Die Hawdolohkerze[1]

In der Zeitung „Der Israelit“ vom 04.03.1909 habe ich diese Geschichte gefunden. Der Autor zeichnet am Ende der Geschichte leider nur mit den Initialen R.L. Deshalb kann ich leider nichts über ihn in Erfahrung bringen.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2507978

Lange war die Hawdolohkerze so von Stadt zu Stadt und Haus zu Haus gezogen und war da­rüber alt und runzelig geworden[2]. Es war ihr ein hartes Lebenslos beschieden. Nirgends war ihres Bleibens mehr als wenige Augenblicke; dann hieß es wieder: wandere. Aber es waren ernste feierliche Minuten; der Abschied von Sabbat­frieden und -Freude hinein in sechs lange, schwere Wochentage mit ihren Mühen und Nöten. Und wo gabs die nicht? Weder Seide noch Purpur schrecken sie (die Mühen und Nöte) zurück; weder die hohen massiven Tore prunkvoller Paläste noch die goldbetreßten[3] Diener und Lakaien in den langen, teppichbelegten Gängen vermögen Frau Sorge den Eingang zu den ahnungslosen unglücklichen Menschen zu ver­wehren. Hawdolohkerze aber hatte nicht nur helle, scharfe Augen, sondern auch ein weiches fühlendes Herz; und mit großen Tränentropfen in den langen schwarzen Wimpern und einem tiefen Seufzer pflegte sie dann immer Abschied zu nehmen nach ihrem kurzen Besuch.

Nun war das Ende ihrer Tage gekommen, und sie wünschte sich so sehnlichst aus der Tiefe ihres Herzens, noch einmal einen Menschen recht, recht glücklich zu machen. Dann wollte sie gerne sterben. — — —

Es war tief im Winter. Am Fuß der Rhön liegt einsam und im Schnee vergraben ein kleines Dorf. Ganz draußen, von allen Seiten schon von weißen Feldern umgeben, steht, etwas erhöht, noch ein letztes Häuschen. Hoch hinauf sind seine Fenster mit Schnee verweht und die gefrorenen Scheiben blicken wie große trübe Augen in die Dämmerung. Drinnen aber ist ein warmes, freund­liches Stübchen im Sabbatkleid, und die stür­menden Schneemassen, die vor dem Fenster wirbeln, und das Pfeifen des Windes machen das Zwielicht nur noch heimlicher und die Sabbat­ruhe noch tiefer und inniger. Im Ofen knistert das Feuer und spielt mit tanzenden Lichtern auf den zinnernen Tellern und Kannen gegenüber auf der alten Kommode aus Kirschbaum. Die große Standuhr tickt gleichmäßig und schwermütig. Sonst aber ist’s still im sonst so munteren Kreise. In der Ecke beim Fenster nämlich steht ein Krankenbett. Schier eine Woche schon liegt klein Rachelchen im Fieber. Umsonst hofft man von Tag zu Tag auf Besserung und mit Bangen sieht man dem Abend entgegen; denn schon be­ginnt langsam die Fieberhitze wieder anzusteigen. Die Mutter legt kalte Tücher auf die brennende Stirn; der Vater sitzt am Bettrand, während das Kind, mit geschlossenen Augen, wie im Schlaf daliegend, mit seinen heißen Händchen ihn krampf­haft bei der Hand hielt. „Gelt Vater,“ begann es da leise zu stöhnen, während die Fieberglut mehr und mehr das schmale, zarte Gesichtchen zu bedecken begann, „du gehst heute nicht fort von mir; nur heute nicht; ach nein, bleib doch; nur diesmal noch!“ und fröstelnd schauderte es zu­sammen. „Ja mein Kind, ich bin ja bei dir“, erwiderte der Vater mit seiner tiefen weichen Stimme, dann ward’s wieder still wie zuvor; nur die Atemzüge tönten rascher und schwerer aus den Kissen.— — —

Hatte das Kind geahnt, daß es umsonst bat? Gleich nach Hawdoloh mußte der Vater ja fort. Drei Stunden nächtliche Fahrt mit der Post zur nächsten Bahnstation, um morgen früh an Ort und Stelle zu sein. In wenigen Tagen wollte er wieder zurückkommen. Aber fort mußte er, ohne Aufschub. Es stand zu viel auf dem Spiel. Selbst die Mutter hatte nicht mehr den Mut, um Verschub zu bitten. Und düstere Gedanken drängten sich in dem übervollen Herzen des schwer geprüften Mannes.

„Vater, Vater, sieh dort die langen, schwarzen Männer! jetzt, jetzt fassen sie mich[4]; nein, nein, bleib! ach, du gehst — fort — von mir.“

„Nein, mein Kind, nur Hawdoloh will ich ja machen; du weißt doch, mit der schönen leuch­tenden Kerze,“ erwiderte sanft und bewegt der gequälte Mann, und machte sich sanft aus der zitternden Hand seines Lieblings los. —

Traumverloren blickte der Vater ohne Unter­laß noch immer in die brennende Kerze, als ge­traute er sich nicht, sie auszulöschen. Im Geiste mochte er wohl die angeschirrten Postpferde sehen, wie sie auf dem dürftig erleuchteten Marktplatz ungeduldig im Schnee scharrten; und nur die Kerze brauchte zu verlöschen, dann mußte er von seinem Liebling Abschied nehmen. Und ein banges, wehes Gefühl sagte ihm ganz leise: — vielleicht für immer. Und sie, die gute Hawdolohkerze, nahm heut wirk­lich ihre ganze trauliche Schönheit zusammen und leuchtete so freundlich und friedlich, als ob sie sagen wollte: „Bringst du’s übers Herz, mir was zu Leide zu tun?“ Und wirklich fand heut niemand den Mut dazu, und eine stille Träne rollte dem Vater in den graumelierten Bart. Da plötzlich — ein Peitschenknallen drüben vom Postgarten her! und rasch, wie jäh erwachend, drückt der Vater das brennende Wachslicht in den weinbenetzten Teller, daß es laut aufschluchzt. Die Mutter wankt zur Tür, hilft dem Vater in Pelz und Überschuhe; jetzt noch ein feuchter Blick nach dem Bett und — da dröhnt von der eisernen hartgefrorenen Brücke her der gleichmäßige Huf­schlag der Postpferde, die im gewohnten gleich­mäßigen Trabe das Dorf verlassen. — Eine Möglichkeit zur Reise gabs heute nicht mehr. —

Am anderen Morgen lag das Kind in tiefem, wohltuenden Schlafe an der Brust des Vaters. Die Nacht hatte die Krise und damit die Wendung zur Besserung herbeigeführt.

Als man dann am nächsten Sabbat-Abend wieder Hawdoloh machte, saß klein Rachelchen am Tisch und blickte verklärten Auges in das Licht, als ob es wüßte, was es ihm schuldig wäre. Aber auch der Vater und der ganze Kreis rings­um blickte sinnend und innig hin, wie auf einen lieben alten Bekannten, der so traut zu einem sprach. Und wieder dachte keiner dran, die Kerze zu verlöschen. Die aber war nach ihrer letzten Anstrengung so klein geworden, daß man sie heute schon auf ein Hölzchen stellen mußte, um sie nur halten zu können. Und doch kam allen heut ihr Licht so freudig und glänzend vor wie noch nie. Da — mit einem Mal ein Aufflammen — und aufgelöst sank sie in sich zusammen. Sie starb einen leisen Tod, umgeben von glücklichen, dank­baren Geistern, gerade so wie sie sich´s gewünscht hatte. Zum ersten Mal, daß sie beim Verlöschen nicht geseufzt hatte. R. L.


[1] Man beendet den Schabbat mit der Hawdala, der Unterscheidung zwischen der Heiligkeit des Schabbats und den nun beginnenden gewöhnlichen Wochentag. Dazu wird u.a. eine mehrfach geflochtene Kerze angezündet und am Ende der kleinen Zeremonie mit Wein ausgelöscht. Diese Kerze brennt nur wenige Minuten – doch trotzdem ist auch sie einmal zu Ende. Von dieser Kerze handelt diese Geschichte. Hawdoloh ist die aschkenasische Aussprache von Hawdala.

[2] Natürlich hat jede Familie ihre eigene Kerze – nur in der Geschichte geht sie halt auf Reisen.

[3] Wikipedia: „Eine Tresse (aus dem Französischen) ist ein aus Gold- und Silberfäden oder auch mit Seide, Lahn und Kantille gewebter Bandstreifen oder eine Borte zum Besatz von Kleidungsstücken,”

[4] Eine Anspielung an den Erlkönig von Goethe: „Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an“

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