Zu den 10 Bußtagen wird in vielen Gemeinden im Morgengottesdienst der Psalm 130 eingeschaltet. Ich gebe hier diesen Psalm wieder in der Übersetzung von Rabbiner Dr. Simon Bernfeld s“l und von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l nebst Auszügen aus seinem Kommentar zu diesem Psalm.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/11118290.

שִׁיר הַמַּעֲלוֹת מִמַּעֲמַקִּים קְרָאתִיךָ ה‘:

Stufenlied. Aus den Tiefen rufe ich dich, o Herr!

Lied der Emporgänge. Aus Tiefen rief dich ich, Gott!

אֲדֹנָי שִׁמְעָה בְקוֹלִי תִּהְיֶינָה אָזְנֶיךָ קַשֻּׁבוֹת לְקוֹל תַּחֲנוּנָי:

Herr, höre an meine Stimme; möge dein Ohr die Stimme meines Flehens vernehmen.

Herr, höre auf meine Stimme, lasse deine Ohren wach bleiben für die Stimme meiner flehenden Bitten.

אִם עֲוֹנוֹת תִּשְׁמָר יָהּ אֲדֹנָי מִי יַעֲמֹד:

Wenn du die Schuld behalten willst, Jah — Herr, wer könnte bestehen?

Wenn Sünden du in deiner Weltregierung immer in Beachtung halten wolltest, Gott, — Herr, wer stünde vor dir!

כִּי עִמְּךָ הַסְּלִיחָה לְמַעַן תִּוָּרֵא:

Aber bei dir ist Vergebung, auf dass du gefürchtet werdest.

Denn bei dir ist die Vergebung damit du gefürchtet werdest.

קִוִּיתִי ה‘ קִוְּתָה נַפְשִׁי וְלִדְבָרוֹ הוֹחָלְתִּי:

Ich hoffe, Herr, auf dich hoffe ich, auf dein Wort harre ich.

Gott erhoffte ich darum wenn meine Seele hoffte, und seines Wortes war ich gewärtig.

נַפְשִׁי לַאדֹנָי מִשֹּׁמְרִים לַבֹּקֶר שֹׁמְרִים לַבֹּקֶר:

Ich hoffe auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen, als die Wächter auf den Morgen.

Meine Seele ist meines Herrn, mehr als die des Morgens harren harren des Morgens.

יַחֵל יִשְׂרָאֵל אֶל ה‘ כִּי עִם ה‘ הַחֶסֶד וְהַרְבֵּה עִמּוֹ פְדוּת:

Harre, Israel, auf den Herrn, denn bei dem Herrn ist die Gnade und reichlich bei ihm Erlösung.

Warte darum Jisrael auf Gott; denn bei Gott ist die Liebe und in unendlicher Fülle bei ihm die Erlösung.

וְהוּא יִפְדֶּה אֶת יִשְׂרָאֵל מִכֹּל עֲוֹנֹתָיו:

Er wird Israel erlösen von all seiner Schuld.

Er wird Jisrael erlösen aus allen seinen Sünden.

V. 1. שיר המעלות וגו. Von der Heiterkeit im Leid, von dem Glück im Unglück, von der stillen Seligkeit, die in jüdischen Herzen und Hütten mitten in den dunkelsten Galutnächten wohnen könne, davon haben bereits vorangehende Lieder gesungen[1]. Von einem haben sie bis jetzt geschwiegen, von dem, das selbst dem glänzendsten Glück die beglückende Kraft entreißt, das aber Unglück und Elend erst zum wahren, hoffnungslosen Elend gestaltet, und dieses eine ist: das Schuldbewusstsein. Welche Emporwege nun das jüdische Gemüt selbst aus Schuld belastetem Unglück, dieser tiefsten Elendstiefe, unverlierbar findet, das singt dieses Lied.

מִמַּעֲמַקִּים, aus der doppelten Tiefe, des Unglücks und der Schuld, habe ich dich und nur dich gerufen.

V. 2. אדני וגו, dass ich Dich „meinen Herrn“ nennen kann, dass ich meine Vergangenheit nur an dem Maß Deines Willens zu messen, und Gegenwart und Zukunft nur für das Maß Deines Willens bereitzustellen habe, — das Bewusstsein, dass, wie Du ewig mein Herr, so ich ewig dein Diener, zu Deinem Dienste berufen bleibe — eben dies Bewusstsein gibt mir die Zuversicht, dass selbst das tiefste Elend, in welches du in Folge meiner Versündigungen mich hast geraten lassen, nur Anlass und Mittel sein soll, mich aus meiner Verirrung wieder in den treuen Chor Deiner Diener emporzuarbeiten, du nicht nur meinen Hilferuf hörst, sondern gleichsam dein Ohr immer zu mir hinhorchen lässt, ob und wie ich mich wieder deines Wohlwollens würdig zu machen — das ist ja wesentlich התחנן, — bestrebt bin —

V. 3. ‚אם ובי. Wenn Du die eiserne Notwendigkeit des Kausalitätsgesetzes, die Du in Deiner ganzen übrigen Weltregierung, auf welche der Name ה‘ hinweist, walten lässt, auch für die Verirrungen der Menschen zur Geltung bringen wolltest, dass Böses immer Böses und Schuld immer Schuld fortwährend erzeugen müsste, und es keine Erlösung aus der Schuld und aus verschuldetem Übel gäbe, Herr“, wer stände vor Dir! Wo wäre schon längst die sündenfähige und sündigende Menschheit hingeraten, zu welchem nichtigen Traum wäre schon längst der bloße Gedanke an eine zum Dienst Gottes berufene Menschheit, an einen, zum Dienst Gottes, zum Gottesdiener berufenen Menschen verflogen! Eben dass Du den Menschen, dessen ganzer Adel in der Sündenfähigkeit, in der Möglichkeit des Abweichens von dem Guten, in dem Reiz, den auch das Schlechte für ihn hat, besteht, auf dass unter allen geschaffenen Wesen er allein mit freier Selbstbestimmung sich dem Dienst Gottes weihe, dem alle übrigen Wesen mit unabirrbarer Notwendigkeit dienen, dass Du den Menschen, den Sündenfähigen, eben an die Spitze aller Deiner geschaffenen Wesen, als Deinen ersten Diener berufen, das gibt die Gewissheit, dass Du selbst über die Sünde hinaus für Deine Menschen den Weg zu ihrer hohen, ewigen Bestimmung gebahnt hast, dass du Deinem gebietenden Gesetz die Liebe der Vergebung zugesellt, und Dein sündenfähiges Geschöpf mit der jederzeit möglichen Selbsterhebungsfähigkeit ausgestattet, und ihm Deine Verzeihung und Deinen Beistand in diesem Streben nach Erlösung aus den Banden der Sünde zugesichert hast.

B. 4. כי עמך וגו׳. Denn bei Dir ist die Verzeihung, damit du gefürchtet werdest. — keines Mittlers, keines Fürsprechers, keines stellvertretenden Opfers bedarf das Geschöpf, um sich mit seinem Schöpfer, seinem Vater und Herrn wieder zurecht zu finden; unmittelbar aus der tiefsten Tiefe sucht er selber sein verlorenes Kind auf, um es wieder in die Nähe seiner Liebe und seines Erbarmens emporzuheben, seine Vergangenheit auszulöschen, und ihm eine neue, von allen Folgen der Vergangenheit unberührte reine Zukunft zu schenken, in welcher er ferner „gefürchtet“ werde, fortan die gewissenhafte Treue und den seinen Willen frei erfüllenden Gehorsam finde die Sein Kind zu der Vergangenheit aus den Augen verloren. Nur bei Gott ist die Verzeihung, nur Er kann verzeihen; keines Sterblichen, selber ja der Vergebung Bedürftigen, Mund kann den Sünder rein sprechen, und noch viel weniger rein machen.[2] Nur Er, der so allmächtig als gnadenvoll ist, kann in der Fülle seiner Allmacht und Gnade für den Menschen das Wunder aller Wunder, die Tilgung der Folgen aus der Vergangenheit vollbringen, die Saaten der Schuld und des Unsegens, mit denen die Sünde des Menschen den Acker seiner Zukunft bestellt, nicht aufgehen, und den in Sünden Ergrauten die Reinheit und den Frieden wiedergewinnen lassen. Nur Er kann verzeihen, und er hat es dem jüdischen Bewusstsein verbürgt, dass Er verzeihe. Das ganze Dasein des jüdischen Volkes steht auf der Tatsache dieses unmittelbaren göttlichen Verzeihens, und gibt ihm bis in die tiefste Tiefe unverlierbar das Bewusstsein von dieser stets zu findenden göttlichen Vergebung mit hinab (Vgl. Pent. 2. B. M. – S. 573[3]; 3. B. M. zu K. 16:30[4]).

Darum ist auch die von gewisser Seite geflissentlich genährte Vorstellung irrig, und so tendenziösschlau als irrig, als hätte das Galuth-Jisrael mit seinem Tempel auch seine Schulderlösungshoffnung verloren, und wandere nun erlösungsarm und trostesbar auf Erden. Seinen Tempel hat es verloren, sein Gott und dessen Gesetz ist ihm geblieben, und harrt in jedem Augenblick sein, ihm für eine volle Zukunft seines alten Gesetzes auch die Fülle seiner alten Gnade zuzuwenden, „denn bei Ihm ist die Verzeihung, auf dass er fortan gefürchtet werde“ —

V. 5. u. 6. וגו׳ קִוִּ֣יתִי. „Gott war meine Hoffnung, wenn ich gehofft,“ spricht daher das Lied aus Israels Brust, „und Seines Wortes war ich gewärtig.“ Auch aus der Last der Schuld kenne ich keine andere Erlösung als Ihn, und harre bis sein Mund das „סלחתי“ spricht., נפשי לאדני „meine Seele ist meines Herrn!“ Darin liegt aller Ernst und alles Beseligende meines Innern, liegt mit dem Bewusstsein der Schuld zugleich die Hoffnung und die Zuversicht der Vergebung. „Meine Seele ist meines Herrn!“ In der ganzen ausgesprochenen Voraussicht meiner Mangelhaftigkeit hat Er doch mich für den ewigen Dienst Seines Erziehungswerkes an der Menschheit erwählt und sich angeeignet, und ich bleibe Sein, auch in meiner selbstverschuldeten Erniedrigung Sein, und in dem unverlierbaren Kern meiner Seele liegt der Zug, der mich ewig wieder zu meinem Herrn emporzieht, der mich mitten in meiner Nacht und mitten in der Nacht der Zeiten den Lichtpunkt, der seine kommende Nähe ankündigt, finden lässt, und meine Zuversicht in den Morgen seines Kommens ist größer und zuversichtlicher noch als die des nach Osten harrenden Blickes in der Nacht —

V. 7. u. 8. יחל וגו׳. Darum hofft nicht nur, darum wartet Israel auf Gott, seinen Herrn hin. Bei seinem „Herrn“ wohnt zugleich die „Liebe“, die nicht müde wird zu erlösen. Seine ganze Galuthleitung ist ja nichts als eine Erlösung seines Volkes von seinen Verirrungen, als ein Freimachen seines Volkes von der Schuld —


[1] Die vorherigen Psalmen

[2] Deshalb gibt es im Judentum keinen Beichtstuhl

[3] In der Morascha-Ausgabe S. 631, da heißt es u.a.: Ganz vor allem dürfte aber dieses (die Wiederbringung des Gesetzeszeugnisses), dem ersten Tempelbau vorangegangene Erlebnis durch die Erwähnung bedeutsam werden, dass hier bereits das größte Nationalverbrechen (der Tanz um das goldene Kalb) begangen und die höchste Gottesgnade wieder erlangt worden: ohne Tempel und ohne Opfer.

[4] „Denn an diesem Tag (Jom Kippur) soll er (der Tag selbst) Sühne über euch bringen, euch zu reinigen; von all euren Verirrungen sollt vor Gott ihr rein werden.“ Im Kommentar dazu heißt es u.a.: Jede Sünde hat eine doppelte Folge: Unheil im äußeren Leben, Verunlauterung des Inneren. Ohne Intervention des Allmachtswunders der göttlichen Gnade würde, in der auf Recht und Wahrheit gebauten Gotteswelt, jedes Unrecht in seinen Folgen den Untergang des Sünders herbeiführen und jede erste Sünde, die reine Seele fortschreitend, immer vertrauter und geneigter zur Sünde, immer sündhafter werden lassen.

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