden euch mit Erkenntnis und Verstand!

(Jeremias) — — — —

— — und die jüdische Sache, die Sache des jüdischen Gottesgesetzes wäre verloren, wenn nur noch eine Minorität ihm ihre Treue bewährte, es dürfte der letzte, vereinzelteste Jude verzweifeln und nicht auf Abraham hinschauen, der auch nur Einer war, als Gott ihn rief, auf Moses nicht, auf dessen Treue allein zuletzt Gott noch seinem Gesetz wieder das Volk der Verheißung erbauen wollte? Das Gottes-Gesetz zählt seine Anhänger nicht!

Nicht? Lehrt denn nicht eben dieses Gottes-Gesetz: [14]  אַחֲרֵי רַבִּים לְהַטּוֹת, „Entscheide nach der Mehrzahl!“ heiligt es nicht eben diesen Grundsatz des Majoritäts-Ausschlages als das wichtigste, unerschütterliche Prinzip des ganzen von ihm errichteten Gebäudes! Müssen wir nicht der Mehrheit folgen? Ist nicht [15] יָחִיד וְרַבִּים הֲלָכָה כְּרַבִּים schwindet nicht die Einzel-Ansicht in die Ansicht der Mehrheit und verdankt nicht eben diesem Prinzip das Judentum seine Einheit und Festigkeit, seine Reinheit und Dauer? Und würde nicht eine solche Minorität wie eben diese in demselben Moment den ersten Grundsatz des Gesetzes brechen, für dessen Unverletzlichkeit sie der Majorität gegenüber in die Schranken träte?

Gemach, gemach! Freilich lehrt dieses Gesetz: אַחֲרֵי רַבִּים לְהַטּוֹת; aber unmittelbar zuvor warnt es: [16] לֹא תִהְיֶה אַחֲרֵי רַבִּים לְרָעֹת „folge nicht der Majorität zum Bösen!“ und hat eben damit jenem Majoritätsprinzip die Grenze gezogen, über welche hinaus es aus einem Grundsatz des Heiles sich zu einem Prinzip des Bösen umwandelt und statt eines Werkzeugs der Erhaltung als ein Mittel der Zerstörung und des trostlosesten Untergangs sich darbieten würde. Ja wohl hat die Minorität der Majorität sich zu fügen. Wann? Wenn beide, Majorität und Minorität auf gleichem Boden der Gesetzlichkeit stehen, wenn beide mit gleich hingebender Treue das göttliche Gesetz als die einzige geltende Norm über sich anerkennen, wenn [17] אֵלּוּ וָאֵלּוּ דִּבְרֵי אֱלֹקִים חַיִּים, wenn es sich innerhalb des Gesetzes um Entscheidung aus dem Mund eines Tribunals, dessen Glieder durch Kenntnis und Charakter in gleich berechtigter Kompetenz dastehen und über Fragen handelt, hinsichtlich deren eben dieses Gesetz die Majoritätsentscheidung sanktioniert. Wenn es sich aber um Sein oder Nichtsein des Gesetzes selber handelt, wenn Dinge in Frage gestellt sind, die eben innerhalb dieses Gesetzes über alle Fragen erhaben sind, wenn der Majorität der Abfall vom göttlichen Gesetz beliebt, die Minorität auf dem Boden des göttlichen Gesetzes verharrt, da heißt es: [18] אֵין חָכְמָה וְאֵן עֵצָה וְאֵן תְּבוּנָה נֶגֶד ה‘, gegen Gott gilt keine Weisheit und keine Klugheit und keine Einsicht, gegen Gottes Gesetz kein Lehrer und Priester, keine Majorität und keine Minorität, בִּמְקוֹם שֶׁיֵּשׁ חִלּוּל הַשֵּׁם אֵין חוֹלְקִים כָּבוֹד לָרֹב und קֶשֶׁר שֶׁל רְשָׁעִים אֵינוֹ מִן הַמִּנְיָן, die größte Vereinigung von Gesetzesübertretern ist eine völlig verschwindende Größe auf der Waagschale der Gewissensentscheidung.

Aber wir tun euch Unrecht, wenn wir euch vom göttlichen Gesetz Abgefallene nennen, eure Orakel lehren euch aus dem Gesetz selber die Selbstentthronung dieses Gesetzes, lehren euch unter dem Banner der Thora den am Sinai geschworenen Fahneneid brechen, — wohl, mag darüber euch und eure Orakelspender Gott richten. Uns zeigt ihr eben mit diesem eurem „Prinzip“ die tiefe Kluft, die uns voneinander trennt, zeigt uns, wie wir längst schon nicht mehr auf gleichem Boden des Gesetzes zusammenstehen, zeigt uns, wie wir längst bereits an den Punkt gekommen sind, wo wir die Stimmen nicht mehr zählen dürfen, wo uns — verzeiht, wir können nicht anders — das alte Gesetz vom Sinai zuruft: „Folgt nicht der Majorität zum Bösen!“   לֹא תִהְיֶה אַחֲרֵי רַבִּים לְרָעֹת — — —

So sehr verzweifelt stehts also wohl noch um keine Sache der Wahrheit und des Rechts, wenn sie auch zeitweilig nur eine Minorität zu ihren Trägern findet, wenigstens liegt in diesem Minoritätsverhältnis kein Grund zur Verzweiflung und am allerwenigsten dürfte so ohne weiteres eine jede Majorität zu einer jeden Minorität in jeder Sache auf ihre Mehrzahl pochend sprechen, ihr habt mit euren Überzeugungen und Ansichten kein Recht, keine Berechtigung, ihr seid die Minderzahl, ihr müsst euch fügen. Israels ganze, mehr als viereinhalbtausendjährige Geschichte ist hierfür Bürge, sie ist ja nichts, als die Geschichte der siegreichen Ausdauer einer winzigen, ohnmächtigen Minorität gegenüber der immensen Übermacht einer Majorität, die nicht weniger als die ganze übrige Gesamtmenschheit zu ihren Gliedern zählt.

2.

Allein eben die Tatsache, dass sich der Vater der Menschheit für das Kleinod seiner die Menschheit erlösenden Wahrheit eine so winzige Minorität zu Trägern erkoren, berechtigt zu der Annahme, es müsse die Sache der Wahrheit in dem Schoße einer Minorität sich in ihrer Existenz und in ihrem endlichen Sieg nicht nur nicht gefährdet sehen, vielmehr eben dort Bedingungen ihrer Pflege und Erhaltung finden, deren eine erst zum Kampf und Sieg berufene Wahrheit inmitten zahlreicher widerstrebender Elemente so sehr bedarf, die ihr aber im Schoß einer Majorität seltener und jedenfalls in geringerem Maße zu erwarten stünden. Kurz, wir glauben uns berechtigt, uns nach den günstigen Verhältnissen umzuschauen, die sich eben im Schoß einer Minorität für die sicherere Pflege der Wahrheit als vorhanden darstellen dürften, glauben uns fragen zu dürfen: was liegt in einer Minoritätsstellung Günstiges für die Sache der Wahrheit, die sie trägt?

Und da treten uns sogleich zwei der bedeutendsten Momente entgegen:

„In dem Schoße einer Minorität findet die Wahrheit immer 1) treuere Pflege und 2) reinere Träger!“

Eine siegreiche Majorität wird zuallererst ihrer eigenen Sache untreu. Sie hat gesiegt, sie ist die Mehrzahl, ihre Sache ist geborgen, sie ist ihr etwas Abgemachtes, Zurückgelegtes, — Zurückzulegendes; anderen Bestrebungen, anderen Erkenntnissen mögen fortan Geister und Gemüter sich zuwenden; die alte Wahrheit, für die so viel gekämpft, so viel gerungen, deren Steg so viel gekostet, steht nun sicher unter dem Palladium einer Majorität; von ihrer weiteren geistigen Pflege ist nichts mehr zu erwarten, sie ist über alle weitere Anfechtung erhaben, die Majorität steht ja für sie ein, und  — gibt sie eben damit selber preis. Die Majorität vergisst, dass sie ihren Sieg nur der Sache verdankt, sie wähnt, die Sache habe nur ihr, nur der Mehrzahl ihren Sieg zu verdanken, es genügt ihr, fortan die Zahl ihrer Anhänger zu erhalten, zu vermehren; der geistige Gehalt der siegreichen Wahrheit wird nicht mehr angebaut, wird vergessen; als Wortschall, als Name steht sie noch auf dem Majoritätspanier gezeichnet, geht sie noch, als äußere Erkennungsparole, von Generation zu Generation; ihr Inneres ist aber hohl oder oft von missgestalteten Larven ihres Gegenteils erfüllt; für die Geister und Gemüter ist sie verloren, — ihr Sieg hat sie begraben.

Treten wir dagegen in den Kreis einer Minorität — dort ist die Sache alles, muss sie alles sein; denn, wenn ihnen die Sache entschwände, was bliebe ihnen übrig? Nur in dem geistigen Wert ihrer Sache vermag eine Minorität den gegenwiegenden Ersatz für das zu gewinnen, was ihr an materieller Zahlengröße abgeht; nur in dem lebendigsten Bewusstsein eben dieser ihrer geistigen Bedeutung mag sie jenes Selbstgefühl sich zu erringen, das zu jeder spezifischen Fortexistenz so notwendig ist. Das Dasein der Minorität ist daher wesentlich daran geknüpft, dass sie in allen ihren Gliedern stets den ganzen geistigen Fonds der von ihr vertretenen Sache wach halte, und wie der Leib zu seinem lebendigen Dasein des Atmens bedarf, so muss die Minorität in jedem Augenblick aufs Neue sich die frische Begeisterung, den frischen Mut, die ausdauernde Kraft und die im engen und engsten Kreis sich heiter auslebende Energie des Geistes und Herzens aus dem geistigen Born ihrer Sache schöpfen. Ja eben der Gegensatz zur Majorität treibt sie von selbst dazu, immer neu sich in den geistigen Gehalt ihrer Sache zu versenken, sie immer neuer Forschung zu unterziehen, ihren Inhalt nach allen Seiten hin immer aufs Neue zu verfolgen, sie immer neu in ihren Einzelheiten, wie in ihrer Gesamtbedeutung sich zum Bewusstsein zu bringen und sich immer neue Antwort auf die alte, sie seit ihrem Auftreten notwendig begleitende Frage zu schaffen: warum denn nicht auch zur Fahne der Majorität schwören, warum denn nicht auch dorthin übertreten, wo die Zahl und die Macht und das materielle Übergewicht glänzt? Nie wird eine Minorität ihre Sache nur zu dem geistigen Standesgut weniger Eingeweihten machen wollen, ohne ihre ganze Existenz aufs Spiel zu setzen. Wie sie den geistigen Strom der Erforschung und Erkenntnis bei ihren Gliedern hemmt, gibt sie dieselben dem Absterben und dem welken Hinüberfallen in den Schoß der zu jeder Aufnahme stets bereiten Majorität haltungslos preis. Zur geistig-wachen Selbsterkenntnis muss sie ihre Glieder erziehen wenn sie die ihrigen bleiben sollen, ein jeder muss sich selbst sagen können, wofür er einsteht und wofür er duldet. Und wie den Geist, so vor allem muss sie den Mannescharakter in Jung und Alt groß zu ziehen verstehen, der nicht nur Wahres zu erkennen, sondern die erkannte Wahrheit um jeden Preis zu erkaufen und um keinen Preis des Himmels und der Erde feil zu geben bereit ist. Und wenn nun erst eine solche Minorität für ihre Sache große Opfer, langjährige Opfer gebracht, wenn sie als Märtyrertum von Vater zum Enkel sich vererbt, wenn der Sohn seines Vaters, wenn der Enkel seines Ahns nicht zu gedenken vermag, ohne zugleich jener Sache in ihrem ganzen Glanz, in ihrem ein ganzes Mannesleben ausfüllenden Wert zu gedenken, wenn diese Sache sich erst bereits auch in Wahrheit in ihrer göttlichen, obsiegenden und alles andere mit seligstem Bewusstsein ersetzenden Kraft bewährt hat, wenn sie triumphierend ihre kleine Schar zum Kampf und zum Siege durch Jahrhunderte geführt, dann — ja dann wird sie also in Fleisch und Blut, in Geist und Seele ihrer kleinen Phalanx[19] hineingelebt sein, dass sich diese von ihr wie auf geistigen Adlersflügeln fortgetragen fühlt und — die materiellen Halte und Hebel einer größeren Majoritätszahl gar nicht mehr vermisst.

Diese Folgerungen ergeben sich so natürlich aus der eigentümlichen Natur einer jeden Minoritätsstellung, dass wir uns wahrlich nicht zu wundern brauchen, sie in der ganzen historischen Erscheinung der ältesten und „hartnäckigsten“ Minorität, wir meinen in der ganzen historischen Erscheinung der Judenheit bis auf die allerneuste Zeit herab verwirklicht zu sehen. Wir sagen mit Bedacht, bis auf die allerneuste Zeit. Denn, wenn unsere Vergangenheit die glänzendsten Belege von der erhaltenden Kraft des Geistes bietet, den eine Minorität durch Forschung und Erkenntnis in allen ihren Gliedern wach zu halten weiß, so bestätigt die Erschlaffung der Gegenwart dasselbe durch den Gegensatz, indem sie zeigt, wie verloren die Minorität ist, die, der Majorität nachahmend, noch den Namen ihrer Sache auf ihre Parteifahne schreibt, aber ihre Erkenntnis und ihren Geist einem Stand überantwortet und ihrer Gesamtheit entzieht. Indem Gott zu Israel: אַתֶּם הַמְּעַט, ihr seid eine Minorität sprach, sprach er zugleich: [20] לֹא יָמוּשׁ סֵפֶר הַתּוֹרָה הַזֶּה מִפִּיךָ וגו‘, es weiche das Buch dieser Lehre nicht von deinem Munde, forsche darin Tag und Nacht, schärfe sie deinen Kindern ein und sprich davon, wenn du zu Hause sitzt und wenn du des Weges gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.[21] Wohl hatte Gott auch in Israel, in dieser Minorität, noch eine engere Minorität, einen Stamm zur noch spezielleren Pflege seiner heiligen Sache im Kreise seiner Minorität erwählt, und entzog derselben noch den letzten übrigen materiellen Boden, auf dass er von ihr sagen konnte: [22] ה‘ הוּא נַחֲלָתוֹ, „Gott ist ihr Erbteil“. Allein nicht zum Standeseigentum machte er diesem Stamm seine heilige Sache, zu Herolden, Lehrern, Predigern seines Wortes an sein Volk rüstete er sie aus, ließ Israels Geistliche und Priester die Verbreitung der „Theologie“, der theologischen Erkenntnis und Wissenschaft bis in die niedrigsten Volksschichten als ihre höchste Aufgabe erkennen, ließ es dahin kommen, dass Israels Geistliche als ihren höchsten Triumph Gott erstrebten — durch allverbreitete Lehrerkenntnis — sich überflüssig zu machen, und gewiss hätte man keiner Majorität also wie der winzigen jüdischen Minorität vertrauen können, dass in ihr „das Studium ihrer Sache“, תַּלְמוּד תּוֹרָה , das Lernen, noch mehr das Lehren der Thora, als das höchste, glänzendste, alles überragende Verdienst für alle dastehen würde, תַלְמוּד[23]  תּוֹרָה כְּנֶגֶד כֻּלָּם

3.

Ist Geist und Gemüt ihrer Bekenner in der Tat der einzige, wirkliche und wahrhaftige Lebensboden einer zum Sieg zu tragenden Wahrheit, ist das immer neue und frische Durchforschen und Durchdenken derselben die einzige, wirkliche und wahrhaftige Pflege, deren sie bedarf und deren sie fähig ist, so haben wir nach allem Obigen wohl nicht zu viel gesagt, indem wir meinten, in dem Schoß einer Minorität fände die Wahrheit immer eine treuere Pflege.

Allein siegende Erkenntnis einer Wahrheit ist nicht nur durch die geistige Hingebung ihrer Bekenner bedingt, die sittliche Reinheit ihrer Träger, insbesondere die Reinheit der Gesinnung, die zu ihrem Bekenntnis leitet und die ihre Forschung begleitet, ist ein zweites nicht minder wesentliches Moment, und auch in Betreff dieses Momentes erblicken wir die Sache der Wahrheit im Schoß einer Minorität in entschiedenem Vorteil. Sie kann im Schoß einer Minorität immer auf reinere Träger rechnen.

Freilich befinden wir uns mit der ganzen Hervorhebung dieses Moments in entschiedenem Gegensatz zu den genialen stimmführenden Leitern unserer Zeit. Freilich ist ihnen der kritische Lehrstuhl der Gelehrsamkeit so sehr etwas vom praktischen Leben abseitsliegendes, dass ihnen Charakter und Wissenschaft, Bekenntnis und Erkenntnis, praktischer Lebensgrundsatz und theoretisches Axiom, mit einem Wort Sittlichkeit und Wahrheit so sehr geschiedene Gebiete sind, dass sie wissenschaftliche Wahrheit von dem praktischen Verleugner derselben erwarten, dass sie das schmutzigste Gefäß für tauglich erachten, das reine Wasser der lebendigen Wahrheit zu wahren, und ihnen der nicht auf der Höhe der Zeit zu stehen scheint, dem die Rechtschaffenheit des Forschers nicht gleichgültig ist für die zu erwartende Richtigkeit des Ergebnisses der Forschung.

Trügt uns nicht alles, so sind sie selbst für rein theoretische Erkenntnis solcher Wahrheiten, deren Gegenstand vom praktischen sittlichen Leben durchaus fern liegt, völlig im Irrtum. Wer kann sagen, dass er Wahrheit, absolute Wahrheit gefunden! Aber Wahrheit suchen, Wahrheit wollen, Wahrheit um ihrer selbst willen wollen, um keines Vorteils willen, um keiner Ehre willen, sich dem Ergebnis der Wahrheit von vorn herein gefangen geben, mag dies Ergebnis zum Vorteil oder Nachteil, zum Ruhmeskranz oder zur Beschämung des Forschers ausfallen, mögen Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, Süßigkeit oder Bitterkeiten des Lebens sich an die Ferse des Ergebnisses knüpfen, das sind die Bedingungen, von welchem in hohem Grad die Ergebnisse einer jeden Forschung bedingt sind, und das sind Bedingungen, die zu allererst in dem sittlichen Charakter des Forschers wurzeln.

Und nun Wahrheiten, die so wenig von dem praktischen Leben getrennt sind, dass vielmehr dieses praktische Leben selbst ihr vornehmliches Objekt ist, dass in ihrem Gebiet kaum ein Ergebnis der Forschung sich herausstellen kann, das nicht mit der Erkenntnis sofort auch das praktische Bekenntnis, und meist durch opferfreudige Tat im Leben gebieterisch fordert — Wahrheiten, die eben durch das praktische Leben ihrer Bekenner zur Veranschaulichung und eben nur dadurch zur endlichen siegreichen Verbreitung gebracht werden wollen — die Erkenntnis und der Sieg solcher Wahrheiten ist vor allem nicht sowohl von der Zahl ihrer Träger, als von der Reinheit derselben bedingt, und auch für diese Bedingung ist der Schoß einer Minorität der entschieden günstigere.

Gebt einer Wahrheit eine siegreiche Majorität zur Seite, in 99 von hundert Fällen wird der Einfluss dieser Majorität ein nicht zu verschmähendes Gewicht in die Waagschale aller materiellen und mit den materiellen sich kordial[24] verbindenden Bestrebungen werfen; Glück und Fortkommen, Ehre und Ansehen, selbst literarischer Ruhm und Beifall wird meistens leichter im Gefolge der Majorität zu finden sein; die Wege des Lebens und das Urteil der Menge vermögen sich dem Einfluss einer Majorität nicht zu entziehen — sofort ist die von einer Majorität getragene Wahrheit eine reiche Braut, die ihren Freiern nicht zu verachtende Angebinde zur Mitgift beut[25] — wer will fortan die Huldigungen prüfen, die die unter ihre Fahne sich drängenden Massen ihr zujubeln, wie viel davon ihr, wie viel den Aussichten gelten, die ihr Dienst eröffnet? Es gehört nicht eben viel Märtyrertum dazu, sich zu der Ansicht einer Majorität zu bekennen.

Stellt aber die Wahrheit arm und einsam auf rauhen, unwirtsamen Fels, von dem nicht eben viele Wege zu den Gütern der Erde und zu den Ehren der Menschen gebahnt sind, — macht sie nur von Wenigen gekannt, von noch Wenigeren bekannt, von einer geringen, einflußarmen Minderzahl vertreten, deren Anerkennung und Beifall nicht eben schwer wiegt auf der Schale der öffentlichen Meinung, — macht sie zum Stich- und Witz-Blatt und ihre Bekenner zum Gelächter der triumphierenden gedankenlosen Masse, zum mitleidigen Achselzucken der tonangebenden Führer des Trosses, macht Entbehrung und Opfer, Vereinsamung und Selbstverleugnung zu ihrem Angebinde — so werden nur Wenige sich zu ihr gesellen, noch weniger bei ihr ausharren, aber diese Wenigen wird sie in Wahrheit die Ihrigen nennen können. Denn was hätten sie sonst bei ihr zu suchen?

Wer sind die Priester, die Gott an seinem Altar erwartet? Nicht die Leviten, [26] אֲשֶׁר רָחֲקוּ מֵעָלַי בִּתְעוֹת יִשְׂרָאֵל , die sich vom Volk ins Schlepptau nehmen und in die allgemeine Verirrung mit hineinreißen ließen; sondern [27] וְהַכֹּהֲנִים הַלְוִיִּם בְּנֵי צָדוֹק אֲשֶׁר שָׁמְרוּ אֶת מִשְׁמֶרֶת מִקְדָּשִׁי בִּתְעוֹת בְּנֵי יִשְׂרָאֵל מֵעָלַי, die mit echtem Levitengeist bei Gott ausharrten, wenn auch das Volk das goldene Kalb umtanzte, und als Zadokssöhne ihre Treue nicht dahin wandten, wohin das Glück und die Volksgunst sich neigten, die Wache hielten bei meinem Heiligtum als Israels Söhne von mir sich verirrten, [28] הֵמָּה יִקְרְבוּ אֵלַי לְשָׁרְתֵנִי וְעָמְדוּ לְפָנַי לְהַקְרִיב לִי חֵלֶב וָדָם נְאֻם ה‘ אֱלֹקִים!

Die erwartet Gott bei seinem Altar.

Es gibt keine größere Prüfung und Läuterung, als mit seinen Überzeugungen einsam und allein zu bleiben, und es gibt für die im Sache der Wahrheit kein größeres Glück, als von Zeit zu Zeit ihre Bekenner dieser Minoritätserwähnung auszusetzen. Solche Zeiten sind freudlos, ernst und — reinigend wie der Sturm. Entastet und vereinsamt steht die Eiche da. Kinder weinen über die Verödung. Männer wissen, was den Sturm nicht aushält, was im Sturme abfällt, ist schon ohnehin dem Stamm entfremdet, ist schon ohnehin in seinem Mark nicht mehr mit dem Mark des Stammes verwachsen, ist welk und dürr. Es fällt? Es muss ja fallen, was soll dem Stamm das dürre Reisig! Was im Sturm bleibt, ist frisch und markig, rettet die Zukunft herrlicher als je, כָּאֵלָה וְכָאַלּוֹן אֲשֶׁר בְּשַׁלֶּכֶת מַצֶּבֶת בָּם זֶרַע קֹדֶשׁ  [29]     מַצַּבְתָּהּ ! — — —

4.

Wir haben einige Lichtseiten an der Minoritätsstellung betrachtet, wollen wir uns nicht auch nach den Schattenseiten umsehen, nicht auch die Gefahren uns vergegenwärtigen, die vielleicht der Sache der Wahrheit erwachsen könnten, wenn sie sich eine Zeit lang von einer Minorität getragen und vertreten sehen würde? Irren wir nicht, so sind auch diese Gefahren ernst genug, als dass eine Minorität, die es ernst mit ihrer Sache meint, vor ihnen ihre Augen schließen und sich sorgloser Ruhe überlassen dürfte.

Heben wir nur die eine und die andere hervor, wie sie sich uns aus der Natur der Sache von selbst ergeben und von der Erfahrung der Zeiten bestätigt erscheinen.

Jede Minoritätsstellung ist eine Prüfung, und in jeder Prüfung liegt Gefahr, wenn auch nicht unmittelbar für die Sache, so doch Gefahr für ihre Träger, die aber doch wieder indirekt ihre Sache gefährdet. Einer Wahrheit, deren Bestimmung die allgemeinste Verbreitung und Anerkennung ist, kann es doch nicht ganz gleich gelten, wie viel sie Anhänger und Bekenner zählt, und noch weniger ihr gleichgültig sein, welche Begriffe und Vorstellungen sich von ihr die Kreise ihrer Nichtbekenner bilden. Sie ist doch hinsichtlich ihres äußeren Bereichs noch umso ferner vom Ziel, je beschränkter annoch[30] der Kreis ihrer Anhänger ist, und je entstellter und getrübter die Vorstellungen sind, die ihre Nichtbekenner von ihr hegen, umso geringer und ferner ist noch ihre Hoffnung, sie dereinst alle durch die ihr innewohnende Macht zu gewinnen.

Es ist nun zuerst das freilich natürliche, aber doch eigentümliche Geschick einer jeden Minorität, dass mehr als irgendwo sonst in ihr von ihren Gegnern die Sache mit den Personen durchaus verselbert[31] wird. Natürlich! Die Majorität, die, wie wir bemerkt, sich sehr bald kaum noch mit dem geistigen Inhalt ihrer eigenen Sache durchdringt, gibt sich noch viel weniger Mühe, die Sache ihrer Gegner in Wahrheit und Wirklichkeit kennen zu lernen. Sie beurteilt die Sache der Minorität nur nach der Erscheinung, in welcher sie durch deren Träger zur Anschauung gebracht wird, und ist dann in der Regel so gedankenlos ungerecht, noch dazu ein jedes einzelne, beliebige, ihr zufällig zu Gesicht kommende Glied der Minorität als Repräsentant der kleinen Gesamtheit zu betrachten. Das ist das Geschick einer jeden Minorität. Das war z. B. das Geschick der jüdischen Minorität in Mitte der großen Völkermajorität seit Jahrtausenden. Man beurteilte das Judentum nach der Judenheit und die Judenheit nach dem ersten besten Juden, der in den Wurf kam. Und obgleich wir so viel unter dieser vorurteilsvollen Gedankenlosigkeit gelitten, wiederholt sie sich doch heutzutage unter uns selber in den Parteiungen, in welche die Judenheit selber im Innern auseinandergetreten.

Wir hätten dieses eigentümliche Geschick der Minorität eigentlich zu ihren Lichtseiten zählen dürfen. Es ist ein Glück, ein nicht zu berechnendes Glück für die Sache der Wahrheit, wenn nicht nur die Gesamtheit ihrer Träger, wenn jeder Einzelne derselben der schärfsten Kritik der Gegner ausgesetzt ist, wenn jeder es fühlt, wenn es jedem zum Bewusstsein gebracht wird, dass die Ehre der Gesamtheit, ja dass die Ehre der Gesamtheitssache von der Gediegenheit und Tadellosigkeit jedes Einzelnen bedingt ist. Es ist das ein unendlicher Sporn für jeden Einzelnen, sich nicht gedankenlos gehen zu lassen, sich vor jeder Geistes- und Charakter-Verirrung zu hüten, um nicht durch seinen Einzelfehl seine Gesamtheit und ihre Sache zu gefährden. Es ist das eben die Eigentümlichkeit, die der jüdischen Minorität jene hohen Begriffe vom קִדּוּשׁ הַשֵּׁם und חִלּוּל הַשֵּׁם [32] gebracht hat, die sich an das Geistes- und Tatenleben jedes Einzelnen knüpfen, die es jedem Juden tief in die Seele geschrieben hat, dass auch nach außen כָּל יִשְׂרָאֵל עֲרֵבִים זֶה לָזֶה, jeder Jude Bürge für den anderen sei und jeder Jude nicht nur für sich, sondern um seiner Gesamtheit und ihrer Sache, um der Judenheit und des Judentums willen untadelhaft und rein dazustehen habe.

Diese Höherschätzung eines jeden Einzelnen und in Folge davon eine schärfere Kritik seiner Denk- und Handlungsweise ist ein ganz natürliches Zubehör zur Minoritätsstellung. Gehöre der Majorität an und kein Mensch wird sich um dich kümmern, du müsstest denn ganz besonders im Guten oder Schlechten hervorragen, sonst fragt dich kein Mensch deinen Katechismus ab, du bedarfst keiner Rechtfertigung für deine Denk- und Lebensweise, es versteht sich ja von selbst, dass man der Mehrzahl folge, auf der beigetretenen Heerstraße der Menge wirst du nach keinem Pass gefragt. Aber wage es einmal, wenn auch noch so still bescheiden, einen Seitenweg für dich zu wandeln, gleich hast du die Augen aller von der Heerstraße auf dich gerichtet, dein Sonderwandel erscheint einem jeden als Anmaßung, als Protest und Vorwurf gegen ihn und seine Masse, der dümmste Majoritätengassenbube fühlt sich berechtigt, dich nach deinem Pass, nach deiner Berechtigung des Alleinwandels zu fragen. „Wenn du nicht besser bist als einer von uns, wenn du deine Schwächen und Gebrechen hast, so gut wie unser einer, warum denn so stolz dich absondern?“ Diese Frage liest Du in aller Blicken. Und was das Schlimmste ist, Dinge, die nicht im Entferntesten mit dem Prinzip, mit der Sache in Verbindung stehen, die dich von der Heerstraße der Menge trennt, Eigentümlichkeiten, Zufälligkeiten, die dir wie jedem ankleben, die dir ebenso eigen wären, wenn du auch mit der Menge wandeltest, die aber dann unbemerkt und ungerügt als menschliche Muttermäler dir verziehen werden würden, kurz der ganze Habitus deines Denkens und Lebens, auch wie du dich „räusperst und wie du spuckst“, setzt man auf Kosten deines Sonderprinzips, in allem und mit allem sieht man bei der Minorität ihre Sache repräsentiert und daher kommt es wohl, dass so selten die Majorität eine gerechte Anschauung von dem Prinzip und der Sache der Minorität sich bildet, dass ihr diese Anschauung sie vielmehr größtenteils zur Karikatur gestaltet. Sollen wir wieder auf das Geschick des Judentums im Kreise der nichtjüdischen Massen seit Jahrhunderten hinweisen? Dasselbe wiederholt sich aber heutzutage unter uns, wo wir zufällig die gesetzestreuen Juden als Minderzahl einer modernen Majorität gegenübersehen. Und das ist ein Malheur. Eine Minorität darf keinen Plebs und keinen Ausschuss, ja sie darf keine Schwächen und Gebrechen haben, es soll die Reinheit und Wahrheit ihrer Sache in dem Geistes- und Tatenleben eines jeden Einzelnen ihrer Glieder zur Erscheinung kommen, und man vergisst, dass jedes Prinzip, jede Lehre, jedes Gesetz ein Ideal sei, dessen Verwirklichung auch dem Ernstesten und Besten unablässig als ein zu erstrebendes, wohl aber niemals in seiner Vollkommenheit zu erreichendes Ziel vorzuschweben habe und zu dessen Reinheit und Vollkommenheit sich das wirkliche Lebensbild auch des Besten wohl stets nur wie der gebrochene, farbige Lichtstrahl zu dem blendenden, reinen Glanz des Sonnenlichtes verhalten werde.

5.

Allein eine Minoritätsstellung hat nicht nur Gefahren für die Vertretung ihrer Sache nach außen, sie hat auch ernste Gefahren für die Pflege derselben im eigenen inneren Kreis.

Sollen wir denn nicht des Kleinmuts gedenken, der dennoch nicht selten und gerade nicht immer die schlechtesten Glieder einer Minorität beschleicht, wenn ihre Begeisterung ihnen zeigt, zu welcher weitreichenden Herrschaft über die Gemüter die Wahrheit, der sie anhängen, gelangen müsste, und sie sich auf immer kleinere und kleinste Kreise beschränkt sehen, immer weniger die Wahrheit erkannt, immer mehr die Wahrheit verleugnet, und immer größer die Majorität der Abgefallenen? Werden sie sich immer des Kleinmuts erwehren, der, wenn er auch nicht an dem endlichen Sieg seiner Sache verzweifelt, doch zuletzt Misstrauen in die eigene Kraft, in die eigene Fähigkeit und Würdigkeit sie zu vertreten erhält, jenes Misstrauen in sich selber, das unsere Weisen uns schon in dem Gemüt der Würdigsten und Besten der vereinsamten Vertreter einer Minoritätssache mit dem Zweifel enthüllten: [33] שֶׁמָּא יִגְרוֹם הַחֵטְא, jenes Misstrauen, das aber mit dem Vertrauen zu uns selbst uns zugleich der freudigen Kraft rüstiger Tätigkeit für die Sache beraubt?

Und nun jener Kleinmut, der sich so leicht der ebenso treuen aber geistig minder begabten Genossen bemeistert, denen denn doch zuletzt die Majorität mit ihrer Masse und ihrem kecken, wegwerfenden Urteil imponiert, die die Fähigkeit und Tüchtigkeit nach dem Erfolg, und den Erfolg nicht nach eigener Einsicht, sondern nach dem Beifall der Menge und der eigenen ruhmredigen[34] Verkündung der Meister beurteilen, die mit unendlichem Respekt zur Majorität und ihren Meistern und Leitern aufblicken und so leicht, wenn gleich nicht die Treue, doch den Mut und die Zuversicht in die eigene Sache verlieren.

Jener Kleinmut endlich, hinter den sich so gerne die Schwäche, die Trägheit und die Kargheit verkriecht und die sträflichste Untätigkeit mit den frommen, Gott verleugnenden Seufzern beschönigt: es nützt ja leider doch nichts, die Zeit ist nicht zu ändern und mit der Majorität nicht zu streiten — —

O, es hat die Minorität keinen größeren Feind, als diesen Kleinmut und es gehört wahrlich nicht wenig dazu, in einer kleinen Schar, den immer frischen Mut und die Zuversicht der Begeisterung und jenes unzerstörbare, heitere Pflichtgefühl wach zu halten, dem eben in dem Kampf und in Schwierigkeiten die Kraft, und da, wo andere verzweifeln, die Hoffnung und die Zuversicht wächst, das sich immer vergegenwärtigt: gerade das Schwerste hat zu geschehen, für das Schwierigste ist die Tatkraft zu üben; das Leichte, das auf der Hand liegende macht sich von selbst, — das überhaupt an den Erfolg nicht denkt, den Erfolg in Gottes Hand stellt, das, selbst im Angesicht völliger Erfolglosigkeit ungeschwächt und voll seine Pflicht erfüllen würde und mit seinem ältesten Meister spräche: הַנִּסְתָּרוֹת לָה‘ אֱלֹקֵינוּ, וְהַנִּגְלֹת לָנוּ וּלְבָנֵינוּ עַד עוֹלָם לַעֲשׂוֹת אֶת כָּל דִּבְרֵי הַתּוֹרָה הֲזֹאת! [35]

Geht aber durch Kleinmut der Minorität die Tatkraft verloren, so büßt sie, wenn auch nicht die Kraft zur Tat, so doch den Willen und den Trieb zur Tat nicht selten auch durch die entgegengesetzte Richtung ein. Wir meinen jene ungerechtfertigte Sorglosigkeit, die aus zu großem Vertrauen in ihre Sache entspringt. Je tiefer eine Minorität von der Wahrheit und Heiligkeit ihrer Sache durchdrungen ist, je ernster sie von dem endlichen Sieg derselben überzeugt ist, je mehr sie sich berechtigt glaubt, ihre Sache für Gottes Sache zu halten, je schlagender ihr auch die Erfahrung vieler Jahrhunderte zur Seite steht, wie aus den schwierigsten Lagen, über die drohendsten Gefahren und fast ohne menschliches Zutun eine gütige Allmacht ihre Sache siegreich emporgetragen, umso leichter kommt eine solche Minorität zu der sträflichen Verirrung, die Hände in den Schoß zu legen, weder mit Wort noch Tat die Sache zu verfechten, Gott, dem sie doch ohnehin das Meiste überlassen muss, nun auch alles anheim zu geben und im gläubigsten Vertrauen — ihre heiligsten Pflichten zu verabsäumen. Freilich, ist ihre Sache Gottes Sache, wird auch Gott seine Sache sowie trotz des Abfalls der Menge, so auch trotz der untätigen Schlaffheit der treuen Minderzahl retten. Aber diese schlaffe Untätigkeit bleibt darum doch nicht minder verwerflich, ist darum doch nicht minder pflichtvergessene Versündigung gegen Den, der seine Wahrheit durch Menschen gelehrt und vertreten wissen will, der nicht nur zur Vergangenheit, der zu jeder Gegenwart spricht: ״וּשְׁמַרְתֶּם אֶת מִשְׁמַרְתִּי״ — עֲשׂוּ מִשְׁמֶרֶת לְמִשְׁמַרְתִּי , „Bewacht, schützt, rettet mein euch anvertrautes Gut!“ und — [36] וּמִמִּקְדָּשִׁי תָּחֵלּוּ — der mit seinen Treuesten zuerst ins Gericht geht, wenn sie nur der eigenen Lebensreinheit gelebt und nicht bis zum letzten Ausmaß ihrer Kraft das ihrige getan, auch die Lebensreinheit der Gesamtheit zu retten —

6.

Untätigkeit hat eine Minorität zu fürchten, aber in noch höherem Grad eine aus bester Absicht fehlgeleitete Tätigkeit. Eine Minorität ist schwach und gar leicht meint der Schwache, er müsse durch — Klugheit, Gewandtheit, Diplomatie, List — ersetzen, was ihm an materieller Kraft des Masseneinflusses abgeht. Eine schwache Minorität kommt leicht in die Versuchung krumme Wege zum vermeintlichen Besten ihrer Sache zu versuchen, und vergisst, dass sie mit jedem krummen Wege selbst die Reinheit und Göttlichkeit ihrer Sache verleugnet. Ist ihre Sache rein, ist ihre Sache wahr, ist ihre Sache Gottes Sache, so bedarf sie der Krümme nicht, so verabscheut sie jede Ungeradheit, so sieht sie sich entweiht durch jede Abweichung vom Geraden und Wahren; denn sie ist die Tochter Des, der gesprochen: [37] ! כִּי תוֹעֲבַת ה‘ כָּל עֹשֵׂה אֵלֶּה כֹּל עֹשֵׂה עָוֶל Aus diplomatischer Verschlagenheit und listiger Gewandtheit blüht nirgends Heil, der Sache des Reinen und Guten am allerwenigsten. Gemeines und Schlechtes lasset klug sein, lasset schlau seine wahren Absichten verbergen und gewandt auf Umwegen eine Lücke erschleichen, in welche es das Ei seiner Zukunft niste. Göttliches und Wahres hat das Licht nicht zu scheuen, darf das Licht nicht scheuen, braucht und darf sich niemals verleugnen, braucht und darf für seine Zukunft nur das Gerade und offen Daliegende erstreben und benützen; denn wofür wäre es sonst göttlich und wahr? Wir haben oben jene Sorglosigkeit getadelt, die, im Vertrauen auf die Göttlichkeit ihrer Sache, Gott deren Zukunft ganz überlässt und untätig die Hände in den Schoß legt. Hier ist dieses sorglose Vertrauen, hier diese vertrauensvolle Ruhe an ihrer Stelle, hier Untätigkeit Tugend und Ruhe Verdienst, [38] וְהָיְתָה מְנוּחָתוֹ כָּבוֹד! An der Grenze des Redlichen und Geraden angelangt, legen wir ruhig unsere Zukunft Gott in Händen, der seine Sache nicht mit unreinen Händen gehandhabt, nicht mit unreinen Waffen vertreten wissen will. „Nur durch Pflichttreue sollst du dich begründen! Halte dich fern von Unrecht, denn du hast nichts zu fürchten, und von Bestürzung, denn die soll dir nicht nahen. Siehe, nichts weilt auch nur im flüchtigsten Dasein ohne Mich, wer neben dir weilt, fällt einst dir zu! Siehe, ich habe den Meister geschaffen, der das Kohlenfeuer anbläst und der Gerät für sein Wirken herschafft und ich habe auch den Verderber geschaffen Kreißen[39] zu fördern. Jedes Gerät, das gegen dich geschmiedet wird, wird nicht gelingen, und jede Zunge, die mit dir zu Gericht aufsteht, wirst du des Unrechts zeihen. Das ist das Los der Diener Gottes und deren Pflichttreue von mir stammt, spricht Gott!“ (Jesaias. 54:14-17)

7.

Eine eigentümliche Gefahr hat eine Minorität zu fürchten, die wir theoretische und praktische Einseitigkeit nennen möchten, eine Gefahr, die gerade umso mehr nahe liegt, je inniger eine Minderzahl ihrer Sache anhängt und je ängstlicher sie um die Erhaltung derselben besorgt ist. Wir haben uns schon gesagt, wie eine Minderzahl schon durch ihre Minoritätsstellung darauf hingewiesen ist, in allen ihren Gliedern fort und fort den Geist der von ihr vertretenen Sache wach zu halten, sich ganz in die geistige Erfassung ihrer Wahrheit zu versenken und sie zu immer vollkommenerer und verbreiteterer Erkenntnis in ihrem Kreis zu bringen. Wir haben in dieser regen, geistigen Beschäftigung mit ihrer Sache die erste Bedingung ihrer Existenz erkannt und haben dieselbe als den bedeutendsten Vorteil begrüßt, den eine Wahrheit aus der Pflege einer Minorität zu erhoffen hat. Allein eben diese geistige gänzliche Hingebung an ihre Sache führt die Minorität leicht zu einer geistigen Einseitigkeit, die sich leicht in verkümmerter Entfaltung ihres eigentümlichen Geisteslebens in eigenem Kreis, mehr aber noch in untüchtigerer, erfolgloserer Vertretung ihrer Sache nach außen rächt, und somit jedenfalls der eigenen Sache selbst zu bedeutendem Nachteil gereicht. Je reicher an Licht und Wahrheit die Sache ist, die eine Minorität vertritt, je unerschöpflicher der Born ist, der sich ihr dort für ihre geistige Tätigkeit eröffnet, und je beglückender, Geist erleuchtend, Herz erwärmend, Leben gestaltend die Erkenntnis ist, die ihr dort blüht, umso höher wird sie diese Erkenntnis schätzen — umso leichter aber auch dazu kommen, jede andere Kenntnis als entbehrlich, als völlig wertlos zu achten, ja, jede auf eine andere Erkenntnis gerichtete geistige Tätigkeit schon als eine Versündigung an ihrer Sache, als eine Schmälerung der ihr gebührenden Hingebung, als eine Beeinträchtigung ihrer Gerechtsame[40] eifersüchtig zurückzuweisen.

Sie bleibt aber bei dieser bloßen Geringschätzung anderer geistiger Bestrebungen nicht stehen. Natürlich entgeht ihr die richtige Beurteilung und wahrheitsgetreue Würdigung aller jener geistigen Gebiete, die sie nicht anbaut, deren Pflege sie aber im Kreis der ihr gegenüberstehenden Majorität mit eifriger Hingebung betrieben zusieht, und kommt bald dazu das — aus Unkenntnis — zu fürchten, was sie zuerst aus bloßer Geringschätzung vernachlässigt. Weil sie diese geistigen Gebiete nicht kennt, weil sie ihrer Pflege vorzugsweise im Kreis ihrer Gegner begegnet, und weil sich ihre Gegner derselben in dem Kampf gegen sie zu wohlfeilem, leichtem Sieg bedienen, da es so leicht ist, sich einem Gegner in einem Gebiet überlegen zu zeigen, auf welchem dieser fremd ist, und aus Grundsatz fremd bleiben will, so ist nichts natürlicher, als dass die Minorität eine innere, enge Verwandtschaft dieser geistigen Erkenntnisse mit dem oppositionellen Gegensatz der Majorität vermutet, ja in ihnen die Wurzel der von ihr beklagten Verirrung der Mehrzahl erkennen zu müssen glaubt und dahin kommt, eine jede andere geistige Bestrebung als einen Feind ihrer eigenen Sache und als eine Gefahr für die Reinheit und Treue ihrer Anhänger mit sorgenvoller Angst zu fürchten. Sie bedenkt nicht, dass, wenn sie im Besitz der Wahrheit ist, sie das Wahre in allen andern geistigen Bestrebungen nicht zu fürchten, vielmehr in aller Wahrheit, wo immer sie gefunden werde, den entschiedensten Freund zu erwarten habe. Denn alle Wahrheit ist eins. Sie sieht nicht, dass es auch nicht das Wahre, dass es eben nur das in sich Unwahre, Falsche, von dem Aberwitz der Oberflächlichkeit ausstaffierte Hohle ist, das man ihr aus andern Gebieten zum schreckenden Popanz entgegen hält, dem sie nur darum die triumphierende Larve abzureißen nicht im Stande ist, weil sie sich aus Unkenntnis, aus unbegründeter Scheu, ängstlich in der Ferne hält. Sie sieht endlich nicht, dass selbst die, ihrer inneren Wahrheit halber, ihr befreundetsten Disziplinen ein ihr so feindliches Antlitz gewonnen haben und gewinnen mussten, weil sie deren Anbau eben nur ihren Gegnern überließ, die diesen Anbau nur mit von ihren Partei-Ansichten geblendetem Auge betrieben, und dessen Ernte nur im Interesse ihrer Parteibestrebungen ausgebeutet.

Indem sie sich aber geistig isoliert, büßt sie alle jene Vorteile ein, die ihrer eigenen geistigen Entwicklung befruchtend zugutekommen würden und verkürzt selber die Anerkennung ihrer eigenen Sache, die, wie jede Wahrheit, nicht durch ängstliche Scheu, sondern durch überwältigende Meisterschaft zum Siege gebracht werden kann.

Noch trübere Folgen trägt die Gefahr in ihrem Schoß, die wir die praktische Einseitigkeit genannt. Sie kann, gottlob, bei jeder Minorität nur vereinzelt vorkommen, indem sie, in größerer Ausdehnung sofort die ganze sittliche Existenz der Minorität aufheben würde, die wir aber gleichwohl, eben ihrer Verderblichkeit halber, mit Wenigem anzudeuten uns nicht erübrigen können. Ist die Sache, welche eine Minorität vertritt, nicht rein theoretischer Natur, greift sie tief ins praktische Leben ein, fordert sie gebieterisch die Dahingabe des praktischen Lebens an die Verwirklichung ihres Prinzips, ja, gewinnt sie eben in Gestaltung und Beherrschung der verschiedensten Seiten des praktischen Lebens ihr wirkliches, wahrhaftiges Dasein, so muss in natürlicher Folge eine solche Minorität auf diese praktische Verwirklichung ihrer Grundsätze das bedeutendste Gewicht legen, ja, sie wird eben an dieser entsprechenden Lebensgestaltung die Ihrigen erkennen und erkennen müssen. Sie wird, wenn das Prinzip, das sie durchdringt, ein wahres ist, mit der ihr gegenüberstehenden Majorität in Verwirklichung alles Guten und Wahren, das sie beide gemeinschaftlich anerkennen, wetteifern, ja in ihren Triumphen auf dieser beiderseitig anerkannten Arena wird sie der Gegnerin bewundernde Huldigung auch des von dieser verleugneten Prinzipes abnötigen. Allein sie wird doch, eben weil die Majorität dieses Prinzip verleugnet, auf dessen Verwirklichung in ihrem Kreis mit doppeltem Nachdruck bestehen, ja dessen Verwirklichung entschieden in die Öffentlichkeit tragen. Hier läuft sie nun Gefahr, allmählig Glieder in ihrem Kreis sich ansammeln zu sehen, die, die Reinheit ihrer Grundsätze verkennend, die Verwirklichung dieser streitigen Grundsätze als ihre alleinige Aufgabe begreifen, das Gute, das sich der beiderseitigen Huldigung erfreut, verachten und eben nur das schätzen zu dürfen vermeinen, was nach Außen als „Partei-Abzeichen“ erscheint und worin sich eben die Anhänger der Minorität als solche bekunden. Selbst wenn diese in praktischer Einseitigkeit Befangenen es aufrichtig meinen und nur aus Unwissenheit sündigen, sind sie ihr in höchstem Grade verderblich. Weist sie nicht entschieden die Gemeinschaft mit diesen Einseitigen von sich, so läuft sie die doppelte Gefahr, im eigenen Kreis das Bewusstsein von ihrer reinen, vollen Aufgabe allmählig getrübt zu sehen, nach außen aber allen möglichen Missdeutungen und Verdächtigungen anheim zu fallen.

Wir wollten nun noch die Gefahr der Zersplitterung einerseits und des Juste-Milieu[41]-Wahns andererseits betrachten, wollten noch eine und die andere Klippe beleuchten, die eine Minorität zu fürchten, Berge, die sie zu ersteigen, Schwierigkeiten, die sie zu überwinden, Prüfungen, die sie zu bestehen hat; allein das nahende Makkabäerfest mahnt mit seiner heiteren, immer steigenden Lichtfeier, diesen ernsten Gedanken nicht allzu sehr sich hinzugeben. Es tritt in unseren Kreis, und wie ernst und gefahrdrohend auch die Zeiten für unsere „Minorität“ sich gestalten, wie drohend die Klippen, wie ernst die Prüfungen, steil die Berge scheinen und wie sehr auch, was nur immer durch Zahl- und Macht-Übergewicht imponiert, auf die andere Seite tritt und seinen Einfluss in die entgegengesetzte Schale wirft — לֹא בְחַיִל וְלֹא בְכֹחַ כִּי אִם בְּרוּחִי [42] , „Nicht durch Massen, nicht durch Gewalt, sondern durch meinen Geist!“ rief Gott einst den Führern der winzigsten Minorität zu, mit welcher er den Wiederaufbau seines in Schutt liegenden Heiligtums beginnen ließ, — לֹא בְחַיִל וְלֹא בְכֹחַ כִּי אִם בְּרוּחִי, das wiederholt uns das Prophetenwort zur Würdigung der Bedeutung unseres Makkabäerfestes dieses Siegesfestes eines Minoritätenhäufleins über eine auf Bildung, Macht, Einfluss und Anhang trotzende Majorität, — לֹא בְחַיִל וְלֹא בְכֹחַ כִּי אִם בְּרוּחִי  ruft [43] ה‘ צְבָאוֹת auch dem Häuflein seiner heutigen Treuen zu, — und wenn sie im Geiste dieses Rufes leben, im Geiste dieses Rufes sterben, was sind da die Klippen, die sie zu fürchten, die Berge, die sie zu ersteigen hätten! Vor diesem Geist werden Klippen und Berge zur Ebene! [44] מִי אַתָּה הַר הַגָּדוֹל — לְמִישׁוֹר Und gelingt es ihnen, auch nur einen, einen Stein wiederum neu zu legen; auch Serubabel[45] hatte nur einen, den ersten, den Hauptgrundstein zu legen,   וְהוֹצִיא אֶת הָאֶבֶן הָרֹאשָׁה [46] ; aber diesem einen, ersten, in solchem Geist gelegten Stein ward die Fülle der heilspendenden Gnade verheißen, [47] תְּשׁוּאוֹת חֵן חֵן לָהּ

תְּשׁוּאוֹת חֵן חֵן לָהּ!


[1] Deuteronomium 7:8

[2] Der Wenigen über die Vielen

[3] Die Reinen gegen die Unreinen

[4] Midrasch Bereschit Rabba 42

[5] Beiwort, Beiname

[6] Nach Rabbiner Hirsch ist es Aufgabe der Juden, die Menschheit zu erlösen, indem eines Tages alle Menschen den Gott der Juden auch als ihren Gott anerkennen. Siehe Schlusssatz des Alenu-Gebetes: „Der Ewige wird König sein über die ganze Erde, an jenem Tag werden Er und sein Name einzig sein.“ Sprich, von allen seinen Geschöpfen als der einzige Gott anerkannt sein.

[7] Das ist Giddeon; Richter 6:11 – 8:35

[8] Wikipedia: Obadja (hebräisch עֹבַדְיָה ‘Ovadjāh) heißt ein biblischer Prophet und seine Schrift im Tanach.

[9] Wikipedia: Ahab (אַחְאָב, „Bruder des Vaters“[1]) war von etwa 871 bis 852 v. Chr.,[2] seit dem Tod seines Vaters Omri, König des Nordreiches Israel. Ahab heiratete Isebel, die Tochter des phönizischen Königs Etbaal von Sidon, wohl aus politischen Gründen.

[10] Wikipedia: Elija oder Elia (auch Elias; hebräisch אֵלִיָּהוּ ʾĒlijjā́hû, auch אֵלִיָּה ʾĒlijjâ;) war ein biblischer Prophet, der in der Zeit der Könige Ahab und Ahasja im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts v. Chr. im Nordreich Israel gewirkt haben soll.

[11] Wkipedia: Elischa oder Elisa (auch Elisha; hebräisch אֱלִישָׁע ʾĔlîšāʿ „Gott hilft“) war ein jüdischer Prophet im Nordreich Israel. Die Geschichten über ihn sind in der Bibel im 2. Buch der Könige enthalten, verstreut zwischen 2 Kön 2 EU und 2 Kön 14 EU. Somit wirkte Elischa während der Regierungszeit von drei Königen: Joram, Jehu und seinem Sohn Joahas

[12] Esra und Nehemia haben die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft geführt

[13] Der erste Anführer der Makkabäer

[14] Exodus 23:2

[15] Jewamot 47a: bei [einem Streit zwischen] einem einzelnen und einer Mehrheit ist ja die Halakha nach der Mehrheit zu entscheiden (Übersetzung L. Goldschmidt)

[16] Exodus 23:2

[17] Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes

[18] Sprüche 21:30; keine Klugheiten keine Einsicht und keine Überlegung gilt wider den Ewigen (Übersetzung Zunz) 

[19] geschlossene Front

[20] Joschua 1:8

[21] Zitat aus dem Schema-Gebet

[22] Deuteronomium 10:9; Darum erhielt Levi keinen Teil und kein Erbe mit seinen Brüdern, Gott ist sein Erbe, wie Gott, dein Gott, ihm zugesprochen. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[23] Mischna Peah 1:1; Das Studium der Thora übertrifft alles

[24] Freundlich. Von Herzen kommend

[25] bietet

[26] Jecheskiel 44:10; die sich mir während der Verirrung Israels entfremdet haben (Übersetzung Rabbiner Dr. Joseph Breuer)

[27] Jechesliel 44:15; Dagegen die Priester, die Leviten, die Söhne Zadoks, die die Hut meines Heiligtums gehütet haben (Übersetzung Rabbiner Dr. Joseph Breuer)

[28] Jecheskiel 44:15; sie sollen mir nahen, mir zu dienen, sie sollen vor mir stehen, mir Fett und Blut näher zu bringen, spricht mein Herr, Gott, der seine Liebe in Rechtswaltung offenbart. (Übersetzung Rabbiner Dr. Joseph Breuer)

[29] Jesaja 6:13; Wenn ein Zehntel noch da bleibt — wenn [das Land] der Vernichtung nahe ist, wie jene Terebinthe und Esche [am Tor Salechet], an welcher der Stamm geblieben, so bleibt ein Stamm der heiligen Samen. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[30] immer noch

[31] verselbständigt (?)

[32] Heiligung Gottes und Blasphemie

[33] Berachot 4a; Die Sünde könnte es verursachen. (Übersetzung L. Goldschmidt)

[34] prahlerisch

[35] Deuteronomium 29:28; Das Verborgene ist Gottes, unseres Gottes; aber, was offenbar ist, das ist unser und unserer Kinder auf ewig: alle Worte dieser Lehre zu erfüllen. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[36] Shabbat 55a; und bei meinem Heiligtum fang an (Übersetzung L. Goldschmidt)

[37] Deuteronomium 25:16; Denn ein Abscheu Gottes, deines Gottes ist jeder, der solche Dinge tut, jeder, der Unrecht tut. (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[38] Jesaja 11:10; und seine Ruhe wird die Offenbarungsherrlichkeit sein. (Übersetzung Rabbiner Julius Hirsch)

[39] die Geburt

[40] Vorrecht, Privileg

[41] Laue Gesinnung

[42] Zecharia 4:6

[43] Der Gott der Heerscharen

[44] Zecharia 4:7; wer bist du großer Berg? (Vor Serubawel) – zur Ebene (Übersetzung Mendel Hirsch)

[45] Wikpedia: Serubbabel war der Enkel des 597 v. Chr. nach Babylonien deportierten Königs Jojachin von Juda. Nach biblischer Überlieferung führte er die Juden aus dem Exil nach Juda zurück, baute in Jerusalem den Altar zur Anbetung Gottes wieder auf und setzte damit den Opferdienst wieder in Gang.

[46] Zecharia 4:7; er führt den Stein empor zur Giebelvollendung (Übersetzung Mendel Hirsch)

[47] Ebenda: denn reiche Fülle jeglicher Begnadigung ist ihm verliehen. (Übersetzung Mendel Hirsch)

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