Der im vorherigen Artikel „Die jüdische Wegzehrung“ erwähnte Psalm wird hier komplett wiedergegeben. Die erste Übersetzung ist von Rabbiner Dr. Simmon Bernfeld (1860-1940). Von 1885 bis 1894 war er Rabbiner und später Oberrabbiner der sephardischen Gemeinde in Belgrad. Danach lebte er in Berlin als Privatgelehrter. U.a. war er Redakteur des Gemeindeblattes der Berliner jüdischen Gemeinde. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beerdigt. Die zweite Übersetzung ist von Rabbiner Hirsch.  Im Anschluss an den Psalm habe ich Auszüge aus dem Kommentar zu diesem Psalm von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l hinzugefügt.

מִזְמ֥וֹר שִׁ֗יר לְי֣וֹם הַשַּׁבָּֽת׃

Psalmlied. Für den Sabbat.

Ein Liedespsalm für den Schabbattag.

ט֗וֹב לְהֹד֥וֹת לַה‘ וּלְזַמֵּ֖ר לְשִׁמְךָ֣ עֶלְיֽוֹן׃

Gut ist es dem Herrn zu danken, und Deinen Namen zu lobpreisen, Höchster.

Gut ist es, Gott zu huldigen und Deinem Namen zu singen, Höchster!

לְהַגִּ֣יד בַּבֹּ֣קֶר חַסְדֶּ֑ךָ וֶ֝אֱמ֥וּנָתְךָ֗ בַּלֵּילֽוֹת׃

Zu verkünden am Morgen deine Gnade und deine Treue in den Nächten.

Am Morgen Deine Liebe zu verkünden und Treue in den Nächten.

עֲֽלֵי־עָ֭שׂוֹר וַעֲלֵי־נָ֑בֶל עֲלֵ֖י הִגָּי֣וֹן בְּכִנּֽוֹר׃

Auf dem Zehnsait und auf dem Psalter, zum Spiel auf der Harfe.

Mit vollem Ton und mit Leideston, auf Gedanken weilend mit der Harfe.

כִּ֤י שִׂמַּחְתַּ֣נִי ה‘ בְּפׇעֳלֶ֑ךָ בְּֽמַעֲשֵׂ֖י יָדֶ֣יךָ אֲרַנֵּֽן׃

Denn, Herr, du hast mich mit deiner Tat erfreut; ob den Werken deiner Hände juble ich.

Denn du hast mir Freude gegeben an deinem Werk, Gott! Dessen, was deine Hände wirken, bin laut ich froh.

מַה־גָּדְל֣וּ מַעֲשֶׂ֣יךָ ה‘ מְ֝אֹ֗ד עָמְק֥וּ מַחְשְׁבֹתֶֽיךָ׃

Wie groß sind deine Werke, Herr, wie tief deine Ratschlüsse.

Wie groß sind Deine Wirkungen, Gott, unendlich tief deine Gedanken!

אִֽישׁ־בַּ֭עַר לֹ֣א יֵדָ֑ע וּ֝כְסִ֗יל לֹא־יָבִ֥ין אֶת־זֹֽאת׃

Der Dumme versteht sie nicht, und der Tor sieht solches nicht ein.

Ein Vernunftloser versteht nicht, und ein Dünkelhafter sieht dies nicht ein:

בִּפְרֹ֤חַ רְשָׁעִ֨ים ׀ כְּמ֥וֹ־עֵ֗שֶׂב וַ֭יָּצִיצוּ כׇּל־פֹּ֣עֲלֵי אָ֑וֶן לְהִשָּׁמְדָ֥ם עֲדֵי־עַֽד׃

Wenn die Frevler wie Gras aufblühen und alle Übeltäter emporsprossen, so ist es, damit sie bald getilgt werden auf immer.

wenn Gesetzlose wie Gras aufblühen, wo alle Machtmißbrauch-Vollbringer sprossen, dass dies zu ihrer ewigen Vernichtung ist.

וְאַתָּ֥ה מָר֗וֹם לְעֹלָ֥ם ה’׃

Du aber bist ewiglich erhaben, Herr!

Du aber bleibst in der Höhe, in alle Zukunft hin, Gott!

כִּ֤י הִנֵּ֪ה אֹיְבֶ֡יךָ ה‘ כִּֽי־הִנֵּ֣ה אֹיְבֶ֣יךָ יֹאבֵ֑דוּ יִ֝תְפָּרְד֗וּ כׇּל־פֹּ֥עֲלֵי אָֽוֶן׃

Denn deine Feinde, Herr deine Feinde gehen unter, es zerstreuen sich alle Übeltäter.

Denn siehe, Deine Feinde, Gott, denn siehe, Deine Feinde gehen verloren, sich selber lösen alle Machtmißbrauch-Vollbringer auf,

וַתָּ֣רֶם כִּרְאֵ֣ים קַרְנִ֑י בַּ֝לֹּתִ֗י בְּשֶׁ֣מֶן רַעֲנָֽן׃

Und du erhöhst mein Horn wie das des Reëm; meine Verwelktheit [wird verwandelt] in einen grünenden Ölzweig.

während du wie Reem mein Horn hochhobst, ich sie mit immer frischer Wehe überdauere.

וַתַּבֵּ֥ט עֵינִ֗י בְּשׁ֫וּרָ֥י בַּקָּמִ֖ים עָלַ֥י מְרֵעִ֗ים תִּשְׁמַ֥עְנָה אׇזְנָֽי׃

Und es schaut mein Auge auf meine Widersacher, von den Bösewichtern, die wider mich aufstehen, hört mein Ohr [die Strafe].

Da denn an meinen Spähern mein Auge dies geschaut, so hören wider die, die als Übeltäter über mich aufstehen, meine Ohren:

צַ֭דִּיק כַּתָּמָ֣ר יִפְרָ֑ח כְּאֶ֖רֶז בַּלְּבָנ֣וֹן יִשְׂגֶּֽה׃

Der Gerechte blüht gleich Palmen; wie die Zeder auf dem Libanon schießt er empor.

der Gerechte, wie die Palme blüht er, wächst hoch wie eine Zeder im Libanon,

שְׁ֭תוּלִים בְּבֵ֣ית ה‘ בְּחַצְר֖וֹת אֱלֹקינוּ יַפְרִֽיחוּ׃

Gepflanzt im Hause des Herrn, in den Höfen unseres Gottes blühen sie.

hingepflanzt in Gottes Haus, treiben sie Blüte in unseres Gottes Höfen.

ע֭וֹד יְנוּב֣וּן בְּשֵׂיבָ֑ה דְּשֵׁנִ֖ים וְֽרַעֲנַנִּ֣ים יִהְיֽוּ׃

Selbst im Greisenalter sprossen sie, markig und frisch bleiben sie.

Noch im Greisenalter tragen sie Frucht, bleiben markvoll und immer frisch,

לְ֭הַגִּיד כִּֽי־יָשָׁ֣ר ה‘ צ֝וּרִ֗י וְֽלֹא־[עַוְלָ֥תָה] (עלתה) בּֽוֹ׃ 

Zu verkünden, dass redlich ist der Herr, dass an meinem Hort kein Tadel ist.

zu verkünden, dass gerade Gott ist, mein Fels, nicht an Ihm ein Unrecht sei.

Der Schabbat lässt immer aufs Neue die ganze Welt mit aller ihrer Mannigfaltigkeit als  פּוֹעֵל ה‘ als ein Werk des Einzig-Einen begreifen, und dieser Gedanke, wie er erhebend in seiner Großartigkeit ist, so ist er auch Quelle des freudigsten Bewusstseins der harmonischsten Einheit aller Gegensätze, in welche, ohne diesen Gedanken die Welt der Erscheinungen und Ereignisse auseinander ginge, und darum auch בְּמַעֲשֵׂי יָדֶיךָ אֲרַנֵּן , erfüllt mich auch alles einzelne, das von Deiner Hand geschehen und geschieht, mit lauter Heiterkeit. בְּמַעֲשֵׂי יָדֶיךָ sind nicht nur die Schöpfungswerke, sondern alles was Gott in der Natur und in der Menschengeschichte gestaltet.

Alles, was Gott in der Welt der Erscheinungen und der Ereignisse gestaltet, reicht weit hinaus über alle Vorstellungen von Macht und Weisheit, noch überragender ist aber die Tiefe der göttlichen Gedanken, die den Erscheinungen und Ereignissen zugrunde liegen, selbst, wo wir sie glauben ahnen zu können. Diese Gedanken sind die Folgen, die Ziele, Zwecke, Absichten, welche Gott mit allem was Er gestaltet und geschehen lässt, anstrebt, und die sich aus dem Zusammenwirken alles dessen, was geschieht ergeben. Die Welt der Erscheinungen und Ereignisse aber als eine Welt verwirklichter und sich verwirklichender Gottesgedanken und Zwecke zu begreifen und betrachten, das ist das mit dem Schabbat unmittelbar Gegebene, dessen wir uns mit dem Gedanken וַיְכֻלּוּ bewusst werden, mit welchen wir den Schabbat empfangen. Einen solchen, sich der Betrachtung der Welt der Ereignisse unter der Schabbat-Wahrheit sich darbietenden Gedanken, hebt das folgende hervor.

בַּעַר: der Vernunftlose, der tiergleich nur an äußeren sinnlichen Eindrücken haftet, כְּסִיל: der Eingebildete, der auch die unberechtigste Ansicht festhält. Beide sind der Belehrung unzugänglich. Der בַּעַר aus Unfähigkeit, der כְּסִיל aus Dünkel. Die Schabbatinstitution erwartet, dass wir weder בּוֹעֲרִים noch כְּסִילִים seien, weder am Sinnlichen haften, noch vom geistigen Dünkel erfasst seien. In beiden Fällen wäre die Belehrung, die der Schabbat bringen soll für uns verloren.

Der nun am sinnlichen Gegenstand haftende בַּעַר, wie der sich nach oberflächlichem Schein eine Ansicht bildende und festhaltende כְּסִיל, beide erblicken in dem zeitlichen Gedeihen und Gelingen des Schlechten und Gewalttätigen einen Protest gegen die Schabbatlehre von der Beherrschung und Lenkung der Welt durch einen einzigen, freien, allmächtigen Gott. Der Schabbatgeist aber lehrt, dass das Gewalttätige durch das sittlich Schlechte, und das sittlich Schlechte durch das Gewalttätige zugrunde geht, und in dem jederzeit das eine das andere somit seine eigene Geißel erzeugt, es zur Vernichtung des Schlechten und Gewaltigen gar keines besonderen Eingriffs in die Entwicklung der Dinge bedarf. רְשָׁעִים sind die Verfechter des Sittengesetzes, die nur dem sinnlichen Genuss und Vorteil huldigen. אָוֶן ist der Missbrauch der Macht, und פֹּעֲלֵי אָוֶן sind Machthaber,die ihre Macht missbrauchen und nur auf Mehrung ihrer Macht sinnen. Wenn die an Macht hervorragenden Spitzen der menschlichen Gesellschaft durch Missbrauch ihrer Macht das Beispiel geben, das nicht der sittliche Wert, sondern die Möglichkeit des Gelingens das Entscheidende für die Handlungen der Menschen sei, so wird ein solches Beispiel der Verachtung alles Sittlichen und die Anbetung des Gelingens in alle Schichten der Gesellschaft tragen, „um die gewalttätigen sprossenden Spitzen blüht das Gras der gewissenlosen Menge“, und selbst der Gewaltigste geht zugrunde, wenn er durch sein Beispiel die Menge um allen sittlichen Halt gebracht hat, und zuletzt keinen Menschen mehr hat, dem er trauen könnte. Und ebenso umgekehrt. Aus der Völkergesellschaft, die sich der Sittenverderbnis hingegeben, sind noch von je gewalttätige Machthaber hervorgesprossen, die sich als Tyrannengeißel der verderbten Menge bewährt haben. In beiden Fällen, das eine wie das andere führt לְהִשָּׁמְדָם עֲדֵי עַד, zu ihrer gegenseitigen, endlichen Vernichtung. Dazu bedarf es keines göttlichen Einschreitens. Ohne Sittlichkeit und Rechts-Achtung kann keine Menschengesellschaft bestehen. Das ist die Weltordnung, die Gott geschaffen, und an dieser Weltordnung geht das Unsittliche und Gewalttätige zugrunde.

Zu dieser Vernichtung des Unsittlichen und Gewalttätigen bedarf es des Einschreitens Gottes nicht. Gott bleibt in der Höhe und leitet zu der uns verhüllten, ihm vor Augen stehenden Heileszukunft als ה‘ seine Welt.

Zum Untergang des Schlechten bedarf es keines göttlichen Einschreitens, dessen Untergang hat Gott in seiner Weltordnung gegeben. Allein, dass das wehrlose Gute Sieger auf Erden bleibt, und durch die ihm innewohnende geistige sittliche Kraft alles andere überdauert, das ist die Wirkung besonderer göttlicher Fürsorge. Gottesfeinde gehen von selbst zugrunde, während Gott Israels „Horn“ Re´em gleich stark und siegesmächtig hob. Mit jedem Untergang von Feinden des Gottesreiches kommt das von Israel durch die Geschichte getragene Prinzip von der es sich Gott unterordnen Pflichtweihe des Lebens immer mehr zur Anerkennung und Herrschaft.

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