Dieser Artikel ist der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 16. März 1864, 5. Jahrgang, Heft 11 entnommen. Diese wöchentlich erscheinende Zeitung wurde von dem Mainzer Rabbiner Dr. Marcus Lehmann s“l herausgegeben. 1870 fusionierte die Zeitung mit der Zeitung „Jeschurun“ und wurde danach auch auf Hebräisch und Jiddisch herausgegeben. Dadurch wurde die Zeitung auch über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt und gelesen. Im Herbst 1938 wurde die Zeitung durch die Nationalsozialisten verboten.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
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(Zum Purimfeste.)

Das herannahende Fest vergegenwärtigt uns einen Zeitpunkt der jüdischen Geschichte, in welchem der Untergang des israelischen Volkes unabwendbar schien. Die Israeliten sind ihres Vaterlandes beraubt, leben in der Verbannung zerstreut in einem Land, das unter der unumschränkten Herrschaft ihres größten Feindes steht; dieser sieht sich am Ziel seiner Wünsche; der schwache König fragt nicht einmal nach dem Namen des zu vernichtenden Volkes. Was kümmert einen persischen König, der über 127 Nationen herrscht, die Existenz eines Volkes, dessen Vernichtung der Hass seines Lieblings[1] fordert! Haman, der Erbfeind Israels, der Amalekiter, der Nachkomme eines von den Juden entthronten Königs (Agag[2]), ist im Besitz der höchsten Macht und unermesslicher Reichtümer; er ist klug und verschlagen, während der schwache Ahasver[3] nur das Schattenbild eines Königs ist. Er hat die unbeschränkteste Vollmacht zu tun, was ihm beliebt; er erhält den Siegelring des Königs, mit dem er die Mordbefehle untersiegelt; Eilboten bringen diese überallhin, wo Juden wohnen; die zahlreichen Feinde derselben triumphieren, freuen sich der bevorstehenden „Judenschlacht“, schwelgen schon in der Erwartung der reichen Beute. Die unglücklichen Juden sind vom sichersten Tode bedroht; sie schauen sich um nach Hilfsmitteln und finden keine. Zerstreut wohnen sie inmitten zahlreicher Feinde. Widerstand ist unmöglich, Einfluss auf den König besitzen sie nicht; die Völker, unter denen sie weilen, kennen nichts als die Befehle, die von den Gewalthabern kommen, und diese Mordbefehle stimmen nur zu sehr mit ihren Wünschen überein — da bleibt den Nachkommen Jakobs nichts übrig als der Aufschrei zu ihrem Vater im Himmel, und Gott hilft, denn Israel kann nicht untergehen, wenn nicht zugleich die ganze Schöpfung vernichtet werden sollte, ja, mehr noch als das, wenn nicht auch alle die erhabenen Ziele vernichtet werden sollten, die durch die Schöpfung, Erhaltung und Entwicklung der Welt haben erreicht werden sollen.

In wundervoller Weise bezeichnen diesen Gedanken unsere Weisen im Midrasch Rabbah[4] zu Esther. K. 3, V. 7: „man warf das Los vor Haman von Tag zu Tag„. Sie bemerken hierzu:

„Zuerst warf Haman das Los um die Wochentage (zu bestimmen) denn also heißt es: „von Tag zu Tag“. Und als er nun mit dem ersten Wochentag begann, da trat dieser vor dem Heiligen, gelobt sei Er, und sprach: „Herr der Welt! an mir wurden Himmel und Erde geschaffen, und Du hast gesprochen: (Jerem. K. 32, V. 25) Wenn mein Bund nicht wäre, so hätte ich Tag und Nacht, die Gesetze von Himmel und Erde nicht eingesetzt. Israel aber trägt Deinen Bund an seinem Körper und in seinem Mund; den Bund der Beschneidung an seinem Körper und den Bund der Gotteslehre in seinem Munde. Hast Du nicht durch Deinen Propheten verheißen (Jerem. K. 31, V. 35 u. 37): Also hat Gott gesprochen: So wenig man die Himmel droben ausmessen und die Grundpfeiler der Erde tiefunten erforschen kann… also sollen auch die Nachkommen Israels nicht aufhören ein Volk zu sein vor Mir all die Tage? — Und dieser Bösewicht (Haman) will Dein Volk vernichten? So zerstöre denn erst Himmel und Erde und nachher vernichte es.“

Als nun das Los den zweiten Tag traf, da trat dieser vor den Heiligen, gelobt sei Er, und sprach: Herr der Welt! am zweiten Tage hast Du geschieden die oberen Gewässer von den unteren Gewässern; also sind auch die Israeliten geschieden von den Nationen der Welt, denn also heißt es (3. B. M. K. 20, V.26): Und ich habe euch geschieden von den Völkern, auf dass ihr mein seid. — Und dieser Bösewicht will deine Kinder vernichten? Erst kehre um das Oben und das Unten in deiner Welt, und nachher vernichte sie.

Als nun das Los den dritten Tag traf, da trat auch dieser hin vor dem Heiligen, gelobt sei Er, und sprach: Herr der Welt! am dritten Tage wurden dir Saaten erschaffen, von denen die Israeliten die Heben und Zehnten spenden, und die Bäume, mit deren Zweigen und Früchten sie das Hüttenfest vor Dir feiern; an ihm sammelten sich die Gewässer des Meeres, das vor Israel gespalten wurde — wenn nun Israel verschwinden sollte, wie könnten die alle bestehen?

Und der vierte Tag sprach: An mir wurden die Himmelslichter erschaffen, die da erleuchtet werden vom Lichte Israels (d. h. die da sind ein Abglanz des großen geistigen Lichtes, der Thora), denn also heißt es (Jesaias K. 60, V. 3): Zu Deinem Lichte wallen Völker, und Nationen zu Deiner Strahlen Glanz; es wurden erschaffen die Sterne, denen Deine Kinder gleichen; wenn Du Israel vernichtest, wie können die alle bestehen? —

Und der fünfte Tag sprach: Am fünften Tage wurden Vögel und Tiere erschaffen; von einigen unter diesen hast Du befohlen, Opfer darzubringen; dadurch gewährst Du Sühne und Gnade den Menschen. Wenn nun Israel aufhört zu sein, wer soll da Opfer darbringen?

Und der sechste Tag sprach: Herr der Welt! Am sechsten Tage ward der erste Mensch erschaffen, dessen Namen Du vorzugsweise den Israeliten beilegst, denn also heißt es (Jechesk. K. 34, V. 31): Und ihr seid meine Schafe, die Schafe meiner Weide, Menschen seid ihr. Vernichte erst die ganze Menschheit, ehe Du Israel dem Verderben preisgibst.

Und der Schabbat sprach: am Schabbat wurde vollendet all Dein Werk, und Du setztest den Schabbat ein zum ewigen Zeichen zwischen Dir und den Söhnen Israels. Hebe den Schabbat auf, ehe Du sie vernichtest. —“

Im Vorstehenden wird die ganze Schöpfung, die Erhaltung der Welt und die Erreichung der erhabenen Ziele des Allweisen von der Existenz Israels abhängig gemacht; jeder der Schöpfungstage bringt das an ihm Erschaffene mit Israel in den innigsten Zusammenhang. Wie und in welcher Weise das begründet ist, werden wir im Folgenden zu erörtern versuchen.

 

I.

Wir sind weit entfernt davon, die müßige Frage aufwerfen zu wollen, מַה לְּפָנִים   was vor der Schöpfung war; wohl aber ziemt es sich, darüber nachzudenken, was wohl bei der Schöpfung im Plan des Allweisen das Bestimmende gewesen sein mag, natürlich, innerhalb der Grenzen, die dem beschränkten Menschengeist seine nicht weit reichende Einsicht stellt. Wir sind überall von kaum lösbaren Rätseln umgeben, ja wir tragen die Rätsel in uns, so zwar, dass wir oft das Geheimnisvolle derselben kaum ahnen. Auf diese Rätsel stoßen wir, wohin wir uns wenden; fassen wir nur einmal die ersten Worte des herrlichen Lobgedichtes näher ins Auge, das alltäglich nach dem Erwachen unser erstes Gebet ist und in jeder Nacht der Seele die letzte Erhebung bietet, ehe der fromme Israelit die müden Augen schließt: אֲדוֹן עוֹלָם Herr der Welt, der da regierte, bevor jedes Gebilde erschaffen worden.[5] Welch ein Rätsel! Wie oft bemerken unsere Weisen: אֵין מֶלֶךְ בְּלֹא עַם kein König ohne Volk, kein Regierer ohne Regierte! Und doch soll Gott der Herr der Welt, der König gewesen sein, bevor jedes Gebilde erschaffen war! Welch ein Widerspruch in sich! Allein der Dichter jenes erhabenen Lobgedichtes, das in unserer Gebetordnung als erstes und letztes jedes Tages so große Bedeutung erlangt hat, wird wohl nicht gedankenlos verfahren sein; versuchen wir die Lösung des nur scheinbaren Widerspruches:

 Wir haben schon einmal in diesen Blättern[6] davongesprochen, dass nach der Lehre des Judentums, die Welt in Gott ist (nach griechisch πᾶν „alles“ und ἐν θεῷ „in Gott“ — Panentheismus[7]) לָמָּה נִקְרָא שְׁמוֹ מָקוֹם מִפְּנֵי שֶׁהוּא מְקוֹמוֹ שֶׁל עוֹלָם „warum heißt Gott Makom (Ort), weil Er ist der Ort der Welt, d. h. weil die Welt in Ihm ist“. Das Judentum kennt keinen außerweltlichen Gott, auch liegt ihm die Anschauung fern, dass Gott und Welt identisch seien (Pantheismus[8]), ebenso wie die, welche Gott nur als eine Art Weltseele fasst (Deismus[9]), sondern Gott ist dem Judentum der Allumfassende, ohne dass Er durch irgend einen Begriff gefasst oder umfasst werden könnte: „Denn die Himmel und der Himmel Himmel umfassen ihn nicht“ כִּי הַשָּׁמַיִם וּשְׁמֵי הַשָּׁמַיִם לֹא יְכַלְכְּלֻהוּ  ( 2. B. d. Chr. K. 2, V. 5 ) Aus Sich heraus hat der Allmächtige die Welt ins Dasein gesetzt  בפועל)), deren Begriff und Möglichkeit in Ihm immer existierte (בכח). Also war Gott der Herr und König der im Begriff und der Möglichkeit nach in Ihm seienden Welt auch vor der eigentlichen Schöpfung, „zurzeit aber, da durch Seinen Willen alles entstanden ist, da wurde Sein Name auch König genannt„.

Wenn wir nun mit der Entwicklung dieses Gedankens den obenerwähnten scheinbaren Widerspruch gelöst haben, so haben wir damit zugleich dargelegt, dass die Welt, welche Gott aus dem Begriff und der Möglichkeit durch die Schöpfung zur Wirklichkeit gefördert hat, noch einer weiteren Entwicklung fähig und bedürftig ist, dass sie, gleichsam von Gott losgelöst, zu Ihm wieder hinanstreben muss. Daher hat Gott um Seines Bundes willen die Welt erschaffen, um des Bundes willen, der mit Abraham als das körperliche Zeichen der Beschneidung begonnen und mit der sinaitischen Gesetzgebung als die Offenbarung der geistigen Welt vollendet worden. Israel ist der Träger dieses Bundes; Israel trägt ihn an seinem Körper, in seinem Munde, in seinem Herzen. Israel als Vollstrecker der Thora und Vollzieher ihrer Gesetze ist das geistige Bindemittel zwischen Gott und Seiner Welt. Durch Israel wird die Welt vergeistigt, werden die Völker erzogen, wird, mit andern Worten, Gottes Name auf Erden geheiligt — wenn Israel nicht mehr existiert, wozu und was soll da noch die Welt? „So zerstöre denn erst Himmel und Erde und nachher vernichte es.“

Nachdem Gott am ersten Schöpfungstag Himmel und Erde erschaffen, und das Licht, damit man die Unterschiede erkennen kann, hatte strahlen lassen, schuf Er am zweiten Tage die Unterscheidung, d.h. Er begann zu sichten und zu ordnen, um jedem Geschöpf im Weltenall den ihm gebührenden Platz anzuweisen. Die absolute Gleichheit, wie sie von unverständigen Menschen, die Gott meistern wollen, manchmal gefordert wird, würde ein ewiges Einerlei zuwege bringen; erst durch die Unterscheidung können die einzelnen, unter sich verschiedenen, mannigfaltigen Teile hervorgebracht werden, aus denen sich dann das Ganze harmonisch zusammensetzt. So trennte Gott schon am zweiten Schöpfungstag die oberen von den unteren Wesen. Warum nicht alle Menschen gleich sind? Warum, antworten wir wie jener weise Rabbi mit einer Gegenfrage, sind nicht alle Steine Pflanzen, alle Pflanzen Tiere, alle Tiere Menschen? Eben aus dem Unterschiedenen wird erst das schöne, herrliche Ganze, indem jeder Teil seinem Zweck entspricht und den Weltenplan des Allweisen fördert. Daher ist die Frage auch eine müßige, ob etwa durch die Erwählung Israels aus allen Nationen den andern Völkern eine Unbill geschehen; da Israel durch die hohe Tugend seiner Väter ein Sprössling worden des Zweiges vom Baum der Menschheit, welcher als der Veredelung am meisten fähig sich erwiesen hat. Als ein Werkzeug in der Hand des Allmächtigen zur Erziehung des Menschengeschlechts ist Israel gleichsam ein מַלְאָךְ , ein Bote Gottes, und zu diesem Zweck hat Gott es ausgeschieden, so dass es gleichsam den oberen Wesen angehört, geradeso wie Gott am zweiten Schöpfungstag durch die Unterscheidung der oberen und unteren Wesen die Rangordnung in Seiner Welt geschaffen hat. Israel vertritt auf Erden, als auserwähltes Volk Gottes, das Prinzip dieser notwendigen Weltordnung. „Erst kehre um das Obere und das Untere in Deiner Welt und nachher vernichte sie.“ —

II.

War nun das durch Israel getragene Prinzip die notwendige Bedingung der Schöpfung, so ist es nicht minder zur Erhaltung der Welt notwendig. Gott hat diese Erde den Menschen geschenkt וְהָאָרֶץ נָתַן לִבְנֵי אָדָם, aber derart, dass der Mensch stets seine Abhängigkeit von Gott fühle und dadurch zu einem gottgefälligen Leben veranlasst werde. Daher hat Gott die Gewinnung der leiblichen Bedürfnisse gestattet, ja befohlen, doch so, dass alles körperliche Tun und Treiben sich vergeistige, und Gott in allem und bei allem als Herr und Gebieter gewusst werde. Schon bei der Vorbereitung zur Gewinnung der Speisen, beim Pflügen und Säen, hat Gott zwar die Umgestaltung der Natur gestattet, aber die Umwandlung ausgeschlossen. Du darfst mit scharfer Pflugschar in den Schoß der Erde schneiden, auf dass die Furche berge die Saat, welche als Halm dir neues Getreide in vielfach vermehrter Anzahl bringe, du sollst aber bei dieser Gelegenheit nicht mischen, was Gott gesondert haben will [10]לֹא תַחֲרֹשׁ בְּשׁוֹר וּבַחֲמֹר יַחְדָּו, [11]שָׂדְךָ֖ לֹא־תִזְרַ֣ע כִּלְאָ֑יִם; hast du nun deine Zwecke erreicht, trägt dir dein Kornfeld reichliche Frucht, so sollst du bedenken, dass Gott es ist, der es dir gespendet hat, sollst bedenken, dass alle übrigen Geschöpfe deines Gottes Anspruch haben auf deine Schonung, deine Liebe, auf einen Anteil an all dem Guten, das Gott dir so reichlich gespendet (לקת, שכחה, פאה, לא תחסום); triffst du dann ein in den Besitz des Gott gegebenen, so sollst du es weihen, indem du den Zehnten dem Leviten, der keinen Anteil erhalten hat am Boden, Therumah und Challah dem Kohen[12] spendest, und ist dein Brot gebacken und zum Genusse bereit, auch dann noch sollst du vor dem Genuss den Segensspruch sprechen und nach dem Genuss deinem Gott für die Sättigung danken. So soll Israel das Körperliche und Sinnliche vergeistigen — „wenn nun Israel verschwinden sollte, wie könnte das alles bestehen?“ —

Dieses Verhältnis der Gottinnigkeit, des engsten Zusammenhanges, in den die Welt, selbst die Körperwelt durch Israel zu Gott tritt, ist eine Ausstrahlung des die Welt erhellenden Geisteslichtes, der heiligen Gotteslehre. Dereinst werden alle Völker nicht mehr die Augen verschließen vor diesem Licht, von dem die Himmelslichter, die Sonne und der Mond, nur ein schwacher Abglanz sind; dann werden die Israeliten die leuchtenden Sterne am Firmament des Weltalls sein וּמִצַּדִּיקֵי הַרַבִּים כְּכוֹכָבִים לָעַד[13] „und die werden leuchten wie die Sterne für die Ewigkeit, die die Menge zur Tugend führen.“ Wenn Israels Licht ausgelöscht werden sollte, wozu wären die großen Himmelslichter und die Gestirne noch nütze? —

Zwar sollte die Welt, zwar sollte die Menschheit stets zu Gott hinanstreben; allein der Trieb zum Bösen ist gar mächtig im Menschen und bringt leider nur zu viel der Sünde und des Abfalls hervor. Was sollte aus der abgefallenen, sündigen Welt, die Gottes erhabenen Zwecken entgegenstrebt, werden? Hätte sie nicht Vernichtung verdient? Da aber lehrt uns die Religion Israels die Begriffe der Sühne, der Versöhnung, Begriffe, die durch das Opfer dargestellt werden. Bringe ein Opfer, ruft die Thora dem Sünder zu, und zeige dadurch tatsächlich deine Reue, deine Buße, deine Besserung, und siehe, Gott neigt sich dir huldvoll zu, sühnt deine Schuld, gewährt dir Gnade und Vergebung. „Soll mit dem Verschwinden Israels der Welt die Versöhnung verloren gehen?“

III.

Das Meisterstück, das vollkommenste Werk der Schöpfung ist der Mensch. Sein aufrechter Gang, sein vorwärts gerichteter Blick, seine kunstfertige Hand, die Harmonie seiner gleichmäßig befähigten Sinne, das alles schon erhebt ihn über die anderen Geschöpfe; zum König und Herrn der übrigen Wesen aber macht ihn der Geist, den Gott ihm eingehaucht, die Denkkraft, die in seinem Hirn wohnt, die sein Auge erleuchtet, die seinem Mund die Fähigkeit der Mitteilung, die Sprache verleiht. Doch noch höher als durch die Tätigkeit des Verstandes steht der Mensch durch seine sittliche Befähigung. Zu wissen, dass es uns möglich ist, die Wahrheit zu erkennen, ist beglückend, sie wirklich zu erkennen, ist erhebend, aber der erkannten Wahrheit gemäß zu handeln und danach zu leben, das ist der Inbegriff der Menschenwürde. Indem Gott den Israeliten die Thora gegeben hat, die da die Wahrheit selber ist, hat er ihnen ein würdiges Objekt der Forschung verliehen und sie gehoben auf die höchste geistige Höhe; dadurch aber, dass diese Religion vorzugsweise eine Religion der Tat ist, eine Religion, die den menschlichen Willen in die rechten Bahnen lenkt, alle unsere Taten ordnet und regelt, all unser Denken und Fühlen zu Taten, zu gottgebotenen und Gott wohlgefälligen Taten sich entwickeln lässt, dadurch wird es dem Israeliten möglich, der Menschenentwicklung Gipfel zu erreichen, ein vollendeter, ein vollkommener Mensch zu sein. „Ihr seid meine Herde, die Herde meiner Weide, Menschen seid ihr. “ „Vernichte denn erst die ganze Menschheit, ehe du die wahrhaften Menschen, die Israeliten, dem Verderben preisgibst.“ —

Als Gott in sechs Tagen Sein Schöpfungswerk vollendet hatte, da ward am siebenten Tage die Ruhe der Schöpfung Krone; und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn. Unsere Weisen erzählen, dass der Schabbat sich bei Gott ob seiner Vereinsamung beklagt habe. „Während jedem der Wochentage ein anderer zur Seite steht, der ihn ergänzt — dem ersten Tage, an dem das Licht erschaffen worden, der vierte, an dem die Träger des Lichts, Sonne, Mond und Sterne erstanden, dem zweiten, an welchem die Gewässer sich schieden, der fünfte, an dem die Tiere im Wasser erstanden, dem dritten, an welchem das Trockene sichtbar wurde, der sechste, an dem die Landtiere und der Mensch, die auf dem Trockenen leben, erschaffen wurden, — nur ich, der Tag, den Du geheiligt hast, stehe allein.“ Da sprach Gott: dereinst soll Israel dich ergänzen, denn also heißt es: (2. B. M. K. 31. V.16 u. 17) Und es sollen beobachten die Kinder Israel den Schabbat, zu halten den Schabbat für ihre Geschlechter als einen ewigen Bund; zwischen mir und den Kindern Israel ist er ein Zeichen für die Ewigkeit, dass Gott in sechs Tagen Himmel und Erde erschaffen, am siebenten Tage aber geruht und sein Ziel erreicht hat. — Der Schabbat ist der Tag der Vollendung, der Ruhe, der Sammlung; Gott hat diesen Tag geheiligt und gesegnet, auf dass Israel an ihm durch die Ruhe von jeglicher Arbeit Zeugnis von der Schöpfung der Welt durch Gott ablege. Es zieht sich an diesem heiligen Tage der Israelit zurück von den Geschäften des Alltagsverkehrs, um nur seinem Gotte und sich zu leben. Das ist ein Vorschmack himmlischer Seligkeit, eine Vorahnung von dem יוֹם שֶׁכּוּלוֹ שַׁבָּת von dem Tage ewiger Ruhe — die Ruhe ist das Endziel der Arbeit, der rein geistige Genuss im ewigen Leben das Endziel unseres Erdenwallens. Und Israel ist der Träger des Schabbats, ohne Israel gibt es keinen Schabbat hienieden, kein ewiges Leben droben —„so hebe denn den Schabbat auf, ehe du Israel vernichtest.“ —

Wir haben nunmehr dargelegt, wie das israelitische Volk die Bedingung der Schöpfung, der Träger des Bundes, um dessentwillen Gott die Welt erschaffen, wie es der Darsteller der göttlichen Weltordnung ist; ferner, dass um der Zwecke willen, die Israel verwirklicht, die Welt erhalten wird, wie das Licht Israels die Sonne verdunkelt, und wie Sühne, Gnade, Vergebung — die Erretter der Welt vom Untergang —Begriffe sind, welche das Judentum der Welt gebracht hat, das Judentum, innerhalb dessen das edelste Menschentum seine Vollendung findet. Dieses aber ist das Endziel der Schöpfung, die Brücke zum ewigen Leben, zur endlosen Schabbatruhe. — So eng ist das Dasein Israels mit dem Dasein der Welt verwachsen, und daher treten gleichsam die Schöpfungstage für unser Volk in die Schranken, da seine Existenz bedroht ist. Die gesamte Schöpfung erzittert in Angst und Zagen, da die israelitische Nation dem Mordschwert eines Haman preisgegeben werden soll. — Noch ist das Gedenken Amaleks nicht ausgelöscht; noch hatte jede Zeit ihre Agagiten; doch, fürchten wir nichts! die Geschichte des herannahenden Purimfestes lehrt uns ja: Israel kann nicht untergehen!

 

 [1] Haman

[2] s. 1. Schmuel 15

[3] Ahaschwerosch

[4] www.sefaria.org: Midrasch Rabba besteht aus zehn unabhängigen Midrasch-Sammlungen, jeweils eine zu den Fünf Büchern Mose und den fünf Megillot. Während einige der Texte dieser Sammlung aus derselben Zeit und demselben Ort stammen und einige Merkmale gemeinsam haben, gibt es große Unterschiede in ihrem Stil und ihren Interpretationsweisen. Die Lehren dieser Sammlungen reichen von der Zeit des Zweiten Tempels bis ins Hochmittelalter. Die frühesten dieser Sammlungen, die für weitere Ergänzungen geschlossen wurden, sind Genesis und Leviticus Rabbah.

[5] siehe am Ende des Artikels

[6] In der Zeitschrift „Der Israelit“

[7] Wikipedia: Panentheismus … ist ein 1828 von Karl Christian Friedrich Krause geprägter Terminus, der die Auffassung bezeichnet, „daß das Eine in sich und durch sich auch das All se[i]“. Bei späteren Autoren wird der Terminus als Bezeichnung für eine Auffassung gebraucht, nach der „Gott der Welt immanent und zugleich zu ihr transzendent ist, insofern die Welt ihrerseits Gott immanent, in Gott, von Gott umfasst ist“. Das bedeutet, aus Sicht des Panentheismus ist die Welt in Gott enthalten, Gott selbst übersteigt die Welt jedoch. Darin unterscheidet sich die panentheistische von der pantheistischen Auffassung, die Gott als identisch mit der Welt betrachtet.

[8] Wikipedia: Der Ausdruck Pantheismus oder Pantheïsmus (von altgriechisch πᾶν pān „alles“ sowie θεός theós „Gott“) bezeichnet religionsphilosophische Lehren, in denen die Allheit des Seins an Stelle des Gottesbegriffs steht. Je nach Wortwahl wird die Natur, der Kosmos, die Welt, mit dem Begriff „Gott“ gleichgesetzt. Es ist kein persönlicher bzw. personifizierter Gott vorhanden. Die Allheit des Seins benötigt gewissermaßen keinen Schöpfer, sondern ist in sich vollkommen als das Göttliche zu betrachten.

Gegenüber den dualistischen Denkweisen und insbesondere gegenüber der jüdisch-christlichen Schöpfungstheologie werden in pantheistischen Denkweisen die Natur und deren wissenschaftlich beobachtbare Wesentlichkeiten nicht als getrennt von Göttlichkeit betrachtet, vielmehr ist die Natur immanent göttlich.

[9] Wikipedia: Als Deismus („Gotteslehre“, von lateinisch deus „Gott“) bezeichnet man eine Religionsauffassung, nach der nur Vernunftgründe, nicht die Autorität einer Offenbarung, zur Legitimation theologischer Aussagen dienen können. Die deistischen Gottesvorstellungen sind allerdings sehr unterschiedlich. Im engeren Sinne sind Deisten diejenigen, die das Göttliche als „Ursprung alles Seienden“ annehmen, konkretes göttliches Eingreifen aber als „nicht begründbar“ ansehen. Im weiteren Sinne wird der Deismus als freidenkerische Glaubensströmung im Zeitalter der Aufklärung angesehen.

[10] Deuteronomium 22:10; „Du sollst nicht pflügen mit einem Ochsen und einem Esel zusammen.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[11] Leviticus 19:19; „dein Feld nicht besäen mit zweierlei Gattungen“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

[12] Spende und Brotspende dem Priester

[13] Daniel 12:3; וְהַ֨מַּשְׂכִּלִ֔ים יַזְהִ֖רוּ כְּזֹ֣הַר הָרָקִ֑יעַ וּמַצְדִּיקֵי֙ הָֽרַבִּ֔ים כַּכּוֹכָבִ֖ים לְעוֹלָ֥ם וָעֶֽד׃ Die Weisen werden leuchten wie der Himmelsglanz, die welche viele zur Tugend geleitet, wie die Sterne für immer und ewig. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)

 

 

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