Vorbemerkungen zu dem nachfolgenden Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l von
Michael Bleiberg

Levitikus 23:10: „Rede zu den Kindern Israel und befiehl ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, und darin Ernte (Gerstenernte) haltet: so bringt ein Omer (biblisches Trocken- oder Hohlmaß; etwa 2,2 ltr.) von den Erstlingen eurer Ernte zu dem Priester.“[1]

Levitikus 23:15-16: „Ihr sollt zählen vom andern Tage nach der Feier (das ist der 2. Tag des Pessachfestes) an, von dem Tage, da ihr gebracht das Omer …, sieben volle Wochen. Bis zum andern Tage nach der siebenten Woche (das ist das Schawuotfest) sollt ihr fünfzig Tage zählen, und darbringen ein Speiseopfer vom neuen Getreide dem Herrn.“1

Die Zeit zwischen Pessach und Schawuot wird als die Omerzeit oder auch als Sefirat Ha`Omer (das Zählen der Omer) bezeichnet. Die jeweiligen Tage werden nach Einbruch der Nacht mit einem besonderen Segenspruch gezählt.

Leider war diese Zeit zwischen Pessach und Schawuot für uns Juden von großen Schicksalsschlägen begleitet. So starben in dieser Zeit die Schüler Rabbi Akivas (50 oder 55 -135) der Überlieferung nach an einer Seuche. Diese Seuche kostete den 24.000 Schülern Rabbi Akivas das Leben, weil sie respektlos miteinander umgegangen sind. Nach einer anderen Meinung starben diese Schüler im Kampf gegen die Römer im „Bar-Kochba-Aufstand“ (132-136). Deshalb haben unsere Weisen diese Zeitspanne als eine Trauerzeit vorgeschrieben. Während der 7-wöchigen Trauerzeit darf ein orthodoxer Jude unter anderem sich nicht rasieren, die Haare schneiden, heiraten oder an sonstigen Festlichkeiten teilnehmen. Sogar das Hören von Musik während dieser Zeit ist untersagt.

Ein weiterer Schicksalsschlag der uns Juden währen der Omerzeit traf waren die Kreuzzüge. Der 1. Kreuzzug begann im Jahre 1096 mit verheerenden Folgen für die jüdischen Gemeinden im aschkenasischen Raum. Ich zitiere aus dem „Jüdischen Lexikon“, Bd.3, S. 894ff: „Die unter dem Namen Kreuzzüge bekannte religiöse und soziale Bewegung am Ausgang des 11. und während des ganzen 12. Jahrhunderts, hervorgerufen durch die Konzilbeschlüsse von Piacenca[2]  und Clermont[3] (1095), die die Rückeroberung Palästinas aus den Händen der „Ungläubigen“ seitens der Christenheit zum Hauptziel hatte, erhielt eine traurige Bedeutung für die jüdische Geschichte. Ganz besonders gelang es dem Einsiedler Peter von Amiens (~1050-1115) die Massen für die Idee des Kreuzzuges zu fanatisieren und der Gedanke des heiligen „Krieges gegen die Ungläubigen“ ergriff bald weiteste Kreise von Gläubigen, aber auch Ungläubigen, von Abenteurern und Mordbrennern, denen sich eine Gelegenheit zur Befriedigung ihrer niedrigen Instinkte bot. Bald tauchte in den raublustigen Begleitern der eigentlichen Kreuzfahrer, der nur allzu willkommene Gedanke auf, dass man mit dem Kampf gegen die Ungläubigen bereits im eigenen Land beginnen müsse. So wurden die Juden in Frankreich, Lothringen und am mittleren Rhein, bald auch die in Böhmen und später in England die ersten Opfer der Kreuzzüge. Die Zeit der Kreuzzüge wurde vom Zusammenströmen der ersten Kreuzfahrer an für die Juden in Frankreich und Lothringen, ganz besonders aber in West- und Südwestdeutschland, eine Periode furchtbarer Verfolgungen, in deren Verlauf Metzeleien von barbarischer Grausamkeit ein Jahrhundert lang in rascher Folge Gemeinde um Gemeinde vernichteten und Tausende von Juden, die es ablehnten, die von den Kreuzfahrern verlangte Taufe zu nehmen, durch Mord oder Selbstmord ihr Leben ließen.

Hatten die Kreuzzüge bereits viele tausende jüdische Leben vernichtet, ganze Gemeinden mit großen Traditionen, (so z. B. Mainz mit der Gelehrtenschule Rabbi Gerschoms) fast ausgerottet, so waren ihre mittelbaren Folgen noch viel schwerer. Reichen doch z. B. die moralischen Wirkungen der Kreuzzüge …. bis in die Gegenwart hinein. In der Zeit der Kreuzzüge wurde der Grund zu dem tiefen Hass der Nichtjuden gegen die Juden gelegt, der das ganze Mittelalter hindurch und bis in die Gegenwart die Beziehungen der Juden zu ihrer Umgebung charakterisiert. Daneben lief, ebenfalls als Wirkung der Kreuzzüge, eine völlige Veränderung ihrer wirtschaftlichen und politischen Stellung im Staate. Bis zu den Kreuzzügen waren die Juden in Deutschland und Frankreich im Großen und Ganzen politisch und wirtschaftlich frei und vollberechtigt gewesen. Die furchtbaren Schrecken der Kreuzzüge, der Schutz, den die Juden während dieser Schreckenszeit von den Herrschern erbitten mussten, machten sie zu deren unfreien Sklaven. In der Zeit der Kreuzzüge wurde der Grund für jene politische und finanzielle Abhängigkeit der Juden von den Landesherren gelegt, die durch das Wort „Kammerknechtschaft“ bezeichnet wird und die Juden jahrhundertelang zu Objekten der Ausbeutung für die weltlichen und geistlichen Herrschern gemacht hat. Die Kaiser sahen schließlich den Sinn ihrer Schutztätigkeit einzig und allein darin, die Juden auszubeuten und an wirklichen und wirksamen Schutz der Juden dachten sie meist nur, wenn ein anderer ihnen deren finanzielle Ausbeutung streitig machte. Die „Kammerknechtschaft“ der Juden wurde bald ein rein finanzielles Regal, das wie andere Hoheitsrechte vom Kaiser verschenkt, verpachtet und verpfändet wurde und bei jedem Übergang von einer Hand in die andere vom Kaiser auf den Territorialherrn, von diesem auf einen anderen, dazu benutzt wurde, die Schutzsumme zu erhöhen und die Juden zu erpressen. Zu diesen Folgeerscheinungen der Kreuzzüge tritt noch die weitere hinzu, dass durch die Kreuzzüge der Welthandel der Juden lahmgelegt wurde. Man bedurfte ihrer als Vermittler des Handels nach dem Orient nicht mehr; denn man hatte ja nun Verbindungen genug geknüpft. So kam es, dass der Jude allmählich ganz aus dem Welthandel verdrängt wurde, und zwar nicht nur durch freie Konkurrenz, sondern durch drakonische Ausnahmebestimmungen, die den Juden auf den Althandel, den Trödel und das Geldgeschäft verwiesen. Aber auch nur um ihm später auch aus dieser aufgezwungenen Beschäftigung einen Strick zu drehen.“

Es ist anzumerken, dass bis heute sich nur wenige Vertreter der Kirchen kritisch mit den Kreuzzügen auseinandergesetzt haben. Auf diesem Gebiet gibt es m.E. nach noch einen Nachholbedarf seitens der christlichen Kirche. Die Geschichten von Ivanhoe und den Rittern der Tafelrunde, von König Löwenherz oder gar Parzival werden ohne Reflexion auf die tatsächlichen Ereignisse bis heute den Kindern erzählt, verfilmt oder als Oper aufgeführt.

Diese schlimmen Ereignisse der Kreuzzüge nahmen die aschkenasischen Juden zum Anlass, besondere Gebete während der Omerzeit in ihren Gottesdienst einfließen zu lassen. Wer noch aus dem Sidur „Sefat Emet“ betet, wird auf Seite 104 und 111 darauf aufmerksam gemacht, dass hier an bestimmten Schabbatgottesdiensten die Möglichkeit bestand, diese zusätzlichen Gebete einfließen zu lassen. Er wird darüber hinaus, wie an anderen Stellen des Sidurs auch, darauf aufmerksam gemacht, dass es hier einen aschkenasisch-deutschen und einen aschkenasisch-polnischen Ritus gab. In der Omerzeit wurde nach polnischen Ritus damit begonnen bereits am ersten Schabbat nach dem Pessachfest zusätzliche Gebete einzufügen, nach deutschem Ritus jedoch erst mit Beginn des Monats Ijar. Daraus ergaben sich nach polnischem Ritus 7 Gebetseinfügungen und nach deutschem 4. Bereits z. Zt. Rabbiner Hirschs begann man jedoch damit, diese zusätzlichen Gebete aus dem Gottesdienst zu entfernen. Genau dagegen richtet sich der hier wiedergegebene Artikel.

Rabbiner Hirsch s“l stellt in seinem Aufsatz den 67. Psalm den Gebetseinschüben nach deutschem Ritus für den Monat Ijar gegenüber. (Wer sich grundsätzlich für diese Gebetseinschübe nach deutschem Ritus interessiert, der sei auf die Gebetssammlung von Dr. Seligmann Baer (1825-1897) „Die Piutim für alle Sabbathe des Jahres“, dankenswerterweise archiviert in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/6418189 hingewiesen.)

Der 67. Psalm und die Jahrhunderte der Kreuzzüge. — Sollen wir die Sefira-Gebete[4] streichen?

Der nachfolgende Artikel wurde in der Monatszeitschrift „Jeschurun“, 4. Jg., Heft 8, April 1858 und in den „Gesammelten Schriften“ Band 2, herausgegeben von Dr. Naftali Hirsch s“l, abgedruckt. Ich habe hier als Vorlage den Artikel aus den „Gesammelten Schriften“ gewählt, da er noch zusätzliche bemerkenswerte Anmerkungen von Dr. Naftali Hirsch selbst enthält. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek der Universität Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932858.

Der Artikel wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg.

Wenn wir von der Nacht, in welcher einst die erste Sichel auf eigenem Boden und eigenem Acker geschwungen ward, Tage und Wochen zum Fest unserer Gesetzgebung zählen — wir, denen längst kein Land mehr die eigenen Ähren zeitigt — dann weckt uns der Brauch der Väter die Psalm-Gedanken in der Seele:

אלקים  (Psalm 67)

Gott, der uns im Galuth den Ernst seiner Waltung mit so bitterem Kelche kosten läßt,

Er wird seine Gnade uns wieder zuwenden und wird uns segnen,
Wird sein Antlitz wieder bei uns leuchten lassen,
                                          Dass wir auf Erden deinen Weg erkennen,
                                          Unter allen Nationen dein Heil.
                                          Dass Völker dir huldigen, Gott,
                                          Dir huldigen einst Völker alle.
                                          Sich Staaten drob freuen und jauchzen,
                                          Dass du Völker in Geradheit richtest,
                                          Und Staaten auf Erden Du leitest, Sela.
Einst huldigen dir Völker, Gott!
Einst huldigen dir Völker alle.
                                          Hat die Erde dann ihren Ertrag gegeben:
                                          Dann segnet uns Gott, unser Gott,
                                          Dann segnet uns Gott,
                                          Und es ehrfürchten ihn alle Enden der Erde.

Wie sehr sind diese Gedanken so ganz geeignet, uns die ganze Bedeutung unserer Wochenzählung inne zu machen, und welche Betrachtungen wecken sie in uns, wenn wir bedenken, in welchen Geschickes- und Gemütslagen die Nacht der Sefira-Jahrhunderte hindurch unsere Väter gerade diese Worte gesprochen!

Selbst als wir noch auf eigenem nationalen Boden die Sichel über eigene Äcker schwangen, hatten wir von erster Sichelschwingung Tage und Wochen vom Fest unserer Freiheit zum Fest unserer Thora, von [5] זְמַן חֵירוּתֵנוּ zum  [6]זְמַן תּוֹרָתֵנוּzu zählen, hatten wir zu beherzigen, wie nicht in Freiheit und Boden, wie vielmehr im Gesetz, im Gottesgesetz unsere Heilsvollendung zu finden sei, ja, wie Freiheit und Boden für uns selbst nur im Gottesgesetz wurzeln und erst durch das Gottesgesetz für uns ihren Wert und ihre Bedeutung haben. Das war eine Wahrheit, selbst da noch Judäa einen Staat unter den Staaten bildete und die jüdische Existenz immerhin auch äußerlich einen Träger im eigenen Boden hatte. Zu welcher Wahrheit ist aber diese die Thora, das Gottesgesetz, über die alles andere hoch hinaushebende Wertschätzung erwachsen, seitdem Israel Land und Boden verloren, seitdem auch in sichtbarer Äußerlichkeit dieses Gottesgesetz das einzige Band geblieben, das die Söhne Judäas in weitester Zerstreuung umschlingt, der einzige Boden, das einzige Eigentum geblieben, auf welchem die Söhne Judäas stehen, und sich als das Gut bewährt hat, das seine Besitzer für den Verlust aller andern Güter wundertätig schadlos gehalten.

Wahrlich, jedes dahingegangene Jahr fügte neuen Glanz in die Strahlenkrone dieses Gesetzes und ließ seine Bekenner es als den einzigen Lebensschatz immer inniger ans Herz drücken. Jedes neue Leid, für welches diese Thora Balsam in Bereitschaft hatte, jede neue Freude, die erst in ihr ihre Verklärung fand, jede neue Erfahrung, die Israel auf seiner langen Wanderschaft erwuchs, ließ es mit jedem Schritt immer klarer den Werteabstand dieses Gutes von Land und Freiheit fühlen. Das Land hatte es verloren, die Freiheit war ihm verkümmert, aber die Thora, sein Gottesgesetz war ihm geblieben, und war ihm der Boden geworden, auf dem ihm die Blüten einer ewig frischen Jugend ersprossen, und war ihm Schwert und Lanze, Helm und Panzer geworden, die es sich die stolzeste Freiheit mitten in aller äußern Erniedrigung erstreiten und bewahren halfen.

Und wenn es nun um sich schaute und Vergleiche anstellte, wie sehr stieg ihm da der Wert der Thora, wenn es sie mit allem andern verglich, worauf sich ringsum von Jahrhundert zu Jahrhundert das Leben der Völker entwickelte! Da wanderte es hin wie seine ersten Väter einst „von Volk zu Volk, von Reich zu Reich“, wanderte mitten unter Völkern, die Freiheit und Boden besaßen, aber zur Freiheit und zum Boden des göttlichen Gesetzes entbehrten. Und mitten unter diesen freiheitstolzen, bodenmächtigen Völkern, es allein die zerstreute Herde eines Gottesgesetzes ohne Freiheit, ohne Boden, — welche Blüte des Menschen veredelnden, Menschen beglückenden Menschen sah es bei diesen Völkern der Freiheit und der Bodenmacht, wenn es sie verglich mit den Blüten, die dieses Gottesgesetz bei ihm gezeitigt, selbst in Zeiten gezeitigt, in welchen ihm das Fleckchen Erde streitig gemacht wurde, wo es die Wiege seiner Kinder stellen und die Gräber seiner Eltern bereiten konnte, und in welchen ihm von Recht und Freiheit nur so viel gelassen war, als dem Interesse des fremden Fiskus frönte — hatte es nicht Recht, wenn es mit doppelt heißer Inbrunst seinen einzigen Gottesschatz umklammerte, der es vor Barbarei und Entartung schützte, die es überall aufwuchern sah, der bei ihm ein frisches Geistesleben, eine Klarheit des Blickes, eine Reinheit der Sitte, eine Milde der Gesinnung, eine Seligkeit des Familienlebens, eine Biederkeit der Genossenschaft zeitigte, von denen die es verhöhnende Völkerwelt keine Ahnung hatte?

Und wenn es nun sah, wie bald die Völker auf dem eigenen Boden die Freiheit und nach der Freiheit den Boden und mit beiden sofort die Völkerexistenz überhaupt einbüßten und mit aller ihrer Macht und ihren Freiheitsträumen wie Seifenblasen in nichts verschwanden — und es — nur mit seiner Thora im Arm — immer weiter — immer weiter — mitten durch Nacht und Nebel über Aschenkrüge und Mausoleentrümmer der Völker seinem ewigen Morgenrot der Verjüngung zueilte —: da hätte es seine Tage- und Wochenzählung nicht fortsetzen sollen von dem Feste seiner Freiheit, die ihm so schmerzhaft verkümmert, von der Sichelschwinge über den eigenen Acker, die nur in der Erinnerung ihm noch lebte, zu dem Fest der Thora hin, die sein ewiges, unverlorenes und unverlierbares Eigentum geblieben, die ihm in den Jahrhunderten der Nacht Freiheit und Boden ersetzte und durch die und für welche ihm allein einst am Morgen der Verjüngung wiederum Freiheit und Boden winkten?

Wohl mochte es mit Recht, wenn es seine Tage und Wochen vor Gott zählte, den Wunsch laut werden lassen, dass es doch „sein heiliger Wille sein möge, sein Heiligtum wieder in unsern Tagen zu bauen und uns unser ganzes, unser volles Teil an seiner Thora finden zu lassen![7]“ Ja, wohl mochte der Brauch der Väter eben an diese Zählung die Hoffnung knüpfen, dass „Gott einst wieder seine Gnade uns zuwenden, uns seinen Segen geben und sein Antlitz bei uns und mit uns leuchten lassen möge![8]“ Denn haben wir nicht eben nur dadurch diese Gnade verscherzt und diesen Segen verloren, hat nicht eben nur darum Gott sein leuchtendes Antlitz von uns abgewendet, weil — wir eben diese Zählung, die Zählung von Freiheit und Land zur Thora vergessen hatten?

Jedes Blatt der Geschichte unseres staatlichen Unterganges bezeugt es, dass wir nur dadurch Freiheit und Boden eingebüßt, weil wir Freiheit und Boden als letztes höchstes Ziel begriffen; weil wir nicht von Freiheit und Boden zum Gesetz, sondern vom Gesetz zur Freiheit und Boden hin unsere Tage und Wochen zählten. Es galt uns nicht nach jüdischer Wahrheit, Freiheit und Boden nur so viel, als sie uns die Mittel zu einer immer volleren Erfüllung des göttlichen Gesetzes gewährten. Nach Art des Völkerwahns bedeutete auch das göttliche Gesetz uns nur so viel, als es uns Freiheit und Boden gewährte, Freiheit und Boden sicherte, Freiheit und Boden wahrte. Wo wir aber Gewährung, Sicherung und Mehrung der Freiheit und des Bodens auf andere Weise und durch andere, überall sonst beliebte Mittel besser und selbständiger ermitteln zu können vermeinten, gaben wir das göttliche Gesetz als nutzlos gewordenes, antiquiertes, abgestandenes Hemmnis gedankenlos in den Kauf drein — Dieser Kauf endete aber immer in Täuschung; inzwischen war uns jedoch die einzige Bedingung verloren gegangen, an welche nun einmal für Israel einzig und allein eine jegliche Hoffnung auf Freiheit und Boden geknüpft ist.

Erst daher wenn die Erfahrung der Jahrhunderte ihre Frucht in uns gezeitigt und wir für immer den wahrhaftigen, ewigen, unverkäuflichen und unveräußerlichen Wert des göttlichen Gesetzes erfasst, also, dass wir in Wahrheit von Freiheit und Boden zur Thora hinzählen und wir uns nicht deshalb nach Wiedererlangung der Freiheit und des Bodens sehnen, um in der Freiheit von den Plackereien der Knechtschaft und im Boden von der Schmach der Unselbständigkeit erlöst zu werden, sondern [9]שֶׁיִּבָּנֶה בֵּית הַמִּקְדָּשׁ בִּמְהֵרָה בְיָמֵֽינוּ וְתֵן חֶלְקֵֽנוּ בְּתוֹרָתֶֽךָ, auf dass das Gottesheiligtum wieder erstehe und wir in voller Erfüllung seines Gesetzes unsere Aufgabe lösen: erst dann dürfen wir hoffen, „dass Gott uns wieder gnädig segnen und sein Antlitz wieder mit uns leuchten lassen werde!“

Und wenn dann [10] אֶרֶץ נָתְנָה יְבוּלָהּ, wenn dann das Land seinen Ertrag gegeben haben und sich wieder die Sichel auf unserm eigenen Boden rühren wird, dann werden wir nicht darin bereits die Summe des Heils und des Segens erblicken; dann werden wir erst anfangen, nach dem göttlichen Segen auszublicken, , [11]יְבָרְכֶנּוּ אֱלוֹקִים אֱלֹקֵינוּ dass uns mit all dem Gewährten Gott als unser Gott segne, indem wir alle die reichste Fülle nur in seinem Dienste verwenden und in allem und mit allem nur Gott als unserem Gott dienen und sein Gesetz zu seiner Verherrlichung in Erfüllung bringen werden.

Sehen wir nun aber, in welch weiter, weiter Aussicht gerade diese Psalmgedanken Israels Wiederauferstehung feiern, wenn sie da weit über die engen Grenzen der bloßen jüdischen Nationalität alle Völker zugleich mit der einen Hoffnung umfassen, wie da Gottes Weg auf Erden, sein Heil unter allen Völkern erkannt sein wird, wie da alle Völker Gott huldigen, „und dieser Huldigung die Staaten sich freuen, weil nur durch sie und in ihr allein die so lange gesuchte Lösung endlich gefunden sein wird, das Völkerheil dauernd auf Erden zu gründen, und die Ordnung festzustellen, in welcher jeder und jedes sich בְּמִישׁוֹר, sich „in der Ebene“, sich — weder zu hoch noch zu niedrig — sondern eben in einer solchen Stellung fühlen und bewegen wird, die seinem eigensten Wesen und dem Heil des Ganzen am innigsten entspricht, und dann Gott das Reich und die Leitung der Staaten auf Erden zugefallen sein wird —“ sehen wir dies — und denken unter welchen Zuständen, unter welchen Erfahrungen, in welchen Lagen eben diese Gedanken von unsern Vätern in den Sefira-Nächten der nächtlichsten Jahrhunderte gesprochen worden — dann haben wir ein Bild vor uns, das in seiner erhabenen Größe schwerlich von etwas anderem erreicht wird.

Es waren die dunklen Nächte der Jahrhunderte der Kreuzzüge, in welchen weit, weit ab von jener Huldigung und jenem Recht und jenem Frieden auf Erden die Völker und Länder Israel umfingen — Ein blinder, blutiger Wahn hatte sie erfasst, zuvor mit dem Blut der Brüder dessen mord- und bekehrungswütig sich zu weihen, dessen Grab aus den Händen der „Ungläubigen“ zu retten sie mächtig dahinzogen. Das waren keine Zeiten für Begeisterungshymnen von dem lichten Morgen und dem heiteren Frühling der Israel- und Menschheitsverjüngung. Da feierten Barbarei und Fanatismus als Schergen der Blut- und Habgier ihre Orgien — und Israel lag als Opferleiche auf dem blutgetränkten Boden. Da tönten ganz andere Töne in der Brust der jüdischen Väter und Mütter —

אֶזְכָּרְךָ דּוֹדִי [12]

Dein gedenke ich vom Jordan- und Hermons-Lande,
Dein in der den Ahnen gezeigten Wundergröße,
Wie Du mit dem Arm Deiner Allmacht sie erlöst,
Wie Du sie so oft, so oft gerettet,
Und wir — jetzt — in der Verbannung —
Den Toten gleichen wir in ewiger Abgestorbenheit!

Hatte der Löwe[13] mich vertrieben, hatte mir Glied um Glied gebrochen,
Doch rettest Du mich aus seinem Rachen, sobald meine Tage sich erfüllet.

Hatte der Bär[14] mich geschwächt, hatte mein Gebein zerrenkt,
Du rettetest mich doch aus seiner Macht und fordertest mein Blut.

Selbst als der Leopard[15] mich ergriffen und meinen Tempel entweiht,
Mir nach innen und nach außen Vernichtung gelobt,
Sendetest Du seinen Heeren Verderben, da ich rief,
Warfst seine Legionen nieder und halfst meinem Verein.

Alle jedoch überragt die Ebermacht aus dem Walde[16],
Die höhnend und lästernd bis zu den Sternen sich erhebt,
Die mich niedertrat, mich zerpflückte, mich vernichten zu können wähnte,
Die Deine Stätte zertrümmerte und bis an den Grund sich gewagt,
Die was wahr sein sollte festzustellen sich vermaß,
Und die siegende Wahrheit meines Glaubens trübte,
Die den Einheitsglauben meines Stammes zu verleugnen mir gebot,
Sprach: „Dein Gott — soll mir gegenüber sich halten?
Liegt doch sein Heiligtum durch mich niedergetreten,
Und ich, ich bin noch da in meiner unversehrten Größe!“

Du hörst ihre Lästerung — schweig‘ nicht zu meinem Streite,
Schütte siebenfältiges Maß in den Schoß meines Gegners,
Fordere meine Erlösung, sei Du mir Freund, Du mir nah,
Hilf rasch und schnell, laß‘ mich den Bürgen in Dir finden!

 

אוֹתְךָ כָּל הַיּוֹם קְוִינוּ[17]

Dein harren wir jeden Tag,
Deinem Namen, Deinem Andenken gilt unser Sehnen,
Bist doch unser Vater, Gott!
Deinen Erstgeborenen, Verstoßenen, Hast Du sein für immer vergessen?
Willst ihn nie wieder aufnehmen?
Wie lange, o Gott?!

Von seiner Herrlichkeit vertrieben,
Aus seiner Heimat gewiesen,
Hinter ihm zugeschlagen die Tür!
Auf Nimmerwiederkehr verstoßen,
Gebrochen, gebeugt, gekränkt, obhutlos verschleppt —
Wie lange, o Gott?!
Durch Deine Züchtigung erschüttert,
Jedem Räuber eine Beute,
Wie ein Vöglein verscheucht,
Immer flüchtig, immer gejagt,
Vom Gelüst der Gewaltigen ausgesogen,
Wie ein knisternd dürres Blatt —
Meine Seele, auf die sie fahnden,
Vor der Schlinge der Verführer flüchtend,
Zeitigt Knospen und ist im Aufblüh’n vor Dir —
Mein Verfolger aber schmähet,
Und was sag‘ ich meinem Schmäher?
Ich leg‘ die Hand auf meinen Mund
Wie lange aber, Gott?! — —

אֱלוֹקִים בְּאָזְנֵינוּ שָׁמַעְנוּ[18]

Gott, gehört haben wir davon, unsere Väter haben uns erzählt,
Was Du in der Vorzeit für uns gewirkt — — ——

Nun aber schon mehr als tausend Jahre in Kummer und Seufzen,
Hat unsere Seele vor Bruch und Jammer an Glück zu denken verlernt,
Denn um Dich würgt man uns hin und achtet uns wie Metzgerschafe.
Jahrhundert nach Jahrhundert harrte unser Herz,
Aber weit hinaus blieb das Ende und Heilung wollte nicht kommen.
Im Zykel „Ranu“ deuteten wir uns Heil[19], hofften wir auf Glück — und es kam das Ärgste,
Auf Zeit der Heilung — und es war der Schrecken da.
Vereint im Rat, steinharten Blicks, Völkermassen
Stürzten über uns wie schäumende Fluten, Ihr wütiger Zorn wollt‘ uns lebendig verschlingen,
Kinder und Weiber trug man zur Schlachtbank hin,
Würgte die Knaben auf der Straße, die Jünglinge in unsern Gassen,
Achtete der Lehrer Angesicht nicht, hatte für Greise kein Erbarmen.

Vor dem Schrei der Höhnung und der Lästerung,
Vor dem racheschnaubenden Feind,

Die uns von Dir losreißen,
Zum Abfall von Deinen Pfaden uns verführen wollen,
Erstarrt unsere Seele, bestürzt ob der Bekehrungswut —

Und auch dieses solltest Du nicht ahnden,
Auch darob nicht als Rächer aufstehen?! — —
Viertausend achthundert sechs und fünfzig war’s,
Eine Zeit des Schlachtens und des Verhängnisses,
Heilige Gemeinden gewürgt in Wut und Grimme,
Greise, Jünglinge, Jungfrauen, nackt zum Grab geschleift,
Gruben voller Knaben- und Mädchenleichen und erschlagener Thorajünger — —

Als Abraham einst seinen Einzigen opfern wollte,
Rief’s vom Himmel: Leg‘ keine verletzende Hand an ihn!
Wie viel werden jetzt Söhne und Töchter in Juda geschlachtet,
Und nichts eilt herbei zur Hilfe, — da liegen sie geschlachtet, und auf Scheitern verbrannt
Und der Schatz unserer Bildung, unserer Freuden, unsere Gesetzesrollen, auch ihnen wohlbekannt,
Zu Zelten aufgespannt, über Tragbahren gedeckt,
Zuletzt zu Strümpfen, zu Schuhen für Aussätzige zerschnitten —
Darüber, darüber wein‘ ich
Und im Tränenstrom quillt mein Auge — —

Unter solchen Erlebnissen — die Welt ringsum ein blutdürstiges Raubtier und Israel seine blutende Leiche — traten doch die Väter hin und zählten ihre Sefira von der Freiheit, die zum Traum geworden, und von dem Land, das sie verloren, bis zur Thora, für die sie starben, für die sie ihre Hütten in Flammen, ihre Kinder gemetzelt, ihre Frauen gemordet, für die sie sich Kerker und Marter und Scheiter bereitet sahen; zählten ruhig ihre Tage und Wochen zum Fest dieser Thora hin, deren unveräußerlichen, mit keinem Opfer zu teuer bezahlten Wert sie eben damals mit ihrem Herzblut in das Buch der Menschheit verzeichneten —

Und der Geist dieser Thora hub ihre Seelen Phönix gleich aus den sie umlodernden Scheiterflammen zu einer solchen Höhe, dass sie sich dort nicht nur im Geiste an ihrer einstigen Wiederverjüngung labten, sondern mitten durch die tiefste, mitternächtlichste Verdunkelung der Geister und Herzen der Völker den Morgen heraufziehen sahen, an welchem die Enkel derer, die sie mordeten und die Rollen ihrer heiligen Bücher zu Schuhsohlen für Aussätzige zerschnitten, endlich zur einmütigen Huldigung des Gottes, des Volkes und des Gesetzes erwachen, die ihre Väter in den Nachtjahrhunderten des Wahns und der Blindheit mit Lästerung, Feuer und Schwert verfolgt.

Von einer Gegenwart umnachtet, in welcher der Genius der Menschheit und der Menschlichkeit verzweiflungsvoll sein Haupt verhüllte, sahen sie doch „den Weg Gottes auf Erden und unter allen Völkern sein Heil“. Während durch ihre Gassen Lästerungen des Judengottes brüllten, schlugen sie beseligt zu ihm ihr Auge auf und sonnten sich an den „Huldigungen, die nach Jahrhunderten einst alle Völker ihm bringen“. Und während sie überall die Völker von einem Geiste des Wahns, der Rohheit, der Blut- und der Habgier beherrscht erblickten, unter dessen Regiment sie die Völker selbst geknechtet entarten und sich überall als das erste Opfer bluten sahen, fanden sie Trost in dem Bewusstsein, dass dieser Wahn doch einmal verfliegen und mitten durch Blut- und Habgier, durch Gewalt und Rechtlosigkeit sich das Bessere, Menschlichere, Göttliche in der Brust des Menschen hindurcharbeiten und endlich die Wahrheit der jüdischen Gotteserkenntnis und der jüdischen Gottesgesetz-Verehrung als das einzige Palladium ergreifen lernen werde, unter dessen Herrschaft die arme, unter ihren eigenen Irrtümern seufzende Menschheit endlich das Heil und den Frieden finden wird, den sie sich vergebens auf anderem Wege zu erbeuten trachtet. „Gott zujauchzen“ sahen sie Fürsten und Völker und unter „Seiner Leitung“ endlich des Glücks, des Heils und des Friedens freudig teilhaftig werden, die nur unter dem heiter beglückenden Ernst einer Gottes Gesetz verehrenden Pflichtgesinnung blühen.

Und wenn sie nun aus ihrem Grabe auferstünden, alle die der fanatischen Rohheit und Gewalt erlegenen Väter, die „heiligen Gemeinden alle, die Gott heiligend starben“ und in dem Hinausblick auf eine dem späteren Israel und der späteren Menschheit verheißene bessere, glücklichere Zeit heiter getröstet der Barbarei und dem Fanatismus ihrer Zeit schweigend den Nacken boten; wenn sie jetzt, nachdem wieder dreiviertel eines Jahrtausends in Entwicklung der Völker dahingegangen, wenn sie in unserer Zeit wieder erstünden; wenn sie sähen, wie vieles bereits von jenem Wahn verflogen, wie viel von jener Barbarei geschwunden, wie doch bereits eine viel menschlichere Gesittung, eine viel erleuchtertere Bildung, eine viel größere Achtung des Rechts und der Wahrheit, der Menschenwürde und Freiheit sich in die Gemüter der Menschen eingebürgert, welche mächtigen Siege bereits die göttlichen Wahrheiten erstritten, die mit ihrem endlichen Sieg die volle Erlösung der Menschheit zu vollbringen gesendet sind: wie würden im Vergleich mit ihrer Zeit, in der sie blutend erlagen, alle die Flecken und Makel die unser Jahrhundert noch verunzieren vor ihrem entzückten Blicke verschwinden, wie würden sie alle die Reste des Wahns, der Gewalt und der Barbarei, die den Freund der Menschheit noch heute betrüben, übersehen und in all den Keimen des Wahren und Guten, die doch bereits — wie schüchtern auch immer — aus dem Schoße der Zukunft hervorblicken, die Botschaft des kommenden Morgens begrüßen und ihnen ihr  [20]מָה נָאווּ הֶהָרִים רַגְלֵי מְבַשֵּׂרzurufen: „Wie sind schon die Schritte des Verkünders auf den Bergen schön, des Herolds des Friedens, des Verkünders des Guten, des Herolds des Heiles, der zu Zion spricht: „Das Reich deines Gottes beginnt!“ [21]

Aber vor allem ihre Enkel würden sie suchen in dieser lichten, bessern Zeit — Sie suchen die Ghetti, sie sind geschwunden; die gelben Zeichen, sie sind nicht mehr. Sie suchen ihre Kinder und finden sie mitten im Verkehr der Völker, im Rate der Bürger, in der vollen Strömung der Wissenschaft und Kunst, der Industrie und Bildung, finden sie überall in den ersten Reihen des wirksamen Einflusses auf die geistige Erleuchtung und die sittliche Veredlung des Menschen — Aber ach, sie finden sie auch da, wo sie sie nimmer gesucht haben würden, da, wo sie die Sitten ihrer Väter abgestreift, die diesen der Stolz und die Freude ihres Lebens gewesen, wo sie das Gesetz ihres Gottes verleugnet, für welche diese das Leben mit all seinen Freuden geopfert — Sie sehen ihre Kinder, die kennen sie nicht mehr; sie fragen nach ihrer Thora — sie lachen sie aus; sie — suchen ihre Gräber wieder und seufzen: Wird bald Elijahu wieder kommen, der das Herz der Kinder zu den Vätern, das Herz der Väter zu den Kindern führt?! —[22]

Wenn die Ornat- und Barettgekleidete Neologie[23] ihre wohlfeilen Siege in einer Piutim- und Jozeroth-Razzia feiert und auf dem Trödelmarkt ihrer Wunderkuren ihr homöopathisches Rezept anpreist: durch Streichung von Gebeten Andacht zu schaffen, dann pflegen die Sefira-Jozeroth die ersten zu sein, die den neologisch-theologischen Rotstift zu fürchten haben. „Was sollen diese Erinnerungen an eine untergegangene Zeit? Was sollen diese Seufzer aus mittelalterlicher Nacht des Drucks und der Verfolgung in den sonnigen Tagen der Berechtigung und Freiheit? Was soll diese elegische Galuth-Dissonanz inmitten der Jubelouvertüre des neunzehnten Jahrhunderts?“

Sollen wir — wenn wir überhaupt zum Streichen berechtigt wären — uns diese Gebete aus unserer Liturgie streichen lassen? Ist es gedankenvolle Überlegung oder ist es gedankenlose Willkür und nachbetende Beschränktheit, die hier den liturgischen Rotstift zur Hand nimmt? Ist es denn bereits überall so Tag für Israel in Mitte der Völker, dass diese Seufzer in seiner Synagoge keine Stätte mehr fänden? Auch dort, wo um Mitternacht gesetzliche Häscher in jüdische Hütten einfallen und kleine, kaum der Mutterbrust entwachsene Knaben den Armen verzweifelter Väter und Mütter entreißen, um sie in achtundzwanzigjährigem Knutendienst ihrer Familie, ihrem Gott und ihrem Volk zu entfremden? Oder auch da und da, wo man die jüdischen Häuser als von christlichen Dienstboten zu meidende Schandhöhlen der Unsittlichkeit und des Fanatismus verlästert; wo man dem Juden die redlichen Wege der Nahrung verbietet, um ihn hintendrein wegen der Ungesetzlichkeit seiner Nahrungswege zu ächten; wo noch immer Judengesetze und Judenrechte und Judenpatente von der Ungeheuerlichkeit zeugen, unter welcher sich der Name Jude den Völkerblüte und Staatenwohl beratenden Geistern darstellt? Ist es denn in Wahrheit schon ganz und überall schon so Tag, dass — selbst wenn Israel keine andern als politische Seufzer kennen würde — diese Seufzer endlich in seiner Synagoge verhallen dürften? Haben wir aufgehört ein Volk, eine Familie zu sein? Sind die Bande mitfühlender Sympathie gebrochen, dass wir von unserm Dörflein aufjubeln dürften, wenn der Erdball trauert?

So dürften wir an der Berechtigung zweifeln, selbst wenn diese Seufzer nur dem Verlust oder der Verkümmerung politischer Güter gälten. Allein es waren ja überall nicht politische Güter, deren Verkümmerung oder Verlust jene Seufzer und Tränen hervorriefen, welche noch in den Sefira-Jozeroth beben. Hätten unseren Vätern nicht höhere Güter gegolten, wäre unseren Vätern, ihren Enkeln gleich, politische Freiheit und politische Rechte das Höchste gewesen, die selbst mit Hinopferung des sonst Heiligsten nicht zu teuer erkauft wären, wahrlich es wäre das Geschick unserer Väter weniger tränenreich gewesen, der Fanatismus, der die Geißel über die Juden schwang, hätte leichten Kaufs sein Ziel erreicht. Vor dem ersten Scheiterhaufen, den der blinde Eifer dem Juden zu errichten begonnen, hätte die Judenheit ihr Judentum geopfert und hätte mit diesem einzigen Opfer sich die Freiheit und die Gleichberechtigung in Mitte der Völker erkauft. Und welches menschliche Herz hätte sie darob getadelt, welches menschliche Herz sich einen größeren Heroismus, sich den Mut zugetraut, lieber seine Säuglinge erwürgen, seine Weiber und Töchter schänden und erdrosseln zu sehen, seinen eigenen Leib lieber den qualvollsten Martern und Leiden zu überlassen, als ein religiöses Gesetz preis zu geben, das ja ohnehin durch den Gang der Jahrhunderte seinen Boden und seine Zeit längst verloren zu haben schien? Ja, welcher verständige Kalkül hätte nicht im Nachhinein die Verständigkeit und Einsicht der Väter gepriesen, die eben in der gegen das jüdische Gesetz entfesselten Wut eines Weltalls und eines Jahrhunderts den Wink der Vorsehung erkannt, dass die Zeit gekommen sei, die „jüdische Hartnäckigkeit“ aufzugeben und das jüdische Gesetz gegen das Kreuz oder den Halbmond zu vertauschen?!

אֱלֹקַי יְמֵי שְׁנוֹתַי כָּלוּ[24]

Mein Gott! Meine Jahre enden in der Dauer meiner Verbannung,
Im Zeitenkerker, ohne Ausgang aus der Bedrängnis in die Freiheit
Verlassen, ohne Annehmer, und auch in mir keine Hilfe,
Wandre ich — und niemand weiß das Rätsel-Ende meines Heils!
Flüchtig ohne Einhalt, ohne Minderer meiner Schmach,
Muss ich Völker-Lästerung hören und Ermahnung, die mich schmäht,
Die mich fragt, unablässig fragt, wo denn, wo meine Hoffnung?!
Aber ebenso unablässig ist nur das mein täglich Sinnen:
Mein geistig‘ Erbe und meines Herzens Hort und mein Gesetz, das ist mein Teil!
Darum harr‘ ich und entweihe nicht sein Wort solang‘ ich bin,
Harre ich und erschlaffe nicht und blicke auf zu meinem Gott,
Und spreche zu ihm: Du bist mein Schirm und meine Burg! Mein Gott!

„Bleibst mein Volk, bleibst mein Erbe! — Die Hand, in die ich dich gab, überschreitet weit meinen Willen! —
Du hast es verschuldet, Jakob“, spricht mein Hort, spricht mein Eigner,
„Mir aber selbst ist’s weh und mir ist’s trüb um dich, armes Volk!
Schmerzt dich dein Haupt, schmerzt dich dein Arm, ist mein das Haupt, mein der Arm, der leidet —
Und ich schüttle mit dir das Haupt und fühle mit dir Weh über deine Schuld
Und sende Rache meinen Feinden, Vernichtung mit meiner Heilesrechten,
Vereitlung ihren Plänen, Versagung ihrem Sinnen —
Was sie sinnen, was sie listig wollen, ist nicht von mir,
Habe das Ohr gewölbt, weiß wohl zu hören,
Habe das Auge gebildet, weiß wohl zu sehen,
Und habe gesehen, habe gesehen meines armen Volkes Leid!“

Mein Gott! Meine Hoffnung ist auf Dich und ich sterbe vor Seelensehnsucht,
Wer kümmert sich um mich! Und in meinem Herzen brennt’s doch glühend heiß
Um meinen heiligen Berg, der öde, und um die Herrin, die endlos geknickt liegt und siech.
Sprechen die Fremden mit stolzem Hochmut zu mir: „Vertraust auf Wind! Bleibst vertrieben wie gescheuchtes Reh!
Was hast du für Hoffnung, gemartertes Volk?“
Sprech‘ ich: „Auf das Wort der Wahrheit, auf das gekränkte Recht, auf meines Glaubens Grund,
Vor dem alle Werte schwinden! Redet mit mir nicht mehr so viel, ihr, des Abwegs Kinder!
Weichet von mir, ihr Bösen! Ich bleib‘ bei meines Gottes Gebot!“

„Mein Volk! Ich habe mich zum Vereinsamtesten gewendet, habe sein Gebet erhört“,
Spricht mein Gott,
„Hab‘ in seiner Jugend es geliebt und bin jetzt im Alter noch derselbe —
Ist noch klein sein Verdienst, ich weiß, es wird wachsen,
Und ich merke, wenn es leidet!
Mein Auge seinen Neidern,
Mein Vorwurf seinen Lästerern,
Mein Sturm über seine Feinde,
Und der Sturm stürmt aus dem Grund!
Nicht der Entmenschung meines Hauses Ehr‘!
Weiche Barbarei, — von den Völkern selbst geächtet,
Zu ewiger Schmach,
Und betrete nicht meines Volkes Tor!“

Und nun — da sich dieser Väter-Trost erfüllt, da die meisten Völker selbst die von ihren Vätern geübte Barbarei verwerfen, und auch jüdische Hütten unter dem Gottesfrieden achten — ist das Gut, für welches die Väter bluteten, von dem sie nicht lassen wollten unter Hohn und Jammer, ist es unter dem Strahl der milderen Zeit gesicherter in Judas Hütten? Sind keine neuen, und wer weiß ob nicht verderblichere Gefahren heraufgezogen, in deren Überwindung sich die ewige Kraft dieses Gottesgutes zu erproben hätte?

Die Fremden sind’s nicht mehr, — ist Verrat, von den eigenen Söhnen geübt, minder tränenreich, minder jammervoll? Bedürfen die, die trotz der Verhöhnung der eigenen Brüder, trotz der fanatischen Verfolgung und Hinderung abseiten der eigenen Brüder, dem göttlichen Gesetz treu bleiben wollen, nicht des ermunternden, ermutigenden Hinblicks auf die Standhaftigkeit der Väter unter den herbsten Prüfungen? Sind die Gefahren, die die jüdische Diplomatie und Bürokratie, die Gefahren, die die von unjüdischen Juden beeinflussten Regierungsmaßnahmen, wenngleich nicht mehr der Judenheit, so doch dem Judentum bereiten, minder bedeutsam? Sind sie nicht umso tiefer in das Mark unserer Bestimmung einschneidend, je milder die Form ist, je mehr diese bemüht ist, die Judenheit von dem Judentum zu scheiden, je mehr sie die Darstellung gewinnt, dass sich hier nur ein völlig autonomes, ein völlig freiwilliges Zertrümmern des Judentums durch die Judenheit vollzieht?

Kannten die Zeiten der Kreuzzüge jüdische Schulen mit jüdischen Lehrern für jüdische Söhne und Töchter, deren Grundprinzip die Verleugnung und Abrogierung[25] des jüdischen Gesetzes ist, deren leitende Lehrkräfte darum auch in redlicher Konsequenz den Schabbat öffentlich entweihten, die Speisegesetze übertraten, die Zöglinge bei sich zu — Schinken zu Gast baten, und kannten sie Juden, die das alles ganz ruhig unter sich geschehen ließen, solche Schulen noch mit eigenen Kräften trugen und dem allem, als etwas sich ganz von selbst Verstehendem, noch kaum mit einem Achselzucken begegneten?

Kannten die Zeiten der Kreuzzüge jüdische Gemeindevorstände, die die Kreuzigung des Judentums zu ihrer Devise machten, die einen dreißigjährigen Kreuzzug gegen das jüdische Gesetz unternahmen, die das Lernen des jüdischen Gesetzes mit Polizeigewalt unterdrückten und zuletzt das gemarterte Judentum Rabbinerhänden überlieferten, die unbeschnittene Judenknaben im Namen des Gottes Israels einsegneten? Gab es auch zu Zeiten der Kreuzzüge Schochetim[26], die selbst Trefa[27] aßen, Kazawim[28], die den Schabbat öffentlich entweihten, jüdische Zentralbehörden, die die jüdisch religiösen Angelegenheiten ganzer Länder und Königreiche mit allmächtiger Hand handhabten, und deren Glieder, meist bis auf einen, das Judentum im eigenen Leben bis auf die letzte Faser verlernt hatten?

Gab es auch zu Zeiten der Kreuzzüge Ukase[29] und Konsistorial-Erlasse, die das jüdische Kahal[30] vernichteten, die die Autonomie der Gemeinden, die Rechte und Pflichten der Jechidim[31] zerstörten und das jüdische Gemeindeleben, diesen lebendigen Träger der Thora, zu einer willenlosen Leiche machten? Gab’s auch zu Zeiten der Kreuzzüge jüdische Männer, die öffentlich mit dem Eheweibe eines andern Ehebruch trieben, für diesen Ehebruch die religiöse Begründung mit Chuppa und Kiduschin[32] forderten, und gab es auch jüdische Vorstände, die solches bewilligten, jüdische Rabbinen und Prediger, die solches vollzogen, und jüdische Gemeinden, die sich alles das ruhig gefallen ließen, und weil man einmal, als sie ein schüchternes „Aber“ dagegen wagten, ihnen mit dem heiligen Pantoffel auf den Mund geschlagen, nun meinten, genug getan zu haben und fortan durch ehrerbietiges Schweigen und Dulden ihrer Pflicht zu genügen?

Wahrlich! Wären wir, was wir sein sollten, — wir meinen nicht die vom Gottesgesetze abgefallenen Brüder, wir meinen uns, die [33] נֶאֱנָחִים וְנֶאֱנָקִים עַל אָבְדַן דָּתֵנוּ   — nicht streichen würden wir die Sefira-Gebete, hinzufügen würden wir die Nationalseufzer aus unserer Zeit, das Angstgeschrei über die Gefahren unseres Galuth, würden von den Vätern lernen in der Bresche zu stehen für die Thora, uns hinzuopfern für die Thora, zu Gott uns zu flüchten mit seiner Thora. Und wie dann auch unser Leben ein Muster des Mutes und der Unerschütterlichkeit, der Tatkraft und Hinopferung für Gott und sein heiliges Gesetz unseren Enkeln böte, so würden wir ihnen eben diesen Geist mit dem Gedächtnis unserer Ängste und Kämpfe in den aus unserer Zeit stammenden Sefira-Jozeroth vererben, und wie wir von dem  [34]תתנ“ו unserer Väter erzählen, so würden unsere Enkel unsere Zeit etwa nach den Jahren nennen, in welchen öffentlich Rabbiner unter uns darüber getagt — wie man in anständiger Weise — die Thora und Mizwoth begrabe —

Und wäre dies alles auch nicht, wäre unsere Zeit bereits die glückliche Zeit, zu der wir uns sicherlich emporarbeiten, in welcher unter dem heiteren Strahl der Freiheit und des Rechts der jüdische Geist und das jüdische Leben in nie geahnter Blüte und Vollendung sich entfaltet, wären nicht dann, und dann zu allermeist diese Gedächtnis-Gebete an ihrer Stelle, hätten sie dann nicht erst recht für alle Zeit ihre Bestimmung zu lösen: die glücklichen Enkel zu erinnern, unter welchen Kämpfen und Sorgen, mit welchen Opfern und Mühen ihre Väter die Thora und Mizwoth retten mussten, deren Besitz und Verwirklichung die Enkel beglückt und verherrlicht — wird es eine Zeit geben, in welcher es heilsam wäre zu vergessen, welche Schweiß- und Blutstropfen fast an jeder Mizwa hängen, die wir aus den Prüfungsgängen des äußeren und inneren Galuth Jahrhunderte hindurch gerettet? Wird es irgendeine Zeit geben, in welcher es überflüssig wäre, uns an dem leuchtenden Beispiel derer zu erwärmen, die

Gott lieb und hold in ihrem Leben gewesen,
Und auch im Tode von ihm nicht ließen,
Leichter waren als Adler, stärker als Löwen,
Den Willen ihres Eigners und den Wunsch ihres Hortes zu vollbringen? [35]

Dieser über alle irdischen Mühen und Sorgen, über alle irdischen Verlockungen und Reize sich leicht zu Gott emporschwingende Adlerflug, dieser allem Widerstand und allen Gefahren tatkräftig und stark begegnende Löwenmut wird uns zur Erfüllung der Thora und Mizwoth in jeder Zeit nottun, wenn unsere Enkel einst, auch unser Andenken segnend, auf uns zurückblicken und uns in das Gedächtnis derer miteinschließen sollen, die

הַנֶּאֱהָבִים וְהַנְּעִימִים בְּחַיֵּיה           
 וּבְמותָם לא נִפְרָדוּ                                              
 מִנְּשָׁרִים קַלּוּ מֵאֲרָיות גָּבֵרוּ                                  
 לַעֲשות רְצון קונָם וְחֵפֶץ צוּרָם.                             
 יִזְכְּרֵם אֱלהֵינוּ לְטובָה עִם שְׁאָר צַדִּיקֵי עולָם[36]         

Nachwort zum vorherigen Artikel von Michael Bleiberg

Die hier von Rabbiner Hirsch s“l in deutscher Übersetzung wiedergegebenen Jozeroth sind natürlich im Original in einem mittelalterlichen Hebräisch geschrieben worden. Dieses Hebräisch ist selbst für einen hebräischen Muttersprachler schwer zu verstehen — denken wir doch nur einmal daran, wie sich auch die deutsche Sprache im Lauf der Zeiten veränderte. Wer ist in der Lage mittelhochdeutsch zu lesen oder zu verstehen.

Ich habe hier als ein Beispiel aus der erwähnten Sammlung der Jozeroth und Piutim von Dr. S. Baer s“l das Lied אֶזְכָּרְךָ דּוֹדִי   ausgesucht. Sie können ja versuchen den Text mit Hilfe der Übersetzung von Rabbiner Hirsch auf Seite 9 ff zu lesen. Es ist nicht einfach.

Die Schwierigkeit die Texte zu lesen mag ein Grund gewesen sein, dass diese Gebete aus dem Gottesdienst gestrichen wurden. Ein weiterer Grund liegt möglicherweise daran, wie ebenfalls bereits erwähnt, es einen polnisch-aschkenasischen und einen deutsch-aschkenasischen Ritus gab. Mit dem Zuzug immer größer werdender jüdischer Flüchtlinge nach Deutschland aus den polnisch-russischen Gebieten im 18. und 19. Jhdt.  entstand ein Streit darüber welche Jozroth zu welchen Anlässen in der Synagoge gesprochen werden sollten. Wenn der amtierende Rabbiner einer Gemeinde hier nicht ein Machtwort sprechen konnte oder wollte, war es für alle Beteiligten leichter auf diese Gebete zu verzichten, da sie nicht verpflichtend waren als in Streit darüber zu geraten.

Ein dritter Grund ist natürlich der Holocaust. Durch ihn wurden wie zur Zeit der Kreuzzüge, die jüdischen Gemeinden vernichtet.

Noch eine Anmerkung zu der Anmerkung von Dr. Naftali Hirsch s“l auf Seite 11 Fußnote 19. Das Jüdische Jahr richtet sich nach dem Mondkalender und hat somit nur 354 Tage gegenüber dem Sonnenjahr mit 365 Tagen. Diese Differenz von 11 Tagen wird durch einen zusätzlichen Monat, Adar II, in einem Abstand von 2 bzw.3 Jahren ausgeglichen. Als Schaltjahre sind das 3., 6., 8., 11., 14., 17. und 19. Jahr bestimmt. Diese 19 Jahre sind ein Zyklus – danach beginnt die Einschaltung der Schaltjahre von neuem. Zählt man 259 Zyklen seit dem Beginn der jüdischen Zeitrechnung á 19 Jahre, gelangt man (259 x 19) in das Jahr 4856 nach jüdischer Zeitrechnung. Das ist das Jahr 1096 nach der weltlichen Zeitrechnung. Das Jahr des Beginns der Kreuzzüge.

Ich habe im Vorwort darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit zwischen Pessach und Schawuoth für uns Juden nicht immer eine glückliche war. Deshalb sei jetzt noch abschließend angefügt, dass auch die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto in die Omerzeit fiel. Der Aufstand begann am 19. April 1943 und endete mit der Zerstörung der „Großen Synagoge“ am 16. Mai 1943 durch SS-Gruppenführer Jürgen Stroop.

Dieses prachtvolle Gebäude der assimilierten polnischen Judenschaft wurde am 26. September1878 zu Rosch Ha´Schanah unter „Anwesenheit des Generalgouverneurs von Polen, der persönlich das Hauptportal eröffnete[37]“ den Warschauer Juden übergeben.

„Stroop geriet nach dem Krieg in Gefangenschaft und wurde hingerichtet. Er schilderte seine Eindrücke der Sprengung der Synagoge mit folgenden Worten: „[…] Als schönen Schlussakkord der Großaktion (der Zerstörung des Warschauer Ghettos) hatte ich die Sprengung der Großen Synagoge in der Tolmackie-Straße angeordnet. […] Ich zögerte den spannenden Augenblick noch etwas hinaus. Schließlich rief ich: Heil Hitler! und drückte auf den Knopf. Die ungeheure Explosion riss die Flammen bis zu den Wolken. Ein durchdringender Knall folgte, die Farben waren geradezu märchenhaft. Eine unvergessliche Allegorie des Triumphes über das Judentum! Das Warschauer Ghetto hatte aufgehört zu existieren […]37““ Das Polnische Judentum im Sinne Rabbiner Hirschs schon viel früher!

[1] Übersetzung von Dr. S. Bernfeld

[2] Italienische Stadt: Ehemals ein wichtiger Knotenpunkt für Pilger, Händler, Kreuzritter und Templer auf ihrer Reise Richtung Süden.

[3] Stadt in Frankreich: Wikipedia: 1095 fand in der Stadt unter Papst Urban II. die Synode statt, auf welcher der Papst in der letzten Versammlung am 27. November in Gegenwart von 13 Erzbischöfen, 315 Bischöfen und Äbten und einer großen Menge Adliger und einfacher Leute zum ersten Kreuzzug aufrief. Die Menge soll seine Rede mit dem begeisterten Ausruf „Deus lo vult“ (Gott will es) quittiert haben, worauf der Kreuzzug unter Führung des Bischofs von le Puy, Ademar, seinen Anfang nahm.

[4] Gebete während der Omerzeit

[5] Zeit unserer Freiheit; andere Beschreibung für das Pessachfest

[6] Zeit unserer Thoragebung; andere Bezeichnung für das Schawuothfest

[7] Zusatzgebet zur Schmone Esre

[8] Segen der Kohanim, Priestersegen

[9] … dass der Tempel bald in unseren Tagen gebaut werde, und gib unser Anteil an Deiner Lehre, ….. (Übersetzung aus Hirsch-Sidur); s. auch Fußnote 4

[10] Psalm 67:7 „Die Erde gibt ihren Ertrag,….

[11] Psalm 67:7 … es segnet uns Gott, unser Gott“ (Übersetzung Dr. S. Bernfeld)

[12] Anmerkung von Dr. Naftali Hirsch: Diese Dichtung sowie die folgenden: אֱלוֹקִים בְּאָזְנֵינוּ שָׁמַעְנוּאוֹתְךָ כָּל הַיּוֹם קְוִינוּאֱלֹקַי יְמֵי שְׁנוֹתַי כָּלוּ gehören zu den „Jozeroth“, welche an den Sabbathen zwischen Pessach und Schawuoth im Morgengebet eingeschaltet werden.

Anmerkung von M.B.: Der Autor dieses Textes ist Meschullam ben Kalonymos. Laut Wikipedia war er ein Rabbiner, Dezisor (jüdischer Gelehrter, der eine bindende Entscheidung bei der Auslegung von religiösen Gesetzen treffen kann) und Pajtan (Dichter religiöser Texte) zum Ende des 10. Jahrhunderts. Er ist außerdem unter den Namen Meschullam der Große oder Meschullam von Rom bekannt… Meschullam entstammt dem bedeutenden Familienverband der Kalonymiden, die ursprünglich aus Lucca in Italien stammt und später in der Provence und in Deutschland, namentlich Mainz und Speyer ansässig wurde. Die Kalonymiden spielten über mehrere Generationen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Wissenschaft und der zum liturgischen Gebrauch bestimmten Dichtung des Judentums im Heiligen Römischen Reich.
Durch seine Ansiedlung in Mainz brachte Meschullam sowohl die Gelehrsamkeit des italienischen Judentums an den Rhein, als auch Kontakte zu den Talmudinterpreten der jüdischen Akademien in Babylonien. Moses ben Kalonymos, oder Moses der Ältere, begründete den Familienstamm der Kalonymiden im Frühmittelalter, er lebte um 980. Ihm wird die Gründung der Mainzer Gemeinde zugeschrieben.
Meschullam wurde nicht nur durch seine Gedichte bekannt, sondern auch durch seine Bescheide zur Wirtschaftskultur unter den Handel treibenden Familien beziehungsweise Gemeinden. Diese Maarufja verbietet den Gemeinden einander nichtjüdische Kunden abzuwerben und zu ihnen Geschäftsbeziehungen aufzubauen und sichert damit ein exklusives Vertriebsrecht zu einem festgelegten Kunden zu. Meschullam hatte wahrscheinlich auch entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des aschkenasischen Gottesdienstes.

Leopold Zunz datiert den Zeitpunkt des Todes Meschullams auf das Jahr 975. Es wird aber vermutet, dass Meschullam weitere 15 Jahre bis etwa 1000–1010 in Mainz verbrachte. Sein Grabstein aus dem Jahr 1020 ist mit Rabbana Mešullam ben Rabbana Rabbi Kalonymos beschriftet und der älteste identifizierte Grabstein auf dem Mainzer Judensand.

[13] Anmerkung Dr. Naftali Hirsch: Metapher für die babylonische Macht (in Anlehnung an Jeremias, K. 4, V 7; Daniel, K. 7, V. 4

[14] Anmerkung Dr. Naftali Hirsch: Die Perser

[15] Anmerkung Dr. Naftali Hirsch: Die Griechen

[16]Anmerkung Dr. Naftali Hirsch: Die Römer (in Anlehnung an Daniel K. 7 V. 5-7 und bzw. Psalm 80:14)

[17] Der Autor dieses Liedes ist Efraim ben Isaak. Laut Wipipedia wurde er um 1110 in Regensburg geboren und verstarb um 1175 ebenda, er ist auch bekannt als Efraim der Große von Regensburg, war ein Schriftgelehrter und Dichter des 12. Jahrhunderts. Efraim ben Isaak trat als liturgischer Dichter (Pajtan) hervor. Seine 32 erhaltenen Pijjutim (liturgischen Gedichte) gehören zum Besten, was die deutsche Dichterschule des Mittelalters hervorgebracht hat. Seine Pijjutim fanden Eingang in die Gebetbücher und wurden noch bis ins 18. Jahrhundert rezitiert. Efraim ben Isaaks Kommentare zu den Talmudtraktaten Pirqe Avot und dem Seder Nesiqin gingen spätestens 1519 verloren, als im Zuge des Pogroms in Regensburg – das zugleich auch die 350-jährige Geschichte Regensburgs als bedeutendes jüdisches Zentrum gewaltsam beendete – die Talmudschule geplündert und die kostbaren Pergamente beschlagnahmt wurden.

Er war einer der ältesten Schüler des Rabbenu Tam, bei dem er als junger Mann studierte. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich ließ er sich in Regensburg, wo er vermutlich auch geboren worden war, nieder und richtete dort gemeinsam mit Isak ben Mordechai und Moses ben Abraham ein rabbinisches Kollegium ein. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Regensburg, wo auch sein Sohn Moses – ebenfalls ein bedeutender Schriftgelehrter – und sein Enkel Judah – ein Schüler von Eleazar von Worms – lebten.

[18] Dieses Lied wurde von Elieser ben Nathan komponiert. Laut Wikipedia stammt er aus Mainz und wurde auch Elieser bar Nathan genannt. Er lebte ungefähr von 1090 bis 1170 in Mainz und war Halachist und liturgischer Dichter. Sein bekanntestes Werk ist Eben ha-eser („Stein der Hilfe“), Ritualwerk und zugleich kultur- und literargeschichtliche Quelle ersten Ranges.

Elieser ist Autor einer Chronik über das Pogrom im Umfeld des Ersten Kreuzzugs (1096), das er als Kind und Augenzeuge miterlebte. Verfasst hat er seinen Bericht darüber noch vor dem Beginn des Zweiten Kreuzzugs 1146 in hebräischer Sprache.

[19] Anmerkung von Dr. Naftali Hirsch: Die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge fielen teilweise in den 256ten der je 19 Jahre umfassenden Ausgleichzyklen (מחזור) des jüd. Kalenders, und speziell das Jahr ihres Beginns, 4856 a. m. = 1096 der gew. Zeitrechn., nach welchem diese Verfolgungen im jüd. Kreise benannt werden (גזרת תתנ“ו), gehörte diesem Zyklus an. Die Zahl 256. ergibt im Buchstabenwert des hebr. Alphabets רנו (Ranu), seinem Wortsinne nach von רנן, jubeln. An diese Zahlen- und Wortbedeutung knüpft hier der Dichter an, zugleich hinblickend auf die Schriftstelle: רנן ליעקב שמחה (Jeremias, K. 31. V. 7.) und bezüglich der Jahreszahl תתנ“ו auf die Schriftstelle: גאלה תתנו לארץ (3. B. M, K. 25, V. 24.). Siehe hierzu auch das Nachwort zu diesem Artikel Seite 20

[20] Jesaja 52:7

[21] Leider irrt hier Rabbiner Hirsch. Aber wer konnte zu seiner Zeit vorausahnen, das die Verbrennungsöfen der Gaskammern in den Konzentrationslager die Leiden der Juden zu den Zeiten der Kreuzritter noch in den Schatten stellen würden.

[22] Leider trifft diese Aussage Rabbiner Hirschs auch auf unsere Generation zu. Wenn wir nicht sofort beginnen Bildungseinrichtigungen im Sinne Rabbiner Hirschs „Torah im Derech Eretz“ zu schaffen, wird es in wenigen Jahren keine Juden in Europa mehr geben.

[23] Damit sind die sich vom Judentum immer weiter entfernenden liberalen und reformistischen Rabbiner angesprochen.

[24] Der Komponist dieser Verse ist Joseph ben Samuel Bonfils. Laut Wikipedia war er ein französischer Rabbiner, Talmudist , Bibelkommentator und Payyetan (Autor von Piyyutim ) aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Er ist auch unter dem hebräischen Namen Yosef Tov Elem bekannt, einer hebräischen Übersetzung des französischen Namens „Bonfils“.

Die Tätigkeit von Bonfils war vielseitig. Eine Reihe seiner Entscheidungen, die bei seinen Zeitgenossen und der Nachwelt hohes Ansehen erlangten, finden sich in „ Der Mordechai “. Unter seinen zahlreichen gerichtlichen Entscheidungen verdient eine Erwähnung, dass im Spiel gewonnenes Geld als illegaler Besitz erklärt und der Gewinner gezwungen wird, es zurückzugeben. Eine weitere wichtige Entscheidung ordnete eine geringere Besteuerung des jüdischen Bauern als des Kaufmanns an, da die Landwirtschaft weniger einträglich war als der Handel. Die Sammlungen seiner Responsa, die in Moses Alashkars Responsa erwähnt werden, als auch seine Sammlung der Responsa der Geonim, sowie seine Bibelkommentare, die von einigen der alten Autoren erwähnt wurden, sind verschwunden.

Die Fähigkeit und Aktivität von Bonfils lassen sich am besten anhand seiner Beiträge zur Dichtung der Synagoge beurteilen. Nicht weniger als 62 seiner Piyyuṭim nehmen prominente Plätze in der französischen, deutschen und polnischen Liturgie ein. Diese Kompositionen zeigen, dass er mehr als ein gewöhnlicher Dichter unter den deutsch-französischen Payyeṭanim seiner Zeit war. Nur wenige erreichten ihn in der Schönheit der Bilder und der Leichtigkeit des Ausdrucks. Die Poesie der Synagoge verdankt Bonfils außerdem zutiefst die Einführung des Piyyuṭim in die Gebete, trotz großer Widerstände. Von seinen vielen Piyyuṭim ist das bekannteste, das für „ Sabbat HaGadol“ geschrieben wurde“ (der Sabbat vor Pessach), der mit den Worten „Elohei haruchot“ beginnt und die Regeln für die Pessach-Reinigung („bi’ur“) und den erzählenden Gottesdienst für den Abend enthält. Seine abschließenden Zeilen, beginnend mit „Hasal seder Pessach“, erscheinen gegen Ende der Pessach- Haggada .

[25] außer Kraft setzen

[26] Jüdische Geistliche, die den Beruf des Schächtens erlernt haben.

[27] nicht religiös geschächtetes Fleisch

[28] Fleischer

[29] Als Ukas wird in mehreren Staaten Ost- und Südosteuropas ein Monarchen-, Regierungs- oder Präsidentenerlass mit Gesetzeskraft bezeichnet.

[30] Gemeinde

[31] der aufrechten Gemeindemitglieder

[32] Religiöse Hochzeit

[33] frei übersetzt: die Seufzenden und Stöhnenden über religiösen Verlust

[34] das Jahr 1096 in dem die Kreuzzüge begannen

[35] aus dem Gebet Av Ha´Rachmin, das heute am Schabbat (mit Ausnahmen) vor dem Einheben der Thora gesprochen wird – nach deutschem Ritus nur am Schabbat vor Schawuoth und Tescha Be Av.

[36] aus dem Gebet Av Ha´Rachmin                  Er möge gedenken
                                                               der Geliebten und Herrlichen
                                                               die im Leben und im Tod zusammenhielten,
                                                               rascher waren als Adler, stärker als Löwen,
                                                               den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen und den Wunsch ihres Hortes.

                                                               Möge unser Gott sie zum Guten bedenken mit den übrigen Gerechten der Welt.

Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bamberger

[37] s. Wikipedia „Große Synagoge (Warschau)“

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