Von Rabbiner Dr.  Joseph Breuer.

Dr. Joseph Breuer (1882-1980) war u.a. Leiter der von seinem Vater Salomon Breuer (Schwiegersohn von Rabbiner Hirsch und sein Nachfolger in Frankfurt am Main) gegründeten Jeschiwa. Nach der Kristallnacht floh er mit seiner Familie über Antwerpen nach New York, wo er die Synagogengemeinde „Khal Adath Jeshurun“ in Washington Heights nach dem Vorbild der Gemeinde in Frankfurt am Main gründete und dort als ihr erster Rabbiner fungierte.

Dieser hier wiedergegebene Artikel aus der Zeitschrift „Nachalat Zwi“ Heft 1, aus dem Jahr 1930 sollte wohl der Beginn einer Reihe von Aufsätzen werden, die eine Niederschrift seiner Vorträge sein sollte, die er in Frankfurt im Jahr 1925 über „Jüdische Lebensweihe“ gehalten hat. Leider habe ich in den weiteren Ausgaben der Zeitschrift „Nachalat Zwi“ keine diesbezüglichen Artikel mehr gefunden.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2551512. Der Text wurde dem heutigenSprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.

—————————————————————————————————————————————————-

In schlichter Darstellung und zwangloser Folge möchten wir den Nachweis erbringen, welche unschätzbare Bereicherung unsere jüdische Lebensanschauung durch Auswertung der in den Werken Rabbiner Hirschs זצ״ל niedergelegten Fundamentalwahrheiten erfährt.  Dass Geist und Seele einer heranwachsenden Jugend sich ihnen empfänglich erschließt und ersehnte Lebensnahrung in ihnen findet, hat langjährige Erfahrung mir stets aufs Neue gezeigt. 

————————————————————————————————————————————–————-

Auch dem oberflächlichen Beobachter entgeht es nicht, welch ungewöhnliche Weihe über jüdisches Leben ausgebreitet liegt und allen Momenten des Lebens das Gepräge verleiht.  Und die Entfremdeten,  die im tollen Rausch der Stunde dieses Leben von sich gewiesen haben, wären sie der Besinnung zugänglich – ach,  die wenigsten sind es -,  wären sie ehrlich zu sich selber,  zögen sie es nicht zumeist vor,  sich selber zu belügen,  sich so lange wie nur möglich im Zustand des Rausches und der Selbsttäuschung zu erhalten,  sie würden mit jähem Schrecken erkennen,  wie weihelos und inhaltlos das Leben ist,  das sie ergriffen,  wie erbärmlich oft die Ziele,  für die sie mit dem Einsatz ihres Lebens kämpfen. 

Wie kommt es, dass dem jüdischen Leben diese ungewöhnliche Weihe innewohnt und ihm so lange bewahrt bleibt, als nicht gedankenlose Gewissenlosigkeit dieses Leben zu einem Hohn auf jüdisches Leben verzerrt?

Weil jüdisches Leben jeden Augenblick des Daseins unter einem höheren Gedanken begreift, weil es ein höchstes Lebensziel, eine große, heilige Lebensaufgabe ist, dem jeder Pulsschlag des Herzens, jede Regung der Seele,  jeder Splitter der Habe vom ersten bis zum letzten Atemzuge dient.

Das Leben jedoch, das draußen sich abwickelt und jeden in seine Wirbel reißt, ist eben nur zu sehr geeignet, die Weihe des jüdischen Lebens zu morden.

Und es ist nicht allein das fremde, unjüdische Leben, das uns mit seinen Einflüssen umdrängt. In uns selber lauern die Feinde des jüdischen Lebens,  gegen die sich zu wappnen Selbsterhaltung gebieterisch fordert,  so wir nicht Gefahr laufen wollen,  unser Köstlichstes schmählich zu verlieren: und es ist die Gedankenlosigkeit und die Bequemlichkeit,  die Schwäche und das Streben,  es anderen gleich zu tun,  die an dem stolzen jüdischen Lebensbaum nagen, oder gar die entsetzliche Gier und der unstillbare Machthunger,  unter deren Herrschaft der letzte Hauch jüdischer Lebensweihe erstirbt.  —

Dazu darf es nicht kommen! Jüdisches Leben nimmt den Kampf auf mit seinen grimmigen Feinden und ruht nicht, bis es sie überwunden und im stolzen Hochgefühl des errungenen Sieges seine Bahn zu vollenden vermag.  Deshalb ruft es uns in jedem Augenblick auf, die Weihe unseres Lebens zu erneuern: aus der immer wieder erneuten Lebensweihe fließen uns die Kräfte, den Kampf mit den Feinden des jüdischen Lebens aufzunehmen und siegreich zu bestehen.  Dann aber gilt es vor allem das Fundament auf seine Festigkeit zu prüfen, auf dem unser jüdischer Lebensbau sich erhebt.

I.

Wir alle, die eine jüdische Mutter geboren, sind mit unserer Geburt Juden und müssen doch alle erst Juden werden, d.  h.  wir müssen immer bewusster in unsere jüdische Lebensbestimmung hineinwachsen.

*  *
*

Wenn an unserem Auge,  das in die Geschichte unseres Volkes hineintaucht,  der stolze Zug gefeierter Geistesfürsten vorüberzieht, die den jüdischen Namen verherrlicht und der jüdischen Lebensbestimmung ihre ganze Lebenskraft geweiht haben,  dann lasst uns keinen Augenblick vergessen: keiner,  der als bewusster Jude geboren,  keiner,  der den Weg zum Sinai sich nicht hat erkämpfen müssen,  um schließlich in der innigen Aufnahme des göttlichen Lebenswillens und seiner restlosen Verwirklichung des Lebens einzige Erfüllung zu erblicken.

*  *
*

Der Weg zum Sinai erschließt sich dem denkenden Juden nicht mit mathematischer Notwendigkeit.  Denn dann wäre Judesein keine sittliche Aufgabe.  Alle Sittlichkeit rechnet mit der Möglichkeit des Andersseins.  Seitdem Gott den Menschen als Menschen in feine Schöpfung hineingesetzt hat, hat Gott mit dieser Tatsache gerechnet.

Der Abschnitt von Korach bildet einen bedeutsamen Teil unseres göttlichen Lebensbuches: von Anfang an hat der Gotteswille damit gerechnet, dass jüdische Menschen auch den Mut finden werden, Gott und seinen Willen zu verleugnen und ihm den kecken Hohn vermessener Auflehnung entgegenzusetzen.

*  *
*

Welchen Weg nimmt eine gesunde jüdische Lebensentwicklung? Wer so glücklich ist, Eltern zu besitzen, die sich ihrer jüdischen Lebensaufgabe bewusst sind, sieht sich von frühester Kindheit „mit beiden Füßen“ in das jüdische Leben hineingestellt: er erlebt zumeist Judentum, er wird nicht lange gefragt, mit gebieterischem Ernst heischen göttliche Sonderungen seinen Gehorsam.  Mit erwachendem Bewusstsein wird das „warum“, das „wozu“ auf kindlichen Lippen sich regen.  Eltern werden solche Fragen freudig begrüßen, werden in ihnen Zeichen nachdenklicher Besinnlichkeit erblicken, und wo sie sich nicht von selber einstellen, werden sie ihr Bestes daransetzen, sie bei jeder Gelegenheit zu wecken.  Denn so selbstverständlich es ist, dass das gesunde Kind allen Erscheinungen seiner Umwelt staunend und fragend gegenübersteht, so muss auch das jüdische Leben seine geistigen und seelischen Kräfte aufs tiefste bewegen.

*  *
*

Nicht Gewöhnung, nicht pietätvolle Erinnerung soll die heranwachsende Jugend an ihre jüdische Lebensbestimmung binden.  Es stünde traurig um unsere Zukunft, wenn jedes junge Geschlecht, statt mit freudigem Stolz die sturmerprobte Fahne der jüdischen Lebenswahrheit aufzugreifen, um in ihrem Zeichen die Palme des Lebenssieges sich zu erringen, mit geknicktem Willen und erloschenem Seelenfeuer, nur umweht vom Vergißmeinnichtduft verklungener Kindheitstage, den überkommenen jüdischen Lebenspflichtenschwächlichen Gehorsam zollte.

*  *
*

Man wundere sich nicht, dass so viele in den entscheidenden Jahren ihres Lebens der Thora[1] den Rücken kehren.  Dieses Gottesbuch rechnet mit einer seelischer Einstellung, die sorgfältig gepflegt werden will, da sie die unerlässliche Vorbedingung darstellt, unter der Thora freudige und sehnsuchtsvolle Aufnahme findet.  Man reiche dem Satten die köstlichste Nahrung, er wird unangeregt an ihr vorübergehen.  Nur der Dürftige wird nach dem Wasser sich sehnen und es qualvoll missen.  Mit diesem Hunger, mit diesem Durst rechnet unser göttliches Lebensbuch.  Ihn gilt ’ s zu wecken. Hier liegt das Geheimnis aller erfolgreichen Einwirkung auf die jugendliche jüdische Seele.  Ist erst das gelungen, dann mag man ruhig der Kraft des Gotteswortes vertrauen, dass es seine jugendlichen Träger fürs Leben sich vermähle.

*  *
*

Wessen Seele sich den geheimnisvollen Rätseln erschlossen hat, die Natur und Geschichte und das eigene Leben in allen seinen Erscheinungen offenbaren,  wer die überwältigenden Wunder der Natur mit heiligen Schauern erlebt und mit König David (Ps. 19) tief aufhorchend die allmächtige Sprache der schöpferischen und zielsetzenden Gottheit vernommen hat, wird auch sich als Glied dieser Gottesschöpfung begreifen und die Deutung seines gottgewollten Lebens von der liebenden Vaterstimme Gottes ersehnen.

*  *
*

Gott wäre nicht Gott, und nimmer eignete ihm Gerechtigkeit und Liebe, spricht jüdische Erkenntnis, wenn jedes Geschöpf, das den Gotteswillen offenbarende Gesetz seines Lebens in sich trüge und nur der Mensch hinausgestoßen wäre in Nacht und Zweifel und jeden Augenblick Gefahr laufen müsste, sein Leben hoffnungslos zu verlieren! Von tausendmal tausend Fragen gepeinigt, schreit die in trostlose Nacht versinkende Seele zu Gott empor, dass Er sich ihrer erbarme und das Leben ihr deute — und mit jedem Wort, das aus göttlichem Lebensbuch tönt, senkt Gott „Lebenskeime“ (הרה : תורה und ירה zugleich) in sie,  dass aus ihnen Leben erblühe.  Weil dieses „Lebensbuch“ Leben deuten, Antwort geben will der fragenden Seele, ist es „allumfassend“, keine Erscheinung des Lebens, die von ihm nicht göttliche Prägung erhielte — wäre es sonst „Thora“, „Wissenschaft vom Leben“?

„Gottes Thora allumfassend, sie will Antwort geben der fragenden Seele “ (Ps. 19).  – Von diesem Jubelhymnus hat die von Genus und Besitzerraffung befriedigte und damit freilich verschüttete jüdische Seele keine Ahnung, und vernimmt sie ihn, dann schleicht sich ihr vielleicht gar frivol und erbärmlich jenes unheimlich lästernde Wort auf die Lippen:  „Sind doch nur Satzungen für Satzungen,  Richtschnur für Richtschnur,  Kleinigkeit hier,  Kleinigkeit dort,  dass man durch sie im Leben strauchle,  gebrochen,  verstrickt und gefangen werde — ״ ( Jes. 28).

*  *
*

Jüdisches Bewusstsein kann Gott nicht denken, ohne als bald seinen Willen zu ersehnen.  Denn was wäre Gott,  wenn Ihn nicht sein uns offenbarter Wille bezeugte: das Gottesbuch ist Gottes „Zeugnis“ (עדות),  denn aus seinem Willen allein spricht Gott zu uns,  aus seinem Leben gestaltenden Willen,  mit dem Gott dem Menschenleben Sinn und Berechtigung verleiht,  strömt uns die beglückende Berechtigung,  von Gottesweihe,  von Gottesführung sprechen zu dürfen,  die sich unserer Ratlosigkeit annimmt,  uns zu führen bereit ist,  wo wir rettungslos uns verirren müssten,  und unsere Seele den Einflüssen entziehen will,  denen sie sonst haltlos preisgegeben wäre.  Mit der kindlichen Sehnsucht nach sicherer Geborgenheit ergreift sie in süßer Innigkeit die Gottesrechte, um sich von ihr durch die Rätselwelt des Lebens geleiten zu lassen.  Das heißt der Gottesführung אמונה rückhaltloses Vertrauen entgegenbringen. Dem verarmten jüdischen Gedanken schrumpft dieses Glutwort zum armseligen „Glauben“ zusammen.  Dann aber wundere man sich nicht, wenn diese wurzellose Blume dem losen Anhauch der ersten Gassenbuben zum Opfer fällt.

*  *
*

„Gottes ist die Erde und was sie füllt und auch die Menschenwelt und ihre Bewohner״ (Ps. 24) — mit dieser grundlegenden Erkenntnis rechnet dein göttliches Lebensbuch,  sie in dir zu wecken, führt es dich durch Natur und Geschichte,  dass sie mit ihren ewigen Rätseln und Wundern deine Seele erfüllen,  die sie erdrücken würden, wenn Gott nicht die unerträgliche Last von ihr nähme: weil sie von Gott als Gotteswelt dir gedeutet wird,  erschließt sich dir einzige Lebensmöglichkeit,  fällt unendliches Licht in die Nacht deines Lebens. — Hat sich dir, weil vom Atem göttlichen Schöpfungswillens umweht, Natur in einen einzig großen „heiligen Berg“ gewandelt, erahnst du, wo Menschengeschlechter ihre dunklen Wege ziehen, Spuren göttlichen Willens, dann wird dieses Gottesbuch ruhig des Augenblickes harren dürfen, da du mit verzehrender Sehnsucht weitere Erkenntnis aus ihm zu schlürfen begehrst.

„Wer darf ersteigen diesen Gottesberg, wer bestehen auf seiner heiligen Stätte?“ Das ist die große Frage, die dann alsbald Antwort heischend dich ganz erfüllt.  Über Gottes Eigentum schwebt für immer Gottes alleiniger Wille, und nur vermessener Wahnwitz könnte sich erkühnen, mit Nichtachtung dieses Willens in Gottes Welt sich zu ergehen und an Gottes Gut sich eigenwillig zu vergreifen.

Und horchst du hin auf die reine, unverfälschte Stimme deiner ihrer Gotteskindschaft bewussten Seele, dann sagt dir dein, man nennt ’ s gemeiniglich so, dein „religiöses Gefühl“, dass fortan „rein bleiben müssen deine Hände, lauter dein Herz, nimmer dem Nichtigen nachjagen dürfe dein Leben, noch sich hingeben dem Trügerischen“ (das.) — Im selben Augenblick aber erfasst dich jüdische Wahrheit mit wuchtigem Ernst und zerreibt den Nebelschleier unheilvoller Selbsttäuschung: wer gibt dem Menschen Gewissheit, dass seine Hände rein und sein Herz lauter in seinen Bestrebungen sich erhalten und sein Leben nicht trügerischem Schein und täuschender Lüge sich vermähle und damit dem Gotteswillen für immer sich entfremde?  Nicht Gefühle, und wären sie noch so echt und tiefempfunden, retten vor Täuschung und vermöchten den Gotteswillen ahnend zu erfinden.  Ihn kann nur Gott allein dir reichen.  Dann aber musst du den Weg gehen, den dein Volk dir weist, musst den Gotteswillen dort suchen, wo er allein zu finden ist: in Gottes dir geoffenbarter Thora.  —


[1] Im Original verwendet Rabbiner Joseph Breuer das Wort Thauro. Das ist die aschkenasische Aussprache

  • Beitrags-Kategorie:Artikel