Für die Wanderschaft.

Leitsätze von Rabbiner Hirsch זצ״ל.

Diese Leitsätze habe ich in der Zeitschrift „Nachlat Zwi“, 8. Jg., Heft 4-6 (Januar 1938) gefunden. Die Redaktion der Zeitschrift, wollte wohl mit diesen Leitsätzen den sich auf die bevorstehende „Wanderschaft“ vorbereitenden Juden Mut machen, dass auch die jetzt anbrechende Zeitenwende in Deutschland und Europa vorüber gehen wird.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Das Original finden sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2554379

Für den Antritt seiner langen Galuthleiden in Mitte der Völker, die, so wie seine Erhaltung in denselben und seine endliche Wiedererlösung ihm ja längst in der, [1]תּוֹרָה angekündigt waren, hat Gott ihm die Zusage mit hinausgegeben: magst du in isolierte Gebirgshöhe dich verlieren oder in des Meeres Schattentiefe sinken, aus beiden führe Ich wieder zurück.

Ps.  68, 23.

So ist das ganze lange, lange Exil „im Lande ihrer Feinde“— trotz allem nichts als eine auf langen, langen Umwegen unter unsichtbarer Gottesleitung sich vollziehende Heimführung zur alten Heimat und zur ewig unverlierbaren alten Bestimmung.

Lev.  26, 41.

Wenn auch zu Atomen durch alle Enden zerstiebt, wenn auch zeitlich seinem hohen Berufe absterbend, ein geistiges Element [2]כִּי לֹא תִּשְׁכַּח מִפִּי זַרְעוֹ bleibt unverlierbar sein eigen, das „Buch der Bücher“ bleibt sein ewiges Ureigentum, und der Geist, der zu ihm daraus spricht, er wird sein Wanderlied in seinen Wanderrasten durch die Zeiten  , [3]זְמִרוֹת הָיוּ לִי חֻקֶּיךָ בְּבֵית מְגוּרָיer wird sein Nachtgesang in den Nächten seiner Exilesleiden [4]וּבַלַּיְלָה שִׁירׄה עׅמִּי, bis er einst mit weckender Sangesmacht alle schlummernden Geister, alle ersterbenden Gemüter der alten Wahrheit mit frischem Lebensmut zuführt, und aus dem Grabe der Vergangenheit das „Volk der Bibel“ zu neuverjüngtem Leben ersteht.

  Deut.  31, 21.

Wie arm an allem äußeren Glanz wir waren, wie verlassen wir schienen, und wie sehr wir die Nichtachtung, ja die Verachtung der Welt in dieser unserer äußeren unscheinbaren Stellung trugen, Gott hat unserer Armut keine Nichtachtung, geschweige denn Verachtung zugewendet.

Ps.  22, 25.

Mitten in diesem Wandel alles Irdischen gewinne du ein ruhiges, stetiges Sein — wenn auch alles unter dir und neben dir wankt und wandelt. 

Ps.  37, 3.

Nie darf das Bewusstsein von der Unzulänglichkeit unserer Kraft uns zur Untätigkeit führen — für alles Gute haben wir einen mächtigen Mitträger in Gott.  Tun wir das unsrige, Gott wird das Seine tun. 

Ps.  37, 5.

Am Tage hatte der Jude zu kämpfen mit der Sorge ums Brot für Weib und Kind, mit den Feinden seiner Existenz, mit dem Hohn und der Verachtung, mit den böswilligen Plackereien, die man ihm allerorts in seinen, ohnehin dornenvollen Lebensweg streute.  Wie aber der Tag zur Rüste[5] ging, rief die sinkende Sonne ihn heim, heim zu seinen Lieben, heim zu seinen Brüdern, zu seinen Büchern, seinen Bet- und Lehrhäusern, zum Verkehr mit seinem Gott, seinen Geist – und Gesinnungsgenossen der Gegenwart, und, meist in Gemeinschaft mit ihnen, mit den großen Geistern seiner nationalen Vergangenheit, aus deren Schriften ihm Verständnis und Erkenntnis, Trost und Mut, Begeisterung und Kraft für seine gottgewiesene Lebensbahn quoll — mit dem Quersack[6] legte der wandernde Hausierer auch die Bürde des geplagten Lebens ab, atmete als Mensch, als freier Mensch vor seinem ״freimachenden“ Gott auf —

Ps.  88, 2.

In Knechtesgestalt, unter welcher es inmitten der Völker wandelt, findet es Verachtung und Hohn, und die Verachtung war der bitterste Tropfen in dem Kelch seines Leidens und forderte zugleich das Aufgebot aller geistigen und sittlichen Kraft, ihr gegenüber die Selbstachtung zu bewahren.  — Umso mehr musste es sich in die ganze Tiefe des ihm anvertrauten geistigen Gottesschatzes vertiefen, sich für dessen Erkenntnis und Ausbau im Leben geistige Begabung und sittliche Kraft von Gott erbitten, und in deren Gewährung, Verwendung und Betätigung das beglückende Bewusstsein der Gottesgegenwart in seiner Niedrigkeit und eine heitere Beseligung finden, die ihm alles ersetzte, was ihm die Verachtung der Menschen versagte.

Ps.  123, 3.

Gott hat immer Großes an uns getan, indem wir unter der ganzen Wucht der Leiden heiter geblieben sind.  — Auch als wir nicht zu lachen, nicht zu jubeln hatten, heiter waren wir, haben die Frische unseres Geistes und unseres Herzens bewahrt, und haben mitten im äußeren Jammer ein stilles Glück, eine innere Zufriedenheit genossen, die nur die unsichtbare Gottesnähe bewirkte —

Ps.  126, 3.

Jüdisches Volk hatte den Mut und die sittliche Kraft, mit ungebeugtem Selbstbewusstsein aufrecht zu bleiben und trotz seiner Niedrigkeit sich als auch eine Größe in den weltgeschichtlichen Erscheinungen der Menschengeschichte zu fühlen.

Ps.  123, 4.

Es war ihnen Gottesheimsuchung und gottgesandte Prüfung, wenn der Boden unter ihnen bebte, der Aufruhr der Nationen ihnen entgegen wetterte und der zackige Blitz des Hasses sich auf ihre Häupter entlud — und weil sie mitten in diesen Prüfungen nicht nur zum ergebenen Dulden, sondern zur frischen, frohen, freudigen, lebensvollen Tat, sich berufen wussten, לִשְׁמֹר וְלַעֲשׂוֹת „Lernen und Üben“ ihr ganzes Leben ausfüllte, hatten sie gar keine Zeit, sich dem kleinmütigen Schmerz und der jammernden Verzagtheit hinzugeben, arbeiteten sie sich durch das böseste, dunkelste Wetter der Ereignisse zur lichten Höhe des Gottesgedankens und der Paradiesesheiterkeit der Gott dienenden Tat hindurch, und indem sie das ganze düstere Geschick mit in die Summe ihrer von Gott gesetzten Lebensaufgabe begriffen, darin nur den dunklen Boden erkannten, auf welchem der Wille ihres Herrn und Meisters die lichthelle Erfüllung seines Willens von ihnen erwartete, lernten sie die Wahrheit jenes alten Weisheitsspruches kennen : [7]שׁוֹמֵר מִצְוָה לֹא יֵדַע דָּבָר רָע den Blick auf die Pflicht, auf Mizwa gerichtet, kennt man nichts Böses und Trübes!

Ges.  Schr.  III, 160/1.

Wohin und in welche Isoliertheit du auch den wandernden Fuß setzen mögest, überall hin, nach [8]אַרְבַּע כְּנָפוֹת, nach allen Richtungen, nach Ost und West, nach Süd und Nord, trägst du dieselbe Mahnung an die eine überall zu lösende Aufgabe mithin —: in jeder Zeit und an jedem Ort soll dein Menschendasein in deinem jüdischen Beruf aufgehen. 

Nu.  15, 40.

Samenkörner der Wahrheit von Gott und der Menschenbestimmung sollte es aussäen in den Zukunftsacker der Menschheit, und es hat diesen Beruf als Gottes-Säer vollbracht durch das Gottesbuch, das überall die Völker aus seinen Händen hinnahmen, und durch den lebendigen Kommentar, den es zu der Lehre dieses Buches, durch ein dem Geistigen, Menschlichen und Reinen zugewandtes, mit opferfreudiger Hingebung, in Sittlichkeit und Pflichttreue sich vollendendes Einzel- und Familien- und Gemeindeleben lieferte.  Wohl war diese Saat unter einem tränenreichen Geschicke vollzogen.  Allein die Zeit der Ernte kommt, und wenn dann die unter Tränen gestreute Saat aufgegangen sein wird in der immer größer werdenden Gottes – Huldigung, welche die Wahrheit und das Recht, die Sittlichkeit und die Liebe als die Pflichtbestimmung der Menschen auf Erden gefunden haben werden, dann wird der Gottes-Säer, der zu all dem die Saaten auszustreuen und mit seinen Tränen zu tränken hatte, dieser Ernte jubelnd sich freuen dürfen.

Ps.  126, 5.

Nur eine volle Rückkehr zur unverbrüchlichen Treue gegen dieses Gesetz in aller Zerstreuung unter die Völker endet diese Zerstreuung, und nur die endliche volle Verwirklichung dieses Gesetzes auf dem Roden des ihm allgehörigen Landes ist das Ziel der einstigen Wiedersammlung in demselben.

Deut.  30, 10.

(Wird fortgesetzt.)

Zu einer Fortsetzung kam es nicht, es kam der Holocaust dazwischen.


[1] Thora, 5 Bücher Moses

[2] Deuteronomium 31:12; … denn vergessen wird er nicht werden von seiner Kinder Mund. (Übersetzung Rabbiner Hirsch)

[3] Psalm 119:54; … werden Gesänge mir Deine Gesetze in meinem Wanderhaus. (Übersetzung Rabbiner Hirsch)

[4] Psalm 42:9; … und auch in dieser Nacht ist Sein .. Lied bei mir… (Übersetzung Rabbiner Hirsch)

[5] Sich neigte

[6] Wikipedia: Ein Quersack ist eine Art Rucksack, bestehend aus an beiden Enden geschlossener Leinwand. Er wird auch als sogenannter Bettelsack von Bettlern verwendet.

[7] Sprüche Salomons 8:5; Wer das Gebot beobachtet, erfährt nichts Böses,

[8] „Vier Ecken“

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