Schofar

Dieser hier wiedergegebene Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l aus der Zeitschrift „Jeschurun“ vom Oktober 1857 eröffnete den 4. Jahrgang seines Magazins. Wenn man ihn liest, scheint die Zeit seitdem stillgestanden zu haben, denn es hat sich seit ehedem nichts geändert. Eigentlich hat sich sogar vieles verschlechtert, denn heute gibt es keine orthodoxen Gemeinden mehr in Deutschland. Eine Ausnahme stellt vielleicht die Gemeinde „Kahal Adass Jisroel“ in der Brunnenstr. in Berlin dar. Selbst in Gemeinden, die sich einen orthodoxen Rabbiner anstellen, leben ihre Mitglieder nicht nach den orthodoxen Vorschriften des Judentums, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Unsere Gemeindevorsteher gehören allesamt den liberalen Strömungen der Judenheit an. Es wurde in Deutschland versäumt, nach dem Krieg, orthodoxe Lehranstalten für die jüdischen Jugendlichen zu gründen. Das mag durchaus daran gelegen haben, dass sich die Generation unserer Eltern es sich nicht vorstellen konnten, dass es überhaupt möglich sein wird, als Jude in Deutschland zu leben — und schon gar nicht nach orthodoxem Ritus.

Jetzt kommt Rosch Haschana und das Schofar wird geblasen und alles, was noch irgendeine Beziehung zum „Jüdischsein“ hat, strömt in die Synagogen. Juden, lest die Worte von Rabbiner Hirschs, nehmt sie euch zu Herzen, kehrt um von dem falschen Weg den ihr beschreitet, kehrt zurück zum Judentum.

Ich habe von KI eine Inhaltsangabe des nachstehenden Artikels anfertigen lassen:

Der Artikel setzt sich kritisch mit dem religiösen und gesellschaftlichen Zustand des jüdischen Lebens auseinander und thematisiert den Bedeutungsverlust und das Vergessen zentraler religiöser Begriffe wie Mizwa und Tora. Er beklagt, dass mit dem Rückzug der Tora und Mizwot aus dem Alltag auch die Freude, Sinnhaftigkeit und der innere Reichtum des Lebens verloren gehen. Stattdessen seien Arbeit und Sorge zum Selbstzweck geworden, und Menschen suchten Sinn und Glück außerhalb ihres Hauses und Glaubens.

Der Text fordert dazu auf, die geistige und religiöse Armut zu erkennen und sich zur Rückkehr zur Treue gegenüber Gott und dem jüdischen Gesetz zu entschließen. Er thematisiert die Halbherzigkeit und Unentschlossenheit vieler, die nur noch formal am Judentum festhalten, während sie in ihrem Alltag und ihren Entscheidungen den Glauben vernachlässigen. Besonders hebt der Autor die Verantwortung der Eltern hervor, ihre Kinder in jüdischem Geist und mit Überzeugung zu erziehen, warnt aber vor dem Trend, religiöse Grundsätze dem Komfort oder gesellschaftlichen Zwängen zu opfern.

Im weiteren Verlauf kritisiert der Artikel auch die Entwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinden, die sich unter dem Einfluss säkularer Kräfte von der Leitung durch religiöse Prinzipien entfernt haben. Der Verfasser ruft dazu auf, diese Entwicklung nicht tatenlos hinzunehmen, sondern aktiv für die Rückgewinnung der religiösen Selbstbestimmung und den Schutz des jüdischen Heiligtums einzutreten.

Abschließend appelliert der Text an die Beter, sich vom Schofar-Ruf (symbolisch für den Ruf zur Umkehr und Erneuerung) wachrütteln zu lassen, zur Ganzheitlichkeit und Ernsthaftigkeit im Glauben zurückzufinden und mutig für das eigene religiöse Erbe einzustehen – zum Segen für die Gegenwart und die Zukunft des Judentums.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2941587

[1] וְתָקְע֖וּ בָּהֵ֑ן וְנֽוֹעֲד֤וּ אֵלֶ֙יךָ֙ כׇּל־הָ֣עֵדָ֔ה –

וּתְקַעְתֶּ֖ם תְּרוּעָ֑ה וְנָֽסְעוּ֙ הַֽמַּחֲנ֔וֹת –[2]

וּתְקַעְתֶּ֤ם תְּרוּעָה֙ …. לְמַסְעֵיהֶֽם.[3]

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Bläst man Thekiah, so versammele sich zu dir die ganze Gemeinde —
Theruah, so breche das Lager auf —
Dann aber Thekiah zu ihren Weiterzügen.

Komm‘! Brech auf, und folge! — Kommt! Brechet auf, und folget! Das ist der Ruf, den das Gottessignal mit dem Dreiklang des Schofars an jeden Einzelnen und die Gesamtheit in Israel zum Jahres-Anfang bringt. Komm‘! Brech auf! Folge! — Kommt! Brechet auf! Folget! Wer ermisst die Umwandelung, die diese Töne bringen müssten, wenn sie den Einzelnen, wenn sie die Gesamtheit in ihrem Herzen, in ihrem Kern ergriffen!

Soweit die Erde reicht, in den starrenden Nord, in den glühenden Süd, wo Eilande das Meer umschließt, wo Wüsteneien Oasen fassen, wo Gebirge Hütten bergen, auf weitem, weitem Erdenrund, zu den Hochmärkten des Weltverkehrs, in die Weiler ländlicher Stille, wo nur jüdische Seelen atmen, wo nur jüdische Herzen schlagen, überall dringt der Schofar hin und macht sich Bahn mitten durch das Gewühl der Städte, mitten durch den Schwarm der Märkte, in die Hütten, in die Häuser, in die Paläste, in die Kerker, und weiß in jede Brust zu dringen und weiß ein jedes Herz zu finden und ruft: Kommt! Brecht auf! und folget! — — Und es ist Gott, der also ruft, Gott, der mit diesem Ruf die Seinen sucht, הִנְנִי אֲנִי ״, siehe ich bin da!“ spricht der Herr, und „suche meine Schafe und mustere sie. Wie der Hirt seine Herde mustert, wenn er einmal eintritt mitten unter seine zerstreuten Schafe, so mustere ich meine Schafe und rette sie von überall her, wohin sie sich verirrt am Tage des Gewölkes und des Nebels.“ „Das Verlorene suche ich, das Verirrte bringe ich zurück, das Gebrochene verbinde ich, das Kranke stärke ich — aber das Feiste und Störrische vernichte ich, das weide ich nach dem Recht — “ (Ezech. 34).

So ist es Gott, der mit dem Schofar seine Herde sucht, der mit dem Schofar in seine Herde eintritt — und wie findet er seine Schafe zerstreut! Wie haben sie seine Weide verlassen, wie sind sie führerlos, hirtenlos in die Irre gegangen am Tage des Gewölkes und des Nebels, „wie irrt die Gottesherde umher auf allen Bergen, allen hohen Hügeln! Über die ganze Erde sind sie hingestreut und niemand fragt nach ihnen und niemand sucht sie!“

Eine einheitliche Gottesherde sollten wir sein. Wie verschieden auch an Geist und Fähigkeit, an Stand und Schicksalslage, in der Höhe, in der Tiefe, mit dem Adlerblick des Forschergeistes, mit der Beschränktheit der Kindeseinfalt, in den Höhenschichten der Gesellschaft, in den Niederungen des kärglichsten Elends, in der Jugend und im Alter, im Reichtum und in der Armut, in blühender Gesundheit wie im welkenden Reichtum, in aufblühendem Familienleben und in der Verkümmerung gebrochener Herzen, in Tagen der lachenden Freude wie in Gewitterschwüle und nächtlichem Nebel — an einen Hirten sollten wir uns alle halten, auf einer Weide in allem und mit allem bleiben, sollten an jeder Stelle, aus jedem gewonnenen Plätzchen uns unter Seiner Obhut fühlen, uns Seiner Leitung überlassen, uns in Seinem Dienste wissen, und damit an jeder Stelle, auf jedem gewonnenen Plätzchen, in allem und mit allem den Frieden und die Freude und die ungetrübte Seelenheiterkeit gewinnen, die Er allen den seinen blühen lassen will und in denen wir alle, alle, uns um den einen Einzigen einheitlich zusammen finden sollen, — um den einen Hirten, die eine allverbrüderte Herde!

Und was sind wir geworden? Den Einen haben wir verlassen und haben damit auch einer den andern verloren! Die Entferntesten sollten sich nahe sein und die Nächsten sind sich ferne geworden. Es versteht der Vater den Sohn nicht mehr, der Bruder kennt den Bruder nicht. Denn es geht jeder auf andere Weide, hat jeder einen anderen Hirten und sucht jeder an anderer Stelle und in anderer Weise das Kleeblatt der Freude und des Glücks und des Friedens. כֻּלָּם֙ לְדַרְכָּ֣ם פָּנ֔וּ אִ֥ישׁ לְבִצְע֖וֹ מִקָּצֵֽהוּ ״ , jeder hat sich seines Weges gewendet, jeder seinem Interesse zu von seinem vereinzelten Standpunkt!“[4]

Wir haben die Tage der Prüfung nicht bestanden. Jahrhunderte, Jahrtausende lang hat uns der Eine geführt, hat Sein Ruf uns auf der einen Weide Seines Geistes und Seiner Lehre zusammengehalten. Da kam ein Tag, eine kurze Zeit des „Gewölkes und des Nebels“, eine kurze Zeit der Versuchung und Prüfung, eine kurze Zeit Welt erschütternden Wetters. Alle sollte es erschüttern, wir sollten die Ruhe bewahren. Alle Hürden sollte es niederwerfen, unsere Hürde aufrecht bleiben. Alle sollte es zu einem anderen Hirten und zu einer anderen Weide führen, wir allein bei unserem Hirten, auf unserer Weide harren; denn es war eben unser Hirte, der das Unwetter sandte, und es war ja eben unser Hirte und unsere Weide, zu denen sie alle am Tage des Gewölks und des Nebels sich flüchten sollten. Es war ja eben unser Hirte, der sein Unwetter als seinen Herold sandte, sie alle zu sich — und uns zu rufen.

Wir haben aber sein Werk nicht begriffen und haben sein Walten nicht verstanden. Weil wir sie alle bestürzt von ihren Hirten eilen sahen, haben auch wir unseren Hirten verlassen. Weil sie alle aus ihren Hürden flüchteten, haben auch wir unserer Hürde nicht mehr getraut. Weil wir sie alle einen neuen Hirten und eine neue Weide suchen sehen, meinen wir auch einen neuem Hirten und eine neue Weide suchen zu müssen, und irren nun mit ihnen umher, freudelos, friedlos, haltungslos — mit aller gewonnenen Lust ohne Freude, mit aller gewonnenen Ruhe, ohne Frieden, mit allen gerühmten Prinzipien ohne Halt und ohne Band — und wissen den Hirten nicht zu suchen — und wissen die Weide nicht zu finden —

Da tritt unser Hirte selber in unseren Kreis und sucht uns mit dem Ruf seines Schofars, und geht uns nach auf die erträumten Höhen, und in die wirklichen Täler und Gründe, geht jedem nach, wohin er sich verirrt an der Hand seines vermeintlichen, selbstsüchtigen Interesses — [5]בִצְע֖וֹ מִקָּצֵֽהוּ — und ruft jedem zu: Komm‘! Reiße dich los! Folge!

Er findet unsere Jünglinge — Es sind nicht mehr die [6] נַעֲרֵי֙ בְּנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֔ל , die jüdischen Jünglinge, die Hoffnung unserer geistigen Zukunft, die Moses gesendet, die „Opfer der Weihe und des heiteren Gottbewusstseins“ zu bringen — es sind nicht mehr die Jünglinge, die zu den Füßen der Propheten und Weisen gesessen um aus ihren Händen das geistige Erbe unserer Vergangenheit zu empfangen und sich, für das Forttragen und die Fortpflege dieses geistigen Erbes zu begeistern — den ganzen Geist dieser Weihe und die ganze Freude am Gottbewusstsein hat man ihnen gestohlen, hat ihnen diese Weihe als Überspannung und diese Freude als Torheit lächerlich gemacht, hat ihnen ganz andere Ziele aufgesteckt und sie ganz andere Freuden haschen gelehrt, hat ihnen [7] בִּצְעָם מִקְצֵיהֶם , hat ihnen das von jedem nach seiner Individualität und mit der ganzen Ausbeutung seiner individuellen Verhältnisse zu suchende Selbstinteresse als den allmächtigen Gott der Zeit zur Verehrung hingestellt, hat diesen Gott mit dem täuschenden Namen „Beruf“[8] ihnen getauft und sie damit die Hingebung an dieses Selbstinteresse als ihren ganzen ihnen angewiesenen Beruf erkennen und lieben gelehrt — und hat sie darum weggerissen von den Füßen der Propheten und Weisen, die ihnen מִצְוָה , die ihnen Pflicht, die Pflicht, die gottgebotene Pflicht als den einzigen Hebel alles Lebens und Strebens darreichen, die keinen anderen Beruf kennen, als die Erfüllung dieser Pflicht und keine andere Freude lehren, als das Bewusstsein dieser Erfüllung, die aus diesem Berufe alles andere hervorgehen, in diesen Beruf alles andere aufgehen, und erst in diesem Berufe den Menschen und Juden sich selber finden lassen, und die sie eben mit diesem Mizwa-Geist und dieser Mizwa-Gesinnung unfähig gemacht hatten zur rücksichtslosen und skrupellosen Hingebung an das Selbstinteresse, zur rücksichtslosen und skrupellosen Vergötterung des Vorteils und des Genusses!

Und da wandern sie nun umher, unsere Jünglinge. Der Weg zum Sinai hinan, der oft durch die Wüste führt, ist ihnen zu öde und dürr. Sie suchen die Weiden, wo die Prozente wuchern und die wilden Blumen unheiliger Genüsse blühen, wo die Schmetterlinge der Menschenehren flattern und — die Tautropfen der Menschentränen fallen. Sie sehen die Abgründe nicht, an denen sie wandeln, sehen die Gräber nicht, die sie sich selber graben, ahnen es nicht, dass sie mit allen Bauten ihrer Zukunft sich nur goldene Särge zimmern und sich immer mehr und mehr von dem gelobten Land der Milch und des Honigs, des wahren Lebens und der wahren Freude entfernen. Sie meinen die Höhe hinanzusteigen und sinken immer tiefer und tiefer in den Abgrund.

Da trifft sie der Schofar-Ruf — es ist der alte Ruf ihres Hirten vom Sinai her, er ruft, und wenn er ruft, [9] וְנֽוֹעֲד֤וּ אֵלֶ֙יךָ֙ כׇּל־הָ֣עֵדָ֔ה so soll die ganze Herde in diesem Ruf ihr Ziel und ihre Bestimmung finden, — er ruft, — aus fernen Höhen hören sie den Ruf; nicht vorwärts aus der Tiefe, rückwärts aus der Höhe vernimmt ihn ihr Ohr; es ist nicht der Ruf des lachenden Vorteils, dem sie bis jetzt gefolgt, es ist nicht der Ruf rauschender Lust, der sie bis jetzt gelockt; es ist der Ruf ihres ernsten, alten Gottes; er tönt so fern und doch so liebend nah, so fremd und ihren Seelen doch so innig verwandt; so fern und fremd — und sie fühlen es doch, dass auch sie zu diesem Ruf gemeint sind, fühlen gerade an dem Fernen und Fremden dieses Rufes, wie weit ab und fremd sie bereits ihrer Bestimmung geworden — und sie halten inne, und sie suchen ihren Hirten, den sie vergessen, der ihrer aber nicht vergaß, den sie verlassen und der sie nun selber sucht, der zu ihnen spricht: Kommt, kommt, kommet! Nicht dort, wo täuschende Vorteile lachen und ewige Verluste weinen, wo berauschende Lüste jauchzen und ernüchterte Schmerzen seufzen, wo der Moder triumphiert und der Geist und die Einigkeit trauern, bei mir winkt euer Ziel, bei mir eure Bestimmung und euer Beruf. הוּעֲדוּ אֵלַי [10], kommet zu mir, wo die Wahrheit leuchtet und die Täuschung flieht, wo für die Ewigkeit gewonnen ist, was einmal errungen, wo in alle Ewigkeit lächelt, was einmal selig umfangen. Kommet zu mir, rüttelt euch auf, reißt euch los, brecht auf, — [11] תְּרוּעָ֑ה וְנָֽסְעוּ֙ — so schwer es auch wird, — so lieb euch der Wahn, so süß euch die Täuschung, so teuer euch die Gegenwart, — brecht auf, reißt euch los, auf aus der Erschlaffung, los aus den Banden der Lust, aus den Fesseln des Irrtums! Rüttelt euch wach aus dem verderblichen Traum der Sicherheit und des Glücks, hört nicht auf die, die euch in mir den Störer eurer Ruhe, den Feind eures Glückes, den Verderber eurer Freuden, den Verkümmerer eures Berufes zeigen! Eure Ruhe ist Täuschung, euer Glück ist Wahn, eure Freude Trauer, euer Beruf ist verscherzt, und wenn ihr die glänzendsten Ziele erjagt, verscherzt, so ihr euren ersten, einzigen, ewigen, alten Beruf vom Horeb her verleugnet. Reißt euch los, solange es noch Zeit ist, rüttelt euch auf, solang ihr noch Kraft habt, brecht auf, solange die Gegenwart euch noch nicht ganz in ihre Bande geschlagen, solange euer Irrtum euch noch nicht in die Tiefe des Abgrunds geführt. Reißt euch los, kurz ist der Kampf, ewig der Sieg, kurz der Schmerz, ewig die Freude. Brecht auf und folgt mir! — [12] יִתְקְע֖וּ לְמַסְעֵיהֶֽם — mir, mir, — immer weiter, immer ferner, ewig mir, hinauf, hinan, mir nach, ewig dahin, wo mein Ruf euch vorangeht, wohin meine Stimme euch führt! Folgt meinem Ruf! Ich hebe euch über Abgründe und Klippen, ich führe euch durch Wüsteneien und Stürme dahin, wo die Freude ewig wohnt, wo die Seligkeit immer lächelt, wo jeder Augenblick Gewinn ist und jeder Atemzug Entzücken, Seligkeit und Freude eines in mir sich treu vollendenden Lebens! — — — —

Er findet die Jungfrauen der Zeit — das sind „unsere Töchter“ nicht mehr, die Davids begeistert Lied: [13] בְּנוֹתֵ֥ינוּ כְזָוִיֹּ֑ת מְ֝חֻטָּב֗וֹת תַּבְנִ֥ית הֵיכָֽל, „die für das verjüngte Heiligtum der jüdischen Häuslichkeit vollendeten Ecksäulen“ nennt! Ihr Heiligtum, vor allem ihr Heiligtum ist ja hin! Ist ja kein Tempel in verjüngtem Maßstab, kein תַּבְנִ֥ית הֵיכָֽל, kein verjüngtes Heiligtum das jüdische Haus, die jüdische Häuslichkeit mehr! Keinem heiligen Priestertum blühen unsere Jungfrauen mehr entgegen, es ist das Haus kein Tempel und der Tisch kein Altar mehr. Der Geist der Reinheit ist aus den Ehen, der Geist der Weihe aus den Häusern gewichen, das häusliche Familienleben ist kein priesterlicher Gottesdienst mehr, das Priestertum jüdischer Weiblichkeit ist begraben. Für andere Zwecke entfaltet sich der Geist unserer Jungfrauen, andere Gefühle werden ihrem Herzen nahegelegt, — trivial gähnt sie die gemeine, vom Gottes Geist entseelte Häuslichkeit an, in den Pflichten der Tochter und der Schwester, der Gattin und Mutter findet ihr für „Höheres“ empfängliches Gemüt keine Befriedigung mehr, sie zürnen dem einfältigen Geist der Väter, der sie freilich für das Haus, aber in dem Haus wie heilighoch und priesterlich dahingestellt! Nicht das Gott geweihte Haus, nicht der Gott geheiligte Herd, der Salon und die Gesellschaft ist das Ideal, für welches man die weibliche Bildung vollendet, die Gebote des Tons und der Mode sind das Gesetz, das unsere Töchter verehren lernen und, wenn überall, höchstens in zweiter Linie stellt man ihnen Gottes Gebot. Da blühen sie nun auf, die einstigen Frauen und Mütter unseres Geschlechtes, unbekannt mit dem Geist, der einst eine Jochebed[14] und Mirjam[15], eine Debora[16] und Channah[17] beseelte, unberührt von jenem Gott und seinem heiligen Dienst auf Erden zugewandten Zuge, der das jüdische Weib von jeher zu der festesten Stütze des göttlichen Heiligtums befähigte, der es beflügelte und begeisterte, in Zeiten des Abfalls und der Gefahr die letzte Rettung unserer geistigen Zukunft zu werden. Und dafür vollgenährt mit jenem Geist des Abfalls und der Irre, der wohl gewusst, welche Burg des göttlichen Reiches er in der Brust des jüdischen Weibes zerstört, und der darum gerade sie sich erkor, sie mit feinen Täuschungen zu umgaukeln, sie mit Verachtung gegen unsere jüdische Vergangenheit zu erfüllen, sie ihre Mütter, ihre großen jüdischen Mütter, die Trägerinnen und Retterinnen unserer jüdischen Vergangenheit als das vom Judentum und im Judentum geknechtete Weib betrachten zu lassen, und sie in eine Ansicht von Welt, Leben und Judentum hinüberzulocken, die sie für alles begeistert, die sie zu allem befähigt, nur nicht ihre heiligen Pflichten als einstige jüdische Gattinnen und Mütter zu erfüllen. Da wandeln sie nun an denselben blumenverdeckten Abgründen hin, wie die Jünglinge der Zeit, gehen mit ihnen unbewusst immer tiefer und tiefer hinab, wo die Täuschung säet und die Träne erntet, und nähren in ihrem Schoß den Keim, der, einst in die Häuser und die Erziehung unserer Zukunft verpflanzt, diese Zukunft selber in immer trostlosere Gottentfremdung begräbt —

Da trifft sie der Schofar-Ruf — es ist derselbe Ruf, der einst ihre Mütter um den Sinai zusammenrief, und ihren Händen zuerst das Heiligtum seines Gesetzes anvertraute, der für sein Gesetz zuerst das Haus Jakobs[18] und dann erst die Gemeinde Israels verlangte, und in diesem Haus vor allem auf das Weib, das jüdische Weib gerechnet! Es ist noch derselbe Gott, noch derselbe Hirte unserer Häuser und Familien, dem noch jedes Haus Jakobs gebaut und jedes Kind in Israel geboren und erzogen wer- den soll, es ist noch derselbe Hirte, unter dessen Obhut jede Mutter ihren Säugling stellt, der noch alle unsere Hütten kennt und alle unsere Häupter zählt, ihnen das Manna des Lebens und der Erhaltung zu spenden; es ist noch derselbe Gott, dem alle unsere Geister und Herzen angehören, der auf allen unseren Gedanken und Empfindungen, allen unseren Worten und Handlungen ein Familienleben erbaut wissen will, in welchem vor allem seine Gegenwart beseligend wohnt und sein heiliges Gesetz zur Verwirklichung kommt und der für diese beseligende Weihe unserer Häuser und Familien noch vor allem auf das Weib, das jüdische Weib rechnet. Und tritt er nun mitten unter seine in der Nacht des Wahns und in dem Nebel der Verblendung verirrte Herde, so sucht vor allem sein Hirtenruf die Jungfrauen unseres Volkes, die künftigen Gattinnen und Mütter seiner Häuser. „Kommt, kommt, kommt ihr vor allem, ihr zuerst zu mir zurück! Wenn eure Brüder und Väter, wenn eure künftigen Männer mich verleugnen, sie keinen Sinn mehr haben für das, was sie mir schulden und für das, was sie in mir verscherzen, werdet ihr eure und ihre Retterinnen, bewahrt ihr den Sinn für das, was ich für euch und sie getan, für die Allmacht und Gnade, die euch und sie auf Adlersflügeln trug und für die Freude und Seligkeit, die nur mit meinem Bund zu finden sind. Seid mein, wiederum mein, ganz mein und werdet die Retterinnen meines Bundes! O, ihr verliert am meisten dabei, wenn ihr die Häuser nicht wieder meiner Weihe zurückbringt. Das Haus wird euer Reich, das Haus euer Paradies, das Haus der Tempel, zu dessen Priesterinnen ich euch bestellt, wenn — ihr mein seid, meinen Dienst im Hause verwaltet, meine Weihe im Hause vollbringt, meine Sitte im Hause pflegt, mein Licht im Hause wartet, meinen Geist im Hause wahrt. Das Haus ist euer und mit ihm alle Seligkeit und alle Freude, die dieser kleine, enge Raum umschließt, euer, wenn ihr das Haus mein sein lasst und ihr die Meinen seid. Dann geht der Geist nicht unter, bleibt wenigstens im jüdischen Kreis lebendig, der auch den Mann das Haus als die erste Bedingung seiner Lebensvollendung und seiner Lebensfreuden begrüßen lässt, der nicht in dem, was er hauslos und außer dem Hause erringt und genießt, sondern in dem, was er im Hause Hand in Hand mit seinem Weib zu einem Gottesheiligtum umwandelt, ihn seinen Lebensberuf und seine Seligkeit auf Erden finden lehrt, der nur zu Mann und Weib zusammen spricht, sei Mensch, seid mein Ebenbild auf Erden, und den haus- und weiblosen Mann als verkümmert betrauert.

Seht, das alles geht euch verloren mit meiner Weihe, die von den Häusern weicht, und mit meinem Geist, dem man euch entfremdet! O, darum kommt, kommt, rettet euch, reißt euch los aus dem Wahn, mit dem man eure Sinne gefangen hält, aus den Reizen, mit denen man euch lockt. Die Welt hält nicht Wort in dem, was sie verspricht — die Kränze verblühen — der Glanz erlischt — der Liebreiz schwindet und nur „das gottesfürchtige Weib steht in ewig hell erleuchtendem Glanze da!“ Darum reißt euch los, nicht von der Pflege eurer Anmut, nicht von der Bildung eures Geistes, nicht von der Kunstübung eurer Hände, nicht von der Veredlung eurer Empfindungen — aber von den Zwecken und Zielen, für die man euch dies alles erstreben lehrt. Pflegt eure Anmut, bildet euren Geist, übt eure Hände, veredelt eure Empfindungen, aber folget mit diesem allen Mir, legt das alles auf den Weihaltar meines Wohlgefallens, windet aus diesem allem den Kranz meiner Verherrlichung, rüstet, vollendet euch mit diesem allem zu „Säulen meines Heiligtums“, einst diese Anmut, diese Bildung, diese Kunst, diesen Adel der Empfindung an der Hand eines gleich euch mir zugewandten Gatten in dem Heiligtum des Hauses und der Familie, als Gattin und Mutter zum Aufbau eines stillhäuslichen Paradieses zu verwerten, in welchem noch heute „meine Stimme wandelt“ und die verlorenen Seelen und Herzen der Menschen „sucht“ — — — —

Und nun die Männer und Frauen, die nicht mehr der Vorbereitung, die bereits der Erfüllung des heiligen Gotteswillens auf Erden leben sollen, die bereits auf dem zwiespältigen, schwankenden Boden der Zeitrichtung ihre Häuser gebaut, Güter erworben, Genüsse erstreben, Kinder erziehen, Familien bilden und mit Gütern und Genüssen, mit Kinder- und Familienleben den Willen des allmächtigen Gottes zur Verwirklichung bringen, und das heilig große Ziel der ganzen Menschenschöpfung, die Erhebung und Dahingebung alles Irdischen an Gott, zur Wahrheit machen sollten — wie weit, weit ab von diesem großen, heiligen Ziel findet Er sie, und wie um alle jene Freudseligkeit gebracht und betrogen, die ihnen aus der Verwirklichung dieses Zieles schon auf Erden blühen sollte!

תַּבְנִ֥ית הֵיכָֽל , Nachbild des Gottesheiligtums, ein verjüngter Tempel sollte ein jedes jüdisches Haus sein! Der תּוֹרָה , der Gotteslehre, dem Gottesgesetz, sein Allerheiligstes erbaut, von ihrer Rechten das Licht, von ihrer Linken das Brot gereicht, von ihr alles Licht und Leben, von ihr alle Nahrung und alle Genüsse gereicht und ihr wiederum alles Licht und Leben, alle Nahrung und alle Genüsse geweiht, in dieser Weihe das ganze Leben zum göttlichen Wohlgefallen vollendet aufsteigend und dafür Gottes Cherubim niedersteigend, das Paradies des häuslichen Lebens umschließend und deckend, Gottes Schutz und Segen unsichtbar die vier Wände des Hauses umgebend, freundlich aus den Höhen auf das zu seinem Wohlgefallen vollendete Menschenstreben hernieder lächelnd! Dies das Ideal:

— כְּרוּבִים נִסְתָּרִים אֲחוֹרֵי הַקְּרָשִׁים וּגְלוּיָה בְּגַג הַמִּשְׁכָּן מִלְּמַעְלָה[19] , מִזְבַּח קְטֹורֶת[20], שֻׁולְחָן[21], מְנוֹרָה[22] , תּוֹרָה[23] — הִנֵּה־זֶ֤ה עוֹמֵד֙ אַחַ֣ר כׇּתְלֵ֔נוּ מַשְׁגִּ֙יחַ֙ מִן־הַֽחַלֹּנ֔וֹת מֵצִ֖יץ מִן־הַחֲרַכִּֽים!![24]

Und diesem Ideal der Altar des häuslichen Strebens und Wirkens gebaut, Tag für Tag an seiner Verwirklichung gearbeitet, Tag für Tag das Altarfeuer des göttlichen Gesetzes gepflegt, ihm jeder Pulsschlag des Herzens zugewandt, ihm alle Sinne und alle Fülle hingegeben, ihm alle inneren und äußeren Tätigkeiten rein erhalten und das ganze Menschen-Wesen mit allem Leben und Streben also ganz der Nahrung des göttlichen Feuers auf Erden zum göttlichen Wohlgefallen in der Höhe hingegeben, dass auch das Brot der Nahrung, das Mark der Gesundheit und der Wein der Freude in diese göttliche Weihe mit aufgenommen wird.

רְחִיצַת קֶרֶב וּכְרָעִים, רֹאשׁ וּפָדֶר, זְרִיקַת דָּם, אֵשׁ תָּמִיד, מִזְבֵּחַ הָעוֹלָה, מִנְחַת סֹלֶת וְשֶׁמֶן וְיַיִן לְנֶסֶךְ , הַקְּטֹרֶת הַכֹּל אִשֶּׁה רֵיחַ נִיחוֹחַ לה׳! [25]

Dies das jüdische Haus, dies das jüdische häusliche Leben! Und nun für diese gottesdienstliche Verklärung des ganzen irdischen Daseins durch das häusliche Leben Mann und Weib priesterlich berufen, ihnen [26] כִּיּוֹר לְקִדּוּשׁ יָדַיִם וְרַגְלַיִם , ihnen die Reinheit des „Handelns und Wandelns“ als unerlässliche Vorbedingung für die priesterliche Vollendung des häuslichen Lebens gestellt, nicht aber in die „Redlichkeit und Ehrlichkeit des Erwerbs“ fast die ganze Summe der Lebenspflichten aufgeben lassend —

So erwartet unser Hirte die Männer und Frauen seiner Herde — und wie findet er sie? Welche Stelle nimmt seine תּוֹרָה in ihrem Haus ein? Ist das Allerheiligste ihr angewiesen, also angewiesen, dass das ganze Haus nur ihr erbaut, nur ihrer Verwirklichung Stätte zu sein erscheint? Ach, mit irgendeinem Winkel muss sie sich begnügen, wenn ihr überall noch Einlass gewährt wird, irgendeinem Winkel, einem Feiertags- oder Trauertagswinkel, wo sie das tägliche Leben nicht stört, im täglichen Verkehr nicht auffällt und — der Gesellschaft von heute keinen Anstoß gibt! Sie ist nicht mehr Beherrscherin des Hauses, Licht und Leben, Genuss und Freude stammt nicht mehr von ihr, führt nicht mehr zu ihr; ihr wird nicht der Tisch mehr gedeckt, ihr nicht mehr die Kinder geboren und erzogen, ihr nicht mehr alle Sinne und Kräfte, alle Güter und Bestrebungen zugewendet. Als ein — leider noch — unvermeidliches Zubehör, meist noch aus Rücksicht für irgendein älteres Glied des Hauses, aus Schonung für irgendeinen Alten, irgendeine Alte der Familie wird sie geduldet; aber sie sieht es den Mienen der Jüngeren an, ihr Stündlein sei ihr bestimmt und wie man den letzten Alten einsargt, muss auch sie ihr letztes Plätzchen räumen. Oder sie hat sich zu einem Konkordat[27], zu einem Abfinden bequemen müssen, hat ihre eigene Absetzung, ihre eigene Vernichtung, die Verzichtleistung auf ihre heiligsten Anforderungen unterzeichnen müssen — nein! nein! Das hat sie nicht getan! — konnivierende[28], weltkluge Abbés[29] haben in ihrem Namen unterzeichnet, haben in ihrem Namen Verzicht geleistet, haben in ihrem Namen Schweigen gelobt, Schweigen zu den schreiendsten Verletzungen ihrer Gebote, zu den empörendsten Höhnungen ihrer Diktate, haben ihre Priester- und Propheten-Mummerei missbraucht, in ihren Namen aufzutreten, in ihrem Namen zu erklären, sie sei gar die grämliche Alte nicht mehr, sie habe sich mit den Jüngeren verjüngt, halte mit jedermann Schritt, sei so bescheiden und demütig, so artig und anständig, so weltklug und fein geworden — man solle sie nur zulassen! — Niemanden zu stören, niemandem lästig zu fallen und zu allem und jedem ihr lächelndes Ja zu sagen. Und die Thora, das welterobernde Sinai-Wort, hat zürnend seine Stätte verlassen, und statt seiner geht ein zierlich feines Thora-Sprüchlein von Mund zu Mund und segnet die Kinder und lullt sie in Schlaf und sagt Amen und Ja zu Leichtsinn und Sünde —

Ist aber die Thora himmelwärts geflohen, so steigen auch Gottes Cherubim nicht erdwärts nieder, sind die Paradieseswächter des häuslichen Lebens nicht mehr, hat den Paradieseshauch das Leben verloren. Keuchend an dem selbstgedrehten Seil des künstlichen Lebensberufs zieht der Mann und das Weib und werden des Lebens nicht froh und haben keine Ahnung von der Heiterkeit und dem Seelenfrieden und der Seelenfreude mehr, die dem jüdischen Mann und dem jüdischen Weib bei jedem Schritt aus jeden Schritt durchs irdische Dasein aufsprießen sollten, und die die jüdischen Männer und jüdischen Frauen unter den drückendsten äußeren Verhältnissen, in den ärmlichsten häuslichen Lagen zu gewinnen verstanden. Mizwa, Mizwa, Mizwa, das ist das Zauberwort, das die Erde zum Paradiese umwandelt, das den Dornen- und Distel-Fluch überwindet, jeden Atemzug zum Gewinn, und jeden Schweißtropfen zum Segen gestaltet. Mizwa, Mizwa, Mizwa der Wunderstab, der dem dürrsten Fels den lebendigsten Quell entlockt, der uns überall unsere Ernten halten lässt, in jeden Augenblick die heiterste Seligkeit legt, nicht erst aufs „dann“, nicht erst aufs „einst“, nicht erst aufs „Jenseits“ vertröstet, sondern hier, ins „Heute“, ins „Jetzt“, in den verschwindendsten Augenblick des flüchtigsten Daseins den Tau der ewigen Seligkeit träufelt. רָצָה הַקָּדוֹשׁ בָּרוּךְ הוּא לְזַכּוֹת אֶת יִשְׂרָאֵל, לְפִיכָךְ הִרְבָּה לָהֶם תּוֹרָה וּמִצְוֹת  [30] , beglücken wollte Gott sein Volk, als er ihm die Fülle der Lehren und Mizwot gab, als er [31] תּוֹרָה וּמִצְוֹת in das ganze irdische Dasein flocht, nichts gleichgültig, nichts ungeweiht, nichts seinem Geist und seinem Wohlgefallen entfremdet ließ, [32] א֭וֹר זָרֻ֣עַ לַצַּדִּ֑יק, damit hat er seinen Treuen Licht auf alle Wege, in alle Lebensfugen gesät und jeden Schritt und jede Handlung zu einem Paradiesbeet gefügt, aus dem die Freude sprießen soll, [33] וּֽלְיִשְׁרֵי־לֵ֥ב שִׂמְחָֽה

Und eben dieses Zauberwort haben sie verlernt, diesen Wunderstab verworfen, haben תּוֹרָה וּמִצְוֹת , die das Glück und die Freude in jeden Augenblick des Daseins zu pflanzen wissen, als die Störerinnen der Freude, als die Verderberinnen des Glücks aus dem Leben verwiesen, haben ihre Lampe erlöschen und ihren Tisch verwaisen lassen, haben ihre Altäre umgestürzt und ihr Feuer nicht angezündet, weihen ihnen nicht mehr jeden Pulsschlag des Herzens und jede Regung und jede Bewegung des inneren und äußeren Lebens, haben von dem ganzen großen Bau des Heiligtums kaum mehr, als das  “ כִּיּוֹר „ , das Läuterungsbecken für Hand und Fuß, die Redlichkeit des Handelns und Wandelns — im Gottesheiligtum nur eine Vorhofbedingung zum Heiligtum! — und von allen Mizwot, die, zahlreich wie die Tage des Jahres und wie die Glieder des Menschen, die ganze Zeit und den ganzen Menschen beseligend umspannen, kaum mehr als die eine „Zedaka“, als die zum menschenfreundlichen Mitleid herabgesunkene Mildtätigkeit gerettet — ja, sind so weit gekommen, dass, während den Juden das Leben und die Freude mit Gott verbindet, sie fast nur noch vom Tod und der Trauer zu Gott geführt werden — und da wollen wir uns wundern, dass das Leben arm geworden ist an der Zuversicht, die nur Gott und der Freude, die nur Mizwot bereiten, wollen uns wundern, dass Dorn und Distel der Sorge und der Trauer, des Überdrusses und Unmuts die Auen des Lebens überwuchern und das arme Geschlecht nur mit künstlichen Blumen der Täuschung und des augenblicklichen Wahns die Blöße seiner wirklichen Armut zu decken sich bemüht? An dem selbstgedrehten Seil des selbstgeschaffenen Berufs keucht der Mann und das Weib, und kommen aus der Arbeit nicht heraus, und aus der Sorge nicht heraus, und finden den Augenblick nicht mehr, wo sie einander und ihren Kindern angehören, weil sie den Augenblick nicht finden, wo sie Gott angehören. Sie haben den Zweck ihres Lebens und damit sich selber verloren. Sie haben den Zweck ihres Lebens und damit die Bedeutung ihres Lebens und die Freude am Leben eingebüßt. Sie arbeiten und wissen nicht wozu, sie sorgen und wissen nicht wofür Arbeit und Sorge ist ihnen ja nicht Mizwa mehr, und tragen nicht mehr in sich selber die süße Seligkeit des Gottesbewusstseins. Sich selber und dem Hause entfliehen sie, wenn ihnen eine Minute lächeln soll, und es soll ihnen die Welt gewähren, was ihnen das Haus und die Familie versagt — —

O, wenn sie ihre Armut fühlten, und den seligen, unverlierbaren Reichtum ahnten, den ein treues Leben im göttlichen Gesetz gewährt, wie würden sie der Stimme ihres Hirten zujauchzen, der sie mit seinem Ruf: „Kommt! Reißt euch los! und folget!“ aufsucht. Sie wandelt ja umher, die Stimme ihres Hirten, und will das Verlorene suchen und das Verirrte zurückbringen, das Gebrochene verbinden, das Kranke stärken — wer ist so krank wie unser Geschlecht, wer so gebrochen wie unsere Zeit! Wer ist so verwirrt wie unsere Klugen, wer so verloren wie unsere — Glücklichen! Sie sind krank und wissen es nicht, sind gebrochen und dünken sich stark. Sie irren umher und rühmen ihre Weisheit, sie sind verloren — und wähnen sich am Vorabend des Heils! — „Kommt! Reißt euch los und folgt!“ Ist’s euer Hirte nicht vom Sinai her, der euch einst mit seiner Stimme zusammenrief, dem ihr mit eurem נַעֲשֶׂה וְנִשְׁמַע “ , wir wollen erfüllen und horchen!“[34] den Welteneid der Treue und des Gehorsams gelobt? Kommt! Reißt euch los und folgt, und erntet das Glück und das Heil, die Seligkeit und Freude, die ihr vergebens auf andern Wegen sucht — — — —

Ist aber so der Schofar-Ruf an Jahres-Wende ein Aufruf zur Umkehr und Aufkehr und treuer Wiederhingebung an die Leitung ihres Lebenshirten, an alle, die sich dieser Leitung längst entzogen, geht dieser Ruf den Fernsten nach, sucht er sie alle aus an den tiefsten Abgründen gottvergessenen Lebens — mit welcher doppelten Mahnung, mit welchem doppelten Ernst trifft er die, die noch nicht ganz ihn verleugnet, die noch die Seinen sind, die den ganzen Inhalt seiner Forderung kennen, und unter seiner Leitung und Führung diesen Inhalt verwirklichen möchten! Mit welcher doppelten Mahnung und doppeltem Ernst in einer Zeit, wo mit doppeltem Gewicht jede Treue, mit dreifachem jede Verirrung, jede Halbheit, jedes Schwanken des Treuen in die Waagschale der jüdischen Zukunft fällt, wo der Ernst der Treuen den Abfall zu sühnen, dem Abfall das Gegengewicht zu halten hat und wo mehr noch als der Abfall der Gefallenen ein jeder Leichtsinn der noch Treugebliebenen die heilige Gottessache verrät. Welch ernste Mahnung an jeden, innezuhalten und sich zu prüfen, wo er und sein Haus, wo er mit den seinen stehe!

Wo ist der Jüngling und die Jungfrau, wo ist der Mann und das Weib in Israel, die je, wo sind sie, die vor allem heute sprechen könnten, mich trifft die Theruah nicht, mir gilt die Thekiah nur, die mich aufmuntert fortzufahren auf dem Weg, den ich bis jetzt gegangen, weiter zu folgen der Stimme, wie ich ihr bis jetzt gefolgt! Wo ist der, der sich keines Augenblicks seines Lebens zu schämen, sich keiner Schwäche, keiner Verirrung, keiner Leidenschaftlichkeit anzuklagen hätte, wo ist der, den kein Reiz, kein Vorteil, keine Rücksicht aus der angewiesenen Gottesbahn gerissen, der sich in keiner Beziehung von Gott missfälligen Banden der Verhältnisse, der Gewohnheit, der Leidenschaft und der Sinnlichkeit gefesselt fühlte und den nicht die Theruah aufzurütteln hätte, sich aus dem Gott Missfälligen los zu reißen und fortan treuer seine Treue zu bewähren? Wo ist der, zu dem Gott sprechen könnte: „עַבְדִּי־אָ֑תָּה יִשְׂרָאֵ֕ל אֲשֶׁר־בְּךָ֖ אֶתְפָּאָֽר  , Du bist mein Diener, bist ein Jude, dessen ich mich rühmen kann!“[35]

Aber vor allem, wo ist der Ernst, die Entschiedenheit, die Stärke und der Mut, die frohe Zuversicht und die Hingebung, die eine Zeit wie die unsrige von jedem zu fordern hat, der noch sich Jude nennt und Gottes Diener sein will, ja, wo ist die Einsicht, die auch nur begriffe, welchen Ernst und Mut, welche Entschiedenheit und zuversichtliche Hingebung diese Zeit von uns allen fordert, die begriffe, wie wir alle heute zum קִדּוּשׁ הַשֵּׁם berufen, alle berufen sind mit unserem Leben einzustehen für Gottes heilige Sache, יוצאי צְבָא בְּיִשְׂרָאֵל uns um Gottes Heiligtum in Israel zu scharen, es mit unserem ganzen Leben zu verteidigen und es siegreich für die Überlieferung an das kommende Geschlecht zu retten. O, die Halbheit, die Unentschiedenheit, der Kleinmut schlägt uns alle nieder! Der Abfall hat uns geschreckt und uns die Zuversicht in Gott und seine Heilige Sache geraubt. Wir wähnen das Heiligtum von seinen Feinden erobert, wähnen den Tempel in Flammen und auf den Zinnen des vermeintlich brennenden Daches reichen wir, wie die verzweifelnden Priester, Gott die Schlüssel hin und haben den Mut nicht mehr, sie dem kommenden Geschlecht zu überantworten. Die Zukunft geben wir preis und meinen genug getan zu haben die Gegenwart, oder vielmehr uns in der Gegenwart zu retten. Ganze Juden, ganz Jude zu sein, sein ganzes Dasein und Leben in den Namen Jude aufgehen und seine ganze Zukunft von dem Namen Jude und seiner Aufgabe tragen zu lassen, wagen wenige. Halbheit, Unentschiedenheit überall. Das Haus gehört dem Gesetz, das Geschäft der Sünde. Zu Hause führt man ein jüdisches, auf Reisen ein unjüdisches Leben. Die Söhne werden für das Gesetz, die Töchter für den Abfall unterrichtet und erzogen. Väter und Mütter, die die Kraft nicht hatten die Gesetzestreue in die Brust ihrer Kinder zu pflanzen und sich nun in Gram über den Gottes Gesetz entfremdeten Sinn und Wandel ihrer Söhne und Töchter verzehren, haben nicht einmal den Mut, auch nur ihren Gram — laut werden zu lassen! Väter und Mütter haben ihre Söhne und Töchter „fromm“ erzogen, bis — das Leben mit einem Opfer, den Beweis für den Ernst dieser Erziehung forderte! „Fromme“ Väter und Mütter übergeben ihre Söhne einem „Beruf“, einem Geschäft, in welchem Gottes Gesetz für Null zählt, „fromme“ Väter und Mütter geben ihre Töchter Schwiegersöhnen, die alles, nur nicht den religiösen Sinn und den religiösen Wandel für das künftige Heil ihres Kindes bieten. Halbheit, Unentschiedenheit überall! — Aber es wird so schwer, inmitten aller der schwankenden Gegensätze ein ganzer Jude zu bleiben, inmitten aller der herüber und hinüber ziehenden Verhältnisse Geschäft und Haus jüdisch zu erhalten, vor allem so schwer, inmitten aller der dem gesetzestreuen Judentum feindlichen Einflüsse des Beispiels, der Verwandtschaft, des Umgangs, die Jugend für jüdischen Geist und jüdisches Leben zu erziehen und dann endlich so schwer, sie auf jüdischer Bahn  einem Beruf und einer häuslichen Selbstständigkeit zuzuführen. Freilich wird es schwer, aber eben das Schwere wartet auf uns, das Leichte macht sich von selbst und nur im Schweren bewährt sich die Treue und der Ernst. Leicht war es nie, Jude zu sein und seine Kinder dem Judentum zu erhalten. Unsere Väter hatten ganz andere Opfer zu bringen, in ganz anderen Versuchungen ihre Standhaftigkeit zu erproben. Uns hat Gott diese Prüfungen beschieden und wartet auf unseren Ernst. O, dass der Schofar-Ruf uns alle erfasste und uns zu der ganzen Entschiedenheit wachrüttelte, dass wir Gott, dem wir noch halbangehören, fortan ganz anzugehören wagten, uns los rissen von allen, unsere Gesetzestreue erschütternden Einflüssen, los von allen Verhältnissen, Rücksichten, Bedenken und Berechnungen, die uns in die jenseitige Richtung verlocken, und wir uns einmal entschlössen, ganze Juden zu sein! Siehe es ruft uns die Thekiah zu Gott, es mahnt uns Theruah zum Aufbruch, und es ermuntert uns die Thekiah, Gott zu folgen mit all unserer Habe, mit Weib und Kind, mit Geschäft und Haus, Gott zu folgen, dahin zu ziehen, wo die Bundeslade seines Gesetzes voranzieht, sein Heiligtum mitwandelt und seine Wolken- und Feuersäule Schutz und Segen am Tag und Licht und Leben in den dunkelsten Nächten unseres Daseins verheißt. Nur dort, dort, dort wohnt unser Heil, dort unser Segen, dort unsere Zukunft allein — — —

Und unser Gemeindeleben, wo ist es hingekommen, wo haben wir es hinkommen lassen während der Tage des „Gewölkes und des Nebels“, während der Jahre der Verirrung und Schwankung? Während die Häuser schwankten und die einzelnen sich besannen, haben fast überall Feinde des göttlichen Gesetzes, Gegner des jüdischen Heiligtums sich des Heftes der Leitung bemächtigt, haben Regierungen, die bis dahin die Judenheit wohl, nicht aber das Judentum knechteten, die Obervormundschaft des jüdischen Gottesheiligtums überliefert, sich aus ihren Händen die Bevormundung Gottes und seiner Gemeinde übertragen lassen und leiten nun das Heiligtum und die Gemeinde nicht dahin, wo die Gesetzesbundeslade zieht und wohin die Wolken- und die Feuersäule weisen. In großen Kaiserreichen wie in kleinen Landgemeinden sieht sich schon der gesetzestreue Jude in seinen heiligsten Angelegenheiten geknechtet, von den eigenen Brüdern geknechtet, kann nicht seinem Gott nach seinem Gewissen dienen, kann nicht seine Kinder nach seinem Gewissen erziehen, muss sie jerobeamischen[36] Geistlichen in die Hände geben, muss sie jerobeamischen Abfall beschwören lassen, darf sich keine gesetzestreuen Anstalten gründen, muss gesetzhöhnende Anstalten mit erhalten — solcher Zwang wird schon geübt, jahrelang geübt, teilweise offen angestrebt, und als ob das alles so sein müsse, als ob dieselbe Gefahr nicht überall drohte, kümmert uns das alles nicht, lassen wir uns dies alles gefallen, schütteln höchstens den Kopf, wenn wir davon hören, aber haben den Mut nicht aufzustehen, im Namen Gottes die Bevormundung abzuschütteln, im Namen Gottes unser Heiligtum zurückzufordern, im Namen Gottes uns und unseren Kindern die Gewissensfreiheit aus den Händen der uns knechtenden, vom göttlichen Gesetz abgefallenen Brüder wieder zu erkämpfen, haben den Mut nicht — aber o, dass der Schofarruf den Mut uns gäbe, uns aus unserer schlaftrunkenen Gleichgültigkeit aufrüttelte, die Gesetzestreuen überall zu Gottes-Gemeinden zusammen scharte! Es ist ja nicht nur der Einzelne, den er ruft, [37] וְתָקְע֖וּ בָּהֵ֑ן וְנֽוֹעֲד֤וּ אֵלֶ֙יךָ֙ כׇּל־הָ֣עֵדָ֔ה : Thekiah ruft die Gesamt-Gemeinde; [38] תְּרוּעָ֑ה וְנָֽסְעוּ֙ הַֽמַּחֲנ֔וֹת : Theruah weckt die Gemeinden zum Aufbruch; [39] תְּרוּעָ֥ה יִתְקְע֖וּ לְמַסְעֵיהֶֽם : und es werden die Gemeinden durch die schließende Thekiah geladen, der Bundeslade des Gesetzes und der das Gottesheiligtum schützenden Wolken- und Feuersäule in begeisterten Zügen zu folgen —

אַשְׁרֵ֣י הָ֭עָם יֹדְעֵ֣י תְרוּעָ֑ה יְ֝הֹוָ֗ה בְּֽאוֹר־פָּנֶ֥יךָ יְהַלֵּכֽוּן׃[40]

Heil allen, die den Theruah-Ruf verstehen

Und, Gott, im Lichte Deines Antlitzes wandeln!


[1] Numeri 10:3

[2] Numeri 10:5

[3] Numeri 10:6

[4] Jesaja 56:11

[5] Siehe Fußnote 4

[6] Exodus 24:5

[7] in einem Wutanfall

[8] zu lösende Aufgabe

[9] Numeri 10:3; “so wird die ganze Gemeinde zu dir hin beschieden“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[10] Versammelt euch bei mir

[11] Siehe Fußnote 2

[12] Numeri 10:6; „Terua bläst man zu ihren Aufbrüchen“(Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)

[13] Psalm 144:12; “unsere Töchter wie geschnitzte Ecksäulen nach der Bauart eines Tempels“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[14] Mutter Mosches

[15] Mosches Schwester

[16] Richterin

[17] Mutter des Propheten Samuel

[18] Ein Synonym für die „Jüdischen Frauen“

[19] ????????

[20] Räucheraltar

[21] Schaubrottisch

[22] Leuchter

[23] Thora

[24] Hohelied 2:9; „Da steht er hinter unserer Wand, schauend durch die Fenster, lugend durch die Gitter.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[25] Rituale, die im Zusammenhang mit den Opferungen im Tempel stehen

[26] Rituelles Gefäß zum Reinigen der Hände und Füße

[27] Staats-Kirchenvertrag

[28] dulden, Nachsicht üben

[29] Pfarrer, Pastor, Abt

[30] Pirke Avot 1:19

[31] Thora und Gebote

[32] Psalm 97:11; „Ein Licht wird den Gerechten gesät“

[33] Ebenda: „und die redlichen Herzens sind, Freude.“ (das sind die einleitenden Worte zum Kol Nidre)

[34] Exodus 24:7

[35] Jesaja 49:3

[36] Jerobeam war der erste König des Nordreiches Israel und führte den Götzendienst in seinem Reich ein.

[37] Numeri 10:3

[38] Numeri 10:5

[39] Numeri 10:6

 

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