Im Jahr 1868 zeichnete es sich bereits ab, dass die Zeitschrift „Jeschurun“ bald eingestellt werden würde. Für die Monate April bis Juni gab es eine Gemeinschaftsausgabe, für die Monate Juli bis September ebenfalls eine. Danach erschienen noch 4 weitere Gemeinschaftsausgaben und im Sommer 1869 war dann Schluss. 15 Jahre erschien die Zeitschrift in der Hoffnung, das deutsche Judentum zurück zur Thora zu bringen.
So ist dieser Aufsatz von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l zu lesen. Fast wie ein letzter Aufschrei versucht er hier den deutschen Juden, die, wie in kaum einem anderen Land dem Reformjudentum verfallen waren und sind, den Weg zurück zur Orthodoxie aufzuzeigen.
Sein Sohn Dr. Mendel Hirsch s“l hat diesen Artikel auch in den „Gesammelten Schriften“, Band 6, seines Vaters aufgenommen deren Bearbeitung hier zugrunde gelegen hat.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2951267
Es kennzeichnet den jüdischen Sinn, ein jedes Werk mit dem Zuruf: חֲזַק וְנִתְחַזֵּק zu beschließen, und damit sich und die Genossen zur Ausdauer, und zur gegenseitigen Ermunterung zur Ausdauer im Fortarbeiten zu mahnen. Niemals zurückschauen soll der jüdische Sinn, nie in dem bereits Geleisteten sich wohlgefällig spiegeln, nie, wie man sagt, auf seinen Lorbeeren ausruhen; immer soll das bereits Vollbrachte vor seinem betrachtenden Blick verschwinden, nur Vertrauen und Mut zu künftigen, neuen, und womöglich größeren und besseren Leistungen soll er aus dem Gedanken des Vollendeten schöpfen und mit dem Rufe: חֲזַק וְנִתְחַזֵּק sich und die Genossen zu neuer Frische zur neuen Tat ermuntern. Sollen doch die Mizwot[1] unserer Lebensaufgabe, [2] בְּכָל יוֹם יִהְיוּ בְעֵינֶיךָ כַּחֲדָשִׁים, jeden Tag als ganz neue vor unsere Augen treten, und jeder Tag uns mit so unverbrauchter Kraft und Munterkeit bei unserer Lebensarbeit finden, als gäbe es kein Gestern für unseren Beruf, als wäre uns die Aufgabe erst heute aus der Hand unseres Meisters geworden.
Es meint aber die Anschauung eben dieses Sinnes, dass vor allem חִזּוּק, Festigkeit, zur Lösung aller jüdischen Lebensaufgaben gehöre, Festigkeit, die sich durch Widerspruch nicht schwankend, durch Schwierigkeiten nicht wankend, durch Hohn und Spott selbst in hingebungsvoller Arbeit für das Ziel nicht irre machen lässt, das man als wahr und gut vor Gott aus tiefster Seele erkannt. אַרְבָּעָה, vier Ziele zunächst, meint ein Wort altjüdischer Weisheit (Berachoth 32, b.) אַרְבָּעָה צְרִיכִין חִזּוּק, וְאֵלּוּ הֵן: תּוֹרָה, וּמַעֲשִׂים טוֹבִים, תְּפִלָּה, וְדֶרֶךְ אֶרֶץ , vier Ziele bedürfen der Ermunterung zur Festigkeit: die Wissenschaft der Gotteslehre, die Erfüllung derselben, Gebet, und die Aufgaben des sozialen Lebens. תּוֹרָה וּמַעֲשִׂים טוֹבִים מִנַּיִן?, die Wissenschaft und die Erfüllung der Gotteslehre: שֶׁנֶּאֱמַר: ״רַק חֲזַק וֶאֱמַץ מְאֹד לִשְׁמֹר וְלַעֲשׂוֹת כְּכׇל הַתּוֹרָה״, ״חֲזַק״ — בַּתּוֹרָה, ״וֶאֱמַץ״ — בְּמַעֲשִׂים טוֹבִים., denn es heißt, (Josua K. 1.) nur sei fest und stark, ganz der Lehre gemäß zu hüten und zu erfüllen, sei fest in der Wissenschaft und stark in der Erfüllung; תְּפִלָּה מִנַּיִן? das Gebet: שֶׁנֶּאֱמַר ״קַוֵּה אֶל ה׳ חֲזַק וְיַאֲמֵץ לִבֶּךָ וְקַוֵּה אֶל ה׳״. , denn es heißt (Ps. 27) hoffe zu Gott, sei fest, und stark sei dein Herz und hoffe zu Gott! דֶּרֶךְ אֶרֶץ מִנַּיִן?, die Aufgabe des sozialen Lebens: denn es heißt (Sam. II. K. 10) שֶׁנֶּאֱמַר ״חֲזַק וְנִתְחַזַּק בְּעַד עַמֵּנוּ וְגוֹ׳״, sei fest und lasse uns einander in der Festigkeit bestärken für unser Volk usw.
Es dürften aber diese vier Ziele, die theoretische Erkenntnis und die praktische Erfüllung der Gotteslehre, die Arbeit an sich selber im Gebet und die Arbeit für sich und die Mitgenossen im bürgerlichen Leben, wohl fast alle Bestrebungen umfassen, denen die Tat unseres Lebens geweiht ist, und die Verhältnisse, die für deren Lösung unsere Festigkeit herausfordern, dürften wohl in jeder Zeit sich eigentümlich gestalten.
תּוֹרָה, die theoretische Erkenntnis derselben, fordert schon durch ihren Gegenstand חִזּוּק, die ausdauernde Hingebung des ganzen Menschen. Eben weil תּוֹרָה nun keine Religionslehre, keine Theologie, keine Dogmatik ist, sondern in buchstäblichem Sinne אֲרֻכָּה מֵאֶרֶץ מִדָּהּ וּרְחָבָה מִנִּי יָם (Jjob K. 11 V. 9[3]), ausnahmslos alle Beziehungen des Menschen in seinem irdischen Hiersein unter der Norm des Gesetzes gestaltend umfasst, und weil sie für diese Beziehungen nicht nur allgemeine Normen bietet, sondern eine jede allgemeine Norm in der ganzen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen anwendend verfolgt, und aus der gesetzlich gestalteten Erscheinung des Einzelnen normale Begriffe des Allgemeinen bereichernd abstrahieren lehrt, darum ist sie so reich und umfassend, ja so unendlich wie das ewig sich fortspinnende Leben des inneren und äußeren Menschen, und darum, und weil sich die Tiefen ihrer Wahrheiten nur dem umsichtigsten, eindringendsten Denken erschließt, darum fordert ein auch nur einigermaßen erschöpfendes Auffassen ihres Inhaltes die ausdauerndste Hingebung des ganzen Menschen.
Und welche eigentümlichen Schwierigkeiten bietet die Gegenwart dem ernsten Jünger der תּוֹרָה – Wissenschaft schon durch die so spärlich gewordene Gelegenheit des „Lernens“ bei bewährten Meistern! Freilich, wenn die sadduzäische[4] Beantwortung der Frage וְתוֹרָה מָה תְּהֵא עָלֶיהָ? (Kiduschin 66 a.) was soll aus der Thora werden? הֲרֵי כְּרוּכָה וּמוּנַּחַת בְּקֶרֶן זָוִית, כָּל הָרוֹצֶה לִלְמוֹד יָבוֹא וְיִלְמוֹד. „sie liegt in Rollen im Winkel, wer sie lernen will, komme und lerne“, eine Wahrheit wäre, dass die Wissenschaft der Thora aus den toten Buchstaben der Bücher geschöpft werden könne, den sich ein jeder nach subjektiver Anschauung und Einsicht zu beleben habe; wenn es nicht, selbst nachdem das mündliche Wort schriftlich fixiert geworden, des lebendigen Meisterwortes bedürfte, um in den Hallen dieser Wissenschaft irrelos heimisch zu werden: dann freilich war vielleicht keine Zeit so reich an Gelegenheit zum „Lernen“ als die unsrige, die mehr als je in zahlreichen Ausgaben die literarischen Quellen der jüdischen Wissenschaft dem wissbegierigen Leser bietet. Allein wie spärlich sind die Meister dieser Wissenschaft gesät, zu denen Jünglinge pilgern können, um die lebendige Weisheit der תּוֹרָה zu schöpfen, und wie leicht sucht ein in dieser Dürre geöffneter Born seinen Ruhm darin, eine Anstalt zu sein, die „Rabbinen für jede Richtung“ liefert, und dürfte somit leicht ein Born jener [5]מַיִם רָעִים sein, von denen es heißt, dass [6] יִשְׁתּוּ הַתַּלְמִידִים וְיָמוּתוּ! Ja, der Gelegenheit für dieses ernste Jüngling- und Männerstudium ganz zu geschweigen, wie sehr fehlt noch in weiten, weiten Strecken jede Vorbedingung, dass einst die Jünglinge des werdenden Geschlechtes die Fähigkeit und die Lust haben werden, aus dem Meisterborn der Thorawissenschaft zu trinken, weil die Schulen fehlen, in welchen Knaben Hand in Hand mit allem Wahren und Guten der allgemeinen Bildungselemente mit Verständnis und Begeisterung in die Quellenkenntnis der jüdischen Lehre eingeführt werden. Wie vieler Orts wird noch die beste Kraft und die beste Wissenslust der jüdischen Jugend für alles andere in Anspruch genommen, und wird das „Jüdische“, die nationale hehre Stammeswissenschaft, die erst die geistige Geburt des Juden zum Juden vollenden soll, einem paar wöchentlichen Ferialwinkelstunden[7] und einem Lehrer überwiesen, der durch den ganzen Habitus seiner Bildung nur geringschätzende Unlust für eine Disziplin in Geist und Gemüt seiner Zöglinge erzeugt, die ihnen die Perle ihres Wissens und der Schatz ihres Lebens werden könnte und werden sollte! In welcher Verlegenheit, in welcher ernsten Sorge befinden sich gesetzestreue, für die Wissenschaft der jüdischen Lebensweisheit begeisterte jüdische Eltern hinsichtlich der ersten jüdischen Elternpflicht: [8] וְשִׁנַּנְתָּם לְבָנֶיךָ noch immer in Gemeinden, deren Jugendunterricht die jüdische Bildung solcher Verwahrlosung überlässt, und wie sehr gewinnt der Aufruf: חֲזַק וְנִתְחַזַּק בַּתּוֹרָה heutigen Tages an ernster Bedeutung für die Erhaltung und Pflege der Thorawissenschaft, dass selbst der Vereinzelte nicht vor den Schwierigkeiten zurückschrecke, seinen Kindern die echten Quellen der jüdischen Lebenswissenschaft zu eröffnen, dass vor allem überall Gesinnungsgenossen zusammentreten לְהִתְחַזֵּק, sich gegenseitig zu stärken und zu festigen, sich für die erste heilige Aufgabe die Hände zu reichen, um mit vereinten Kräften für ihre Kinder zuerst, und dann für Jünglinge und Männer in gediegener Weise Gelegenheit zum „Lernen“ der תּוֹרָה zu schaffen![9]
Und dem Jüngling, der heutzutage auf den Akademien oder Jeschiwot seiner jüdischen Bildung lebt, wie, und in welch ganz anderem Ernst, als vor hundert Jahren, gilt ihm der Ruf: חָזָק בַּתּוֹרָה! Wie ist er links und rechts von Einflüssen umgeben, die sein einziges Ziel: [10] לִלְמוֹד וּלְלַמֵּד לִשְׁמוֹר וְלַעֲשׂוֹת, zu lernen um einst zu lehren wie man gewissenhaft und treu das göttliche Wort zu verwirklichen habe, so leicht gefährden, und hinsichtlich deren er des ganzen חִזּוּק, der ganzen Festigkeit der in geistigem Ernst und sittlicher Willenskraft wurzelnden, Gott zugewandten Lebensrichtung bedarf, um nicht nur sich ihrer männlich zu erwehren, sondern um sie durch erkenntnisvolle Würdigung bemeisternd zu entkräften!
Da ist die auf Akademien gepflegte „Theologie“, die sich, wie alle ihre Hilfsdisziplinen, auf dem Boden ganz anderer Voraussetzungen aufbaut, ja, die meistens das Judentum als einen überwundenen Standpunkt, als eine niedere Vorstufe zu derjenigen Lehre erblickt, deren verherrlichende Darstellung sie zur Aufgabe hat, und die nun mit einem durch diese Voreingenommenheit getrübten Blick sich alles Jüdische unter dem Gepräge von Hand zur Hand kursierender Schlagwörter ihrem System bequem zurecht legt.
Da ist eine „orientalische Philologie“, eine durch heutige Reisebeobachtungen im Orient gestützte „biblische Archäologie“, eine allgemeine „sprachvergleichende“ Wissenschaft, die alle den heutigen Orient in dessen Vergangenheit, und sprachliche und Kulturerscheinungen des nichtjüdischen Orients ohne weiteres auch in Sprache und Kultur des Judentums übertragen, ohne zu bedenken, wie die Einzigartigkeit der, ein ganzes Volksleben in allem seinem Denken, Fühlen, Empfinden, Reden und Handeln monotheistisch beherrschenden Gotteslehre, Sprache und Sitte des jüdischen Volkes auch so einzigartig schöpferisch gestaltet haben könne und, sagen wir es geradezu, gestaltet haben müsse, dass auch dessen Sprache und Sitte, so wie das beide zur Kunde bringende Schrifttum in erster Linie nur aus sich selber wahrhaft erforscht werden wollen, und eine vergleichende Übertragung durch ihre Eigenartigkeit abweisen.
Da ist eine, die freie Persönlichkeit Gottes und die freie Persönlichkeit des Menschen, diese beiden Grundfaktoren des jüdischen Bewusstseins verneinende materialistische Weltlehre und eine sich mit ihr verbrüdernde, die Schöpfungslehre des Judentums bekämpfende Erdkörperkunde, die, in unwissenschaftlicher Einseitigkeit, mit einer nur der Beschränktheit natürlichen Überhebung, das zeitgenössische Bewusstsein imponierend umgarnen und nicht zur Erkenntnis kommen lassen, wie sie überall einerseits nicht Fakt an sich, sondern rein nur aus zu deren Erklärung hypothetisch gewonnenen Annahmen gezogene Schlüsse in stolzer Prätension[11] von Wahrheiten aufführen, und andererseits das der Zahl und dem Maß zugängliche, beschränkte Weltbruchstück ihrer Forschung als das Ein und das All des Universums ausgeben, und für das ganze Gebiet weder wäg- noch messbarer Erscheinungen kein Auge haben, und für alle daraus sich ergebenden Fragen keine Antwort haben zu brauchen vorgeben.
Da ist eine moderne, sich jüdische Wissenschaft par excellence nennende Literatur, eine jüdische Geschichtsforschung, die mit Verstümmelung und Entstellung der Quellen historische Größen der jüdischen Vergangenheit und deren Dikta[12] und Fakta[13] nach den Voraussetzungen ihres subjektiven Beliebens und zur Stütze ihres im vorhinein fertigen pragmatischen Schematismus, in erdichteter Umkleidung in Kurs bringt, um gefeierte Namen als Stütze ihres eigenen Abfalles zu gewinnen, eine jüdische Wissenschaftslehre, die die Träger des jüdischen Gesetzes zu betrogenen Betrügern, ja zu bewusstvollen Impostoren[14] stempelt, und sie eigen Erdachtes als überliefert Empfangenes ausgeben lässt, eine Kasuistik[15] der Reform, die die Kunst einer mit Scheinzitaten den Unkundigen blendenden Rabulistik[16] übt, um das jüdische Gesetz seine eigene Abrogierung[17] und Antiquierung dekretieren zu lassen, — eine jüdische Literaturgeschichte, die Jünger der Wissenschaft den Studienernst des Schrifttums mit dem leichter zu gewinnenden Lorbeer bibliographischer Titelkunde zu vertauschen lockt.
Und da ist auf der anderen Seite eine Richtung, die, vor allen diesen unleugbar vorhandenen Gefahren zurückschreckend, ihre Jünger rein in den Studienkreis des spezifisch jüdischen Schrifttums isolieren möchte[18], ihnen höchstens notgedrungen eine notdürftige Bekanntschaft mit außer demselben liegenden Erkenntnissen des menschlichen Geistes gestatten zu dürfen glaubt, und nicht sieht, wie eine völlige Isolierung nicht möglich, mit dem Maße der Unkunde das Maß der von ihnen gefürchteten Gefahren nur wächst, nur dem Uneingeweihten alle jene, den Thorajünger umgarnenden Einflüsse in himmelstürmender gigantischer Größe erscheinen, nur eine eingehende Vertrautheit alles und jedes auf das richtige, und wahrlich nicht zu fürchtende Maß seiner berechtigten Geltung zurückzuführen vermag — und, was den Jüngern in den Studienjahren ferngehalten bleibt, mit doppelter Wucht ihnen einst im Leben entgegentreten wird, das ja sich überall unter den bezeichneten und verwandten Einflüssen gestaltet, und sie dann ohnmächtig findet, zwischen allen diesen Gegensätzen das ihnen anvertraute Panier der Thora siegreich durchs Leben zu tragen.
Mit welchem Ernst lassen alle diese und ähnliche Erwägungen an unsere Jünger der Wissenschaft den Ruf ergehen: חָזָק בַּתּוֹרָה, bleibe fest und zeige dich stark in der תּוֹרָה, durch die תּוֹרָה, und kämpfe durch alle die Gefahren, die den Starken und Festen nur stählen, dich siegreich zur lichten Höhe durch, auf welcher die mit echter Wissenschaft vermählte Thoraweisheit ihre Jünger zu furcht-losen Trägern ihres Banners macht, — und wie sollten alle, dem חָזָק בַּתּוֹרָה das נִתְחַזֵּק בַּתּוֹרָה zugesellend, sich die Hände reichen, um mit vereinten Kräften Anstalten hervorzurufen, in welchen Jünger der Thora, nach beiden Seiten hin ungefährdet, sich zu Meistern der Thorawissenschaft heranzubilden vermögen! —
מַעֲשִׂים טוֹבִים, Erfüllung des Guten, praktische Verwirklichung der von dem Gesetze gelehrten Lebensaufgaben, wie gilt ihnen nicht zu jeder Zeit der Zuruf: [19] חֲזַק וֶאֱמָץ, wie bedürfen sie nicht schon durch die Anforderungen, die eine jede von ihnen an uns stellt, des חִזּוּק, der festen Beharrlichkeit, des Aufgebots aller sittlichen Kraft, der Hingebung aller uns innewohnenden Energie, um zuerst sich selbst, und sodann die äußeren Verhältnisse zu überwinden, um sich und die kleine Welt, die wir die unsere nennen, entschieden und fest rein nur in den Dienst des von Gott geforderten Guten zu stellen und ohne Schwanken in diesem Dienst zu erhalten. Alles Gute war zu keiner Zeit leicht, mit verlockenden Reizen geschmückte Abwege waren von jeher vorhanden, und es hat nie an verführerischen Beispielen gefehlt, die zum Betreten der Abwege einluden. Allein die Gegenwart bietet doch auch wieder ihre ihr eigentümlichen Versuchungen, die auch dem חִזּוּק–Aufruf im praktischen Leben einen eigentümlichen Ernst verleihen. War das Gute nie leicht und ward das Gute noch zu keiner Zeit ausnahmslos von allen angestrebt, so war man doch meist über das, was gut sei, einig, wurden doch die Abwege, selbst von denen, die sie betraten, meistens als Abwege erkannt und bekannt. Der jüdische Jüngling, der seiner Sinnlichkeit Herr blieb und ihr nichts gestattete, was dem heiligen Sittengebot seines Gottes zuwider war, der lieber den Quersack[20] über die Schulter warf, als mit Gott verleugnender Verletzung des Sabbaths eine seinen Talenten entsprechende, glänzendere Karriere zu betreten; die jüdische Tochter, die lieber unversorgt blieb, als ihre Hand einem leichtfertigen Mann zu reichen und Gattin eines unjüdischen Mannes und Mutter von zu unjüdischem Leben heranwachsenden Kindern zu werden; der jüdische Mann, das jüdische Weib, die Verzicht leisteten auf alles, was nur mit Dareingabe jüdischer Pflichttreue zu erkaufen war, die sich und ihre Kinder gewöhnten, nur in dem ihr stetes Glück zu finden, was כְּדַת מֹשֶׁה וְיִשְׂרָאֵל nach dem göttlichen Gesetze und der jüdisch überlieferten Sitte das prüfende Gottesauge nicht zu scheuen hat, die in solcher Gesinnung ihre Hütte rein und ihr Leben reichgeschmückt mit aufopferungsvollen Taten jüdischer Menschenliebe erhielten, alle diese konnten von der Wahrheit des Ideals, dem sie so manches Opfer brachten, und das eben darum aufhörte, Opfer für sie zu sein, eine durch nichts angefochtene Überzeugung haben. Es gab noch keine öffentliche Meinung im jüdischen Kreis, die vor der Sittenlosigkeit in Frack und Glacéhandschuhen entschuldigend den Hut zog, die das göttliche Gesetz nur für das Leben in den Ghetti berechtigt pries und in dem Fall der Ghettimauern auch den Fall der jüdischen Lebenseinschränkungen bejubelte, die, was dem jüdischen Sinne als höchste Lebensvollendung gilt, als beschränkte Lebensanschauung belächelte, die dem Ideal des göttlichen Gesetzes die Altäre entzog und dafür dem Idol der sozialen Geltung den Altar baute, die selbst für die jüdische Humanität persönlicher Liebestat des von [21] גְּמִילוּת חֶסֶד zu vornehm ward und jedes warme Liebeswirken mit kaltem Geld und dem Schein erkaufter Leichenbittermienen ablösen zu können wünschte, ja, die mancherorts bereits selbst die letzte Perle aus dem jüdischen Vätererbe, die jüdische Zedaka[22], nach dem Maßstab unjüdischen Almosens herabzustimmen drohte und mit der Armut wie mit dem Verbrechen zu rechten begann. Und es gab noch keine Rabbinen, noch keine jüdischen Volkslehrer, die allem diesen jüdischen Abfall die Sanktion der jüdischen Predigt liehen, in der Zerstörung des jüdischen Lebens den Aufbau eines Israels der Zukunft priesen und den jüdischen Jüngling, die jüdische Jungfrau, den jüdischen Mann, das jüdische Weib wohl über die Frage schwankend machen konnten, was denn das jüdische Gute sei, und ob denn auch das Ideal, für welches sie ihr Leben einzusetzen hatten, eines solchen Opfers auch in Wahrheit wert sei. —
Eine solche öffentliche Meinung und eine solche, der blendenden Macht der öffentlichen Meinung sklavisch schmeichelnde Lehre ist aber heute in üppigster Blüte, und da gilt mit ganz anderem Ernst noch als zur Väterzeit der Ruf: חָזָק בְּמַעֲשִׂים טוֹבִים, bleibe fest in Erfüllung des Guten, lasse dich nicht irre machen, nicht durch das Beispiel zeitgenössischen Leichtsinns, noch weniger durch die Gaukeltheorien den Leichtsinn beschönigender Pfaffen, bleibe fest wie ein Fels im Meer und wie der einsame aufrechte Baum auf Bergesgipfel, sei mit deinem ganzen Leben selber ein Protest gegen den Leichtsinn und die Lüge, denke daran, dass, wie die Väter die von außen an sie andrängende Versuchung zu bestehen hatten, die Enkel heute die noch schwerere, aus dem eigenen Bruderkreise, zu bestehen haben und achte das קִדּוּשׁ הַשֵּׁם nicht gering, das dem Gott und seinem Gesetz treue Jude inmitten der moralischen Autodafés[23] zu bestehen berufen ist, die der kalte Fanatismus der Neologie den Bekennern der Gesetzestreue heute bereitet.
Und darum fordert dann ferner:
תְּפִלָּה und der immer neu vor Gott zu sammelnde Lebensmut und Lebensernst doppeltes חִזּוּק in einer solchen Zeit der inneren Prüfung und Versuchung. Je weniger Stütze dein geistig sittliches Streben im Guten und für das Gute in der Welt deiner Umgebung findet, umso mehr und umso ernster musst du diese Stütze in deiner Sammlung vor Gott suchen; je mehr die Welt deiner Umgebung deine Überzeugung von dem Guten antastet, umso mehr musst du diese deine Überzeugung immer wieder und wieder vor deinem Gott prüfen und stärken, und in seinem Beifall Ersatz für Tadel und Ironie der Menschen suchen; je schwankender dich Wort und Beispiel deiner Umgebung machen möchte, um so inniger und ernster dein בָּרוּךְ אַתָּה ה‘ deinem Gott das Gelöbnis deiner Bundestreue erneuern, und je mehr die Totengräber und Leichensteinschreiber der Zeit schon bereit sind, dem alten ewigen Gottesgesetze das Grab und den Leichenstein zu bereiten, umso mehr dein Herz die frohe Zuversicht und die frische freudige Hoffnung vor Gott gewinnen und immer wieder gewinnen lassen, der als Ziel der Zukunft nicht die Antiquierung seines Gesetzes unter den Mausoleen der Geschichte, sondern die Auferstehung der Menschheit unter dem Lebensbanner seines Gesetzes bestimmt hat, auf dass, während der ephemere[24] Spott zeitgenössischer Brüder den gesetzestreuen Juden der Jetztzeit eine lebende Mumie begrabener Vergangenheit nennt, du in Wahrheit als vorgeborener Sohn der Zukunft der Menschheit auf Erden wandelst, und, als solcher auch, zu deinem חִזּוּק בַּתְּפִלָּה, חִזּוּק בְּמַעֲשִׂים טוֹבִים, חִזּוּק בַּתּוֹרָה, zu deiner Festigkeit in jüdischem Gesetzesgeiste, in jüdischer Gesetzeserfüllung, in jüdischer Sammlung vor Gott, und nicht trotz ihrer, sondern gerade wegen ihrer, auch חִזּוּק in
דֶּרֶךְ אֶרֶץ gesellest, nicht die sozialen Aufgaben des frischpulsierenden Lebens der Gegenwart entfliehst, es nicht bedauerst, dass die zum Licht emporringende Gegenwart des Völkerlebens auch die Söhne des jüdischen Gesetzes zur Teilnahme an den sozialen Bestrebungen der Völker lädt und ihnen die Pforten der Volksbestrebungen in Wissenschaft und Bürgertugend öffnet. Je mehr du dich mit dem Geist und der ewigen Bestimmung deines Gottesgesetzes durchdringst, je mehr du seine Verwirklichung in dem kleinen Leben deines Daseins und deines Hauses anstrebst, und je befestigter und hoffnungsmutiger du mit solchem Streben dich vor deinem Gott fühlst: umso mehr wirst du es als deine Aufgabe erkennen, mit dem ganzen Aufgebot deiner Kraft und mit der Hingebung deines ganzen geistigen und sittlichen Wesens dich mit allem Wahren und Guten deiner Zeit zu vermählen, deine jüdischen Erkenntnisse und deine jüdischen Grundsätze auch in Lösung der Zeitaufgaben zu bewähren, und zu zeigen, dass man eben nicht aufzuhören habe, ein treuer Sohn des unverkürzten jüdischen Gesetzes zu sein um sich auf der Arena bürgerlicher Bildung und Tüchtigkeit Anerkennung zu gewinnen, dass vielmehr eben dieses alte ewige Gottesgesetz ein solcher Born geistiger und sittlicher Lebenskraft sei, dass der Geist und die Gesinnung, die der erleuchtete wackere gesetzestreue Jude aus dieser Gesetzestreue schöpft, nicht das wertloseste Angebinde ist, das er bei seinem Eingehen ins Völkerleben als Beitrag zum Völkersymposion zu bringen hätte.
Darum: חֲזַק וְנִתְחַזַּק בַּתּוֹרָה, בְּמַעֲשִׂים טוֹבִים, בַּתְּפִלָּה, וּבְדֶרֶךְ אֶרֶץ, —
חִזְקוּ וְיַאֲמֵץ לְבַבְכֶם כָּל הַמְיַחֲלִים לַה‘! [25]
[1] die 613 Ge- und Verbote im Judentum
[2] Siehe Hirschkommentar zu Deuteronomium 11:27: היום ist immer gleichzeitig mit Rücksicht auf die im Momente des Lesens der Gottesworte gegenwärtige Zeit gesprochen, בכל יום יהיו בעיניך כחדשים; Jeder Tag bringt die Verpflichtung zum Gesetze aufs Neue.
[3] Länger als die Erde ist ihr Maß und breiter als das Meer. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[4] Wikipedia: „Die Sadduzäer (hebr. צְדוֹקִים Ṣəḏōqīm, gr. Σαδδουκαῖοι Saddoukaîoi) waren eine Gruppe des Judentums in Israel zur Zeit des Zweiten Tempels.“ Sie lehnten die mündliche Überlieferung ab.
[5] vergifteten Wasser
[6] von denen die Schüler tranken und starben; siehe hierzu auch Pirke Avot 1:11: Abtaljon spricht: Ihr Weisen, seid vorsichtig in euren Worten; vielleicht verschuldet ihr die Strafe der Verbannung, und ihr werdet nach einem Orte schlechten Wassers verbannt; die Schüler, die euch nachziehen, trinken (davon) und sterben. Die Folge wäre, dass der Name Gottes entheiligt würde. (Übersetzung Mischnajot mit deutscher Übersetzung und Erklärung. Berlin 1887-1933)
[7] Ferial: österreichisch Ferien
[8] Deuteronomium 6:7; …. und schärfe sie (die Lehre) deinen Kindern ein, …(Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[9] Aus eigener Erfahrung habe ich erleben müssen, dass junge orthodoxe Familien, als ihnen die ersten Kinder geboren wurden, Berlin verlassen mussten, da es hier keine entsprechenden Schulen für den orthodoxen Nachwuchs gab. Leider ist es bis heute so geblieben.
[10] Pirke Avot 4:5; und wer lernt, um auszuüben, dem wird Gelegenheit geboten zu lernen und zu lehren, zu beobachten und auszuüben. (Übersetzung Mischnajot mit deutscher Übersetzung und Erklärung. Berlin 1887-1933)
[11] Anmaßung, Blasiertheit
[12] Plural von Diktum = Entscheid, Befehl
[13] Plural von Fakt; Fakten
[14] Hochstapler
[15] spitzfindige Argumentation; Haarspalterei; Wortverdreherei
[16] Spitzfindigkeit
[17] Außerkraftsetzung
[18] So damals in den meisten osteuropäischen Ländern, — Rabbiner Hirsch entwickelte ein Schulsystem, das diese einseitige Ausrichtung zu verhindern suchte. Schule im Derech Eretz
[19] Jehoschua 1:7; nur sei überaus fest und stark …. (Übersetzung Rabbiner Dr. Raphael Breuer)
[20] eine Art Rucksack; hier ist gemeint: der fortzog oder auswanderte
[21] Wohltätigkeit
[22] Materielle Unterstützung Hilfsbedürftiger
[23] öffentliche Verkündigung des Urteils eines Inquisitionsgerichts und feierliche Durchführung dieses Urteils (meist Verbrennung von Ketzern)
[24] nur kurze Zeit bestehend; flüchtig, rasch vorübergehend [und ohne bleibende Bedeutung]
[25] Psalm 31:25
[1] Sei stark — dann wirst du immer stärker