Chanukka
Sollte man zu Chanukka nur an den Aufstand der Hasmonäer gegen die Griechen denken? Das Wort Chanukka חנוכה kann mehrere Bedeutungen haben. Es bedeutet „Einweihung“, „Weihe“, „Amtseinführung“. Es ist aber auch verwandt mitחינוך , „Erziehung“, „Bildung“. In Anlehnung an den Leuchter im Tempel wird der Chanukkaleuchter als חנוכייה bezeichnet. In diesem Sinne ist der hier wiedergegebene Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l zu lesen.
Den Artikel habe ich der Zeitschrift „Jeschurun“, 6. Jahrgang, Heft 3, Dezember 1859 entnommen.
Viele Leser unserer Zeitschrift haben immer wieder angemerkt, dass ihnen das Lesen der Schriften Rabbiner Hirschs schwerfällt. Sie kommen mit dem Sprachgebrauch des 20. Jahrhunderts nicht zurecht. Deshalb habe ich diesen Artikel mit KI überarbeitet. Man erhält dadurch, wie ich meine, ein gefälligeres Deutsch. Die KI-Überarbeitung dieses Artikel finden Sie weiter unten.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2944235
Chanukka, Chanukka! Morgenrot und Frühlingsschimmer liegt auf dem Worte, Morgenlicht und Frühlingshauch fächelt der Gedanke! Chanukka, — eine große Chanukka ist die Knaben- und die frühste Jünglingszeit, in welcher die Knospe des Geistes und Gemüts sich aufschließt und das verschleierte Allerheiligste der Seele für das Aller-Heiligste, gewonnen und der „wach“ werdende Mensch „gerüstet“ und „geweiht“ werden soll für das, „was ihn noch als Mann und als Greis soll durchs Leben geleiten.“
Chanukka ist jeder erhabene und erhebende Moment, in welchem der Mensch ein Werk hat vollbracht, das nicht das Ende, das der Anfang einer Zukunft voller Hoffnung und voller Lebenskeime für ihn werden soll, und er nun mit dem Anknüpfen dieser Zukunft an dieses Werk den Anfang dieser Hoffnungen und dieser Lebenskeime zu ernten gedenkt.
„Chanukka?“ — so spricht die engbrüstige Weisheit der Sterblichen — „Chanukka, die Jugend und die Weihe, nur einmal! Unwiederbringlich ist die Jugend, wenn einmal verscherzt, unwiederbringlich die Weihe, wenn einmal verloren! Der Mensch ist nur einmal begeistert für das Hohe, der Mensch nur einmal empfänglich für die Weihe. Kindesgemüt, Jünglingsglut, Bräutlichkeit, Weihestimmungen — Poesien sind’s, vom barmherzigen Vater dem armen Menschenherzen zum Trost verliehen, um wenigstens über jeden Anfang den Rosenschimmer der Hoffnung zu decken und das Ende noch mit dem süßen Schmerz der Erinnerungswehmut zu laben. Allein die Wirklichkeit hat nichts von dem Perienthan[1], der in der Morgensonne glänzte. Die poetischen Keime müssen zertreten werden, wenn die Wirklichkeit sich aufbauen soll, der Mann wird zum Narren, der sich das Kindesgemüt und die Jünglingsglut bewahren wollte. Des Weibes Herz wird gebrochen, das die bräutlichen Träume im Sorgenhaus der Familie erfüllt sehen möchte. Das Haus, der Tempel wird unpraktisch, wenn der Inhalt ihrer Einweihungsgedichte wollte mehr als Gedichte bedeuten.“
Und doch steht Chanukka, Chanukka, immer wieder und wieder in dem Kalender unserer Jahre, und doch ist’s diesem Kalender vollendeter Ernst, mit jeder Chanukka, eben „Chanukka“, neue Weihe, frische Rüste, erneuten, frischen Anfang dem Tempel- und Familien-Leben jeder Zeit zu bringen! Und doch straft die Chanukka-Geschichte selbst alle jene engbrüstige Blasphemie von dem bloß „Gemachten“, von der bloßen Poesie des Poetischen im Leben Lüge! In der achtzigjährigen Brust eines Greisen loderte die Chanukka-Flamme der Begeisterung auf, an der sich das Feuer eines ganzen Volkes entzündete, die Wahrheit und die Weihe, die Heiligkeit und die Heiligung seines Lebens zu retten. Und es war das beginnende Greisenalter dieses Volks, in welchem es der Begeisterung fähig war, für seines Lebens höchste Güter das Leben mit allen seinen Gütern einzusetzen und eben mit dieser Begeisterung den Anfang, die Chanukka seines — Greisenalters zu beginnen. Und es wäre euch Chanukka, es wäre euch Begeisterung und Weihe, Dichtung und Unwahrheit, mit deren man Kinder ergötzt und Jünglinge berauscht bis sie zur Nüchternheit des Lebens erwachen?
Warum sind euch Begeisterung und Weihe nichts als abgepflückte Blüten-Girlanden, mit denen ihr eure sogenannten „Weihestunden“ des Lebens verbrämt, die aber den morgenden Tag nicht erleben und schon tags darauf wie die welken Kränze einer gestrigen Tempelweihe, einer gestrigen Konfirmation, einer gestrigen Hochzeit ihr: sic transit[2] selbst all der Gefühle und Gesinnungen, all der Entschlüsse und Weihegedanken predigen, die ihr in den „Weihestunden“ doch als die ewigen und unvergänglichen gepriesen? Warum? weil eure Begeisterung und Weihe selbst von vornherein eine Lüge. Ihr begeistert, aber es fehlt euch der Gegenstand, für den ihr begeistert, Ihr weiht, aber es ist euch das Leben abhandengekommen zu dem ihr weiht. Ihr begeistert nicht das Kind für das Pflichtleben der Knaben und Mädchen, den Knaben und das Mädchen nicht für das Pflichtleben der Jünglinge und Jungfrauen, den Jüngling und die Jungfrau nicht für das Pflichtleben des Mannes und der Frau, den Mann und das Weib nicht für das Pflichtleben des Greisen und der Greisin, den Greis und die Greisin nicht für das Leben ihrer diesseitigen und jenseitigen Ewigkeit. Das Entzücken eurer Braut- und Flitter-wochen liegt nicht in dem kommenden Ernst der Ehe, die Begeisterung eurer Tempelweihen nicht in dem kommenden Ernst des Tempellebens, ihr versteht es nicht [3] חֲנֹ֣ךְ לַ֭נַּעַר עַל־פִּ֣י דַרְכּ֑וֹDinge und Menschen für ihre Zukunft zu rüsten und in dieser Zukunft zu begeistern und durch diese Zukunft zu weihen, eure Weihe ist stets ein Gipfelpunkt, von dem es nur ein Herabsteigen gibt, und sie soll doch ein Anfang sein, der zum hinanklimmenden Fortschritt führt. Eurer Begeisterung und Weihe fehlt der inhaltsvolle Kern, sie haben keinen Gegenstand als sich selbst, sie sind euch Selbstzweck und darum verpuffen sie und lassen euch in Nacht wie die Rakete, wenn ihr Brennstoff verzehrt. Die Liebe eurer Braut war Tändelei, die Liebe eurer Kinder Zärtlichkeit, das Interesse an eurem Tempelbau der Glanz und der Stolz der Einweihungsfeier; aber ihr herzt in der Braut nicht das einstige Weib, ihr liebt in dem Kinde nicht den einstigen Mann, ihr weiht eure Tempel nicht— um sie zu besuchen, ihr setzt die Wahrheit nirgends am Anfang, darum habt ihr Täuschung und Lüge an allen Enden.
Wie anders die jüdische Begeisterung und Weihe, wie anders die jüdische Chanukka, wo und wann immer sie auftritt! [4] חִנּוּךְ, die jüdische Menschen-Chanukka speist das Kind nicht mit Märchen, den Knaben nicht mit Fabeln, nicht mit Romantik den Jüngling, gängelt Kindheit und Jugend nicht mit Anschaltungen einer Welt die nicht ist, gewinnt nicht ihren Geist und ihr Herz für ein Leben das die Wirklichkeit nie bietet. Sofort an das „Gesetz„, unmittelbar an denselben Ernst, zu derselben Wahrheit führt sie den Knaben, die sein Leben lang seine Führer und die Zielpunkte seines Lebens bleiben sollen, גַּ֥ם כִּי־יַ֝זְקִ֗ין לֹא־יָס֥וּר מִמֶּֽנָּה “ — “ עַל־פִּ֣י דַרְכּ֑וֹ „“[5] — für „Gott und Pflicht“ weckt sie seine Begeisterung und weiht sie ihn von dem ersten Dämmerstrahl seines Bewusstseins; und hat sie die Begeisterung getroffen, ist ihr die Weihe gelungen, so leuchten „Gott und Pflicht“ ihm sein Leben lang als die leuchtenden Sterne seines Weges. Immer mehr zu wachsen in Erkenntnis! Gottes und seiner Pflicht, immer mehr zu wachsen im Dienste Gottes und in Erfüllung seiner Pflicht, das heißt dem Kinde Knabe, dem Knaben Jüngling, dem Jünglinge Mann, dem Manne Greis werden, dem Greise Greis sein und indem er die Schätze der Erkenntnis und des Lebens, die ihm gereift, dem jungen Geschlecht hienieden geweiht, nimmt er das, wofür sein erstes kindliches Bewusstsein aufgedämmert und wofür er sein Leben lang mit immer wachsender Begeisterung gelebt, als den Garbenkranz hiniediger Vollendung mit hinüber in den neuen Anfang der jenseitigen Chanukka, zu welcher ihm der Tod an der Pforte der Ewigkeit leuchtet. Seht das jüdische Volk, solange es ein jüdisches ist. Die weite Erde bietet kein zweites. An derselben Quelle der Begeisterung und Weihe seht ihr den Greis wie das Kind, den Jüngling wie den Mann. Dasselbe Buch, dieselben Bücher, dasselbe Gesetz, dieselben Wahrheiten, an welcher sich zuerst des Kindes Geist und Begeisterung, Lust und Lebensweihe entzündet, nähren das Feuer des Jünglings, fesseln den Ernst des Mannes, verklären den Blick des Greisen, und der Siebzigjährige bückt sich noch emsig über denselben Folianten, trinkt noch Begeisterung aus denselben Worten, die der Fünf- und Zehnjährige zuerst mit leuchtendem Blick stammeln gelernt. Seht die Ehe des Juden! Nicht Galanterie, Tändelei und täuschende Liebesvergötterung knüpft des jüdischen Mannes und des jüdischen Weibes Herz und Hand. In dem vollen Bewusstsein des ganzen kommenden Ernstes des Lebens und für diesen Lebensernst treten Mann und Weib zusammen, und ihre Liebe heißt Begeisterung für die gemeinsame Pflichterfüllung des Lebens und für die Beglückung des einen durch den andern und mit dem andern, und darum wächst ihre Liebe je länger die Ehe, wächst ihre Lebensweihe je ernster des Lebens Ernst. Ihre Hochzeit ist nicht ihre Höhezeit, ist der Lenz, ist der Keimtag ihrer Liebe. So wie der jüdische Mann sein jüdisches Weib, wie der jüdische Greis seine greise Gattin liebt, so hat der Jüngling nimmer die Jungfrau geliebt; denn jeder Tag, jedes Jahr — und die ernsten, rauhen Tage und Jahre wahrlich nicht am ärmsten, — haben immer Ring an Ring in die Kette gefügt, die ihre Geister und Herzen auf ewig verbindet. — Seht jüdische Tempel zur jüdischen Zeit. Vom großen Weihegepränge ihres חִנּוּךְ wissen sie nicht viel zu erzählen. Orgelklang und Choralgesang, Kränze und Weihegedichte, selbst die Weihepredigt samt dem Weiheprediger fehlt zumeist. Die Rollen des Gesetzes hineingetragen, die kürzeste Dankberachah[6] dem „Guten und Gutes gewährenden“ gesprochen, der erste Minchahgottesdienst gehalten — und die Synagogenweihe, die Chanukka war vollbracht. Dagegen ward aber nun fort und fort das Gotteshaus besucht, dagegen ward es nun aber auch der Zufluchtsort und das Rüsthaus des täglichen Lebens, ward die Sammelstätte des gemeinsamen Lebens vor Gott und die Lehrstätten zur Durchdringung des ganzen Lebens mit Gott. Es war das Bedürfnis und der Ernst, der die alten Synagogen baute; ihre Weihe endete nicht mit dem letzten Amen einer Weihepredigt oder mit dem letzten Halleluja eines Schlusschorals am Weihetage. Der חִנּוּךְ war die Wiege, nicht das Testament der Synagogenweihe. Eine unjüdische Zeit weiß freilich schönere, prächtigere Weihefeier zu begehen. Allein die mit so vielem Gepränge geweihte Luxus-Synagoge sieht meist die begeistertsten Leiter ihre Weihe höchstens einmal am Versöhnungstag — wo wir uns ja alle wieder zusammenfinden — wieder, sieht ihre Räume an den Wochentagen des täglichen Lebens geschlossen, oder — wie eine Sterbende, eine Kranke, erfreut sie sich eines Minjan-Vereins, oder eines besoldeten Minjan-Dezemvirats[7], die die begeisterten Prunkworte der Weihechorale und Weihereden, von „Andacht“ und „Tempelseligkeit“ usw. in den neun Zehnteln des Jahres, in welchen die Prachtsynagoge der wirklichen Gemeinde Luxus ist, stellvertretend zu verwirklichen bestellt werden.
Seht die jüdische Geschichte! Von Anfang an ward diesem Volke die von ihm zu lösende weltgeschichtliche Aufgabe in ihrer ganzen Herrlichkeit, aber auch in ihrem ganzen Ernst, in ihrer ganzen, noch erst durch Jahrhunderte, Jahrtausende der Verirrungen und des Wehs zu erklimmenden Höhe gezeigt. Für keine Täuschung, für das jüdische Leben und das jüdische Geschick mit all seinem Schweren und Herben ward das begeisterte „Ja“! am Sinai gefordert, und es wusste es von vornherein, dass sein bevorstehender Lebensberuf durch Klippen und Talgründe sich aufwärts windender Felsengang sein, dass erst [8] בָּאַחֲרִית הַיַּמִּיִּים , erst am fernen Ende der Tage es auf den vollen Höhen dieses gelösten „Ja“ ! sich befinden werde. Es ist das einzige Volk, dessen Höhepunkt an seinem Ende, nicht an seinem Anfang zu suchen ist. Es ist das einzige Volk, das eine wahrhaftige Chanukka hat, und bei dem Chanukka in immer steigendem, hellerem, reinerem Licht durch alle Phasen seiner Geschichte wiederkehrt, um es immer frischerer Weihe und immer steigendem Fortschritt zuzuführen. Es sollte nicht wie die Hellenen[9] als das Volk der Begeisterung für das „Schöne und Gute“ beginnen, um als trauriges, nur von dem Schein einer untergegangenen Vergangenheit glorifiziertes Klephtenvolk[10] zu enden. Es sollte nicht wie die Römer als das von Wolfsmilch genährte welterobernde Volk des Schwerts und der Politik die Schaubühne betreten, um als kläglicher von Pfaffen und Fremden unterjochter Völkerjammer zu enden. Israels Schmach liegt in seinem Anfang und sein ewiger Ruhm winkt ihm von den Höhengipfeln seine Zukunft.
Als [11] קְשֵׁה עֹרֵף , in hartnäckigster Opposition stand es zuerst selbst der ihm gewordenen großen Aufgabe gegenüber, und dieses Gesetz, das einst die Welt überwinden wird, hatte seinen ersten Sieg in Eroberung des Volkes zu feiern, das das geistige Werkzeug seines Weltenkampfes werden sollte. Und Jahrhunderte waren ihm für diesen Sieg bestimmt. Wie sein Moses vor der ersten Chanukka siebenmal die Stiftshütte seines Heiligtums aufrichten und abbrechen musste, ehe am achten Tage die erste Chanukka durch Eintritt der Gottesherrlichkeit besiegelt wurde; wie bei dieser ersten Chanukka sofort die ersten Priestersöhne der Heiligung des Heiligtums zum Opfer fielen, weil sie die Aufgabe dieses Gesetzesheiligtums nicht in der Ferne vor sich, nicht in der Höhe über sich, sondern unter sich und in sich, somit jeden zu jeder Zeit auf der Höhe dieser Aufgabe vermeinten: so wird diesem Volke ja von vornherein gesagt und durch den Untergang des ganzen Zeitgeschlechtes, das die erste Chanukka erlebte, mit ernstestem Ernst zum Bewusstsein gebracht, dass es mit allem dem noch nicht , [12]אֶל־ הַמְּנוּחָה֙ וְאֶל־הַֽנַּחֲלָ֔ה, noch nicht zur Ruhe, geschweige zum ewigen Ziel gekommen, dass es mit allem diesem erst an einen Anfang gestellt, der, mit wandelloser Begeisterung rasch zum Höhenziel führen könnte, mit unterbrochener und immer wieder unterbrochener, aber auch immer wieder gewonnener Begeisterung, wenn gleich spät und scheinbar im Rückgang, doch unwiderruflich und in immer steigendem Fortschritt zum Ziel führen werde.
In der Wüste, in Schilo, in Nob, in Gibeah, in Jerusalem durch Salomo, durch Esra, durch die Hasmonäer, bereits siebenmal ist das Gesetzesheiligtum neu errichtet und eingeweiht worden, und während das äußere politische Geschick des Volkes abwärts ging, war die Chanukka innerlich doch immer eine geistig höhere. Je mehr Israel seine politische Bedeutung verlor, umso mehr ward sein Gesetz von dem Bündnis mit einer Aristokratie befreit, die es meist nur zur Forderung ihrer Interessen missbrauchte oder verriet, und um so mehr Boden gewann es im Volke, das bald nichts anderes als dies Gesetz, sein Studium und seine Erfüllung haben, die sich ihm als die Adlerflügel seines Gottes erweisen sollten, es über eine in Nacht versinkende Welt von fast Jahrtausenden gegen alle dämonische Gewalt einer seine Vernichtung erstrebenden Völkerfeindseligkeit, hell und lebenskräftig siegreich emporzutragen.
Als die Hasmonäer die letzte Chanukka feierten, da gaben sie das Weihelicht jedem jüdischen Hausvater in die Hand, auf dass in jedem Hause sich erst recht die Tempelweihe vollziehe, auf dass diese Weihe sich von Jahr zu Jahr immer neu und jung wiederhole, jedes Geschlecht immer aufs Neue und in immer höherem Fortschritt die Weihe des Heiligtums durch die Weihe des Hauses vollbringe, bis einst das Haus des Gottesheiligtums von allen Häusern Israels, von dem ganzen „Hause Jakobs“ getragen werde und die letzte wirkliche und wahrhaftige Chanukka auf dem Gipfel des errungenen Ziels beginnen könne.
Und nun, nachdem alle Jahrtausende unserer geschichtlichen Vergangenheit den siegreichen Geist der Chanukka in Israel verbürgen, nachdem Israel allein nicht nur die Chanukka, sondern die Wieder-Chanukka, die Wieder-Weihe kennt, die ewig wiederkehrende und dann in gesteigerter Begeisterung wiederkehrende Weihe und fortschreitende Hingebung an das von Anfang an in siebenfacher Höhe hoch aufgesteckte Ziel: wollen wir gleichwohl, — wer weiß wie nahe am Ziele — den Mut verlieren, wollen unsere Chanukka nur kalt als Erinnerung vergangener alter Tage, nicht aber unserer חִנּוּךְ עַל פִּי דַּרְכּוֹ [13], nicht als „Rüste und Weihe für unsere Zukunft“ feiern, wollen das Licht der Chanukka in unseren Häusern nicht in der Zuversicht anzünden, es werde, wenn auch siebenmal die Weihe verloren, endlich dennoch in immer steigenderem Licht das Ziel gewonnen, und während Israels Chanukka damit begann, das Licht des Hauses am Licht des Tempels zu entzünden, die neue, endliche Chanukka damit gewonnen werden würde, an dem siegreich gepflegten Licht des Hauses das Tempellicht dann zum wahrhaftigen ewigen [14] נֵר תָּמִיד sich entzünden zu lassen?
Sagen uns denn nicht alle Zeichen der Zeit, dass uns eine neue wirkliche Chanukka von Nöten? Und ist diese Chanukka je in Israel ausgeblieben, wenn sie von Nöten gewesen? Hat nicht wieder antiochäische Gefahr Tempel und Häuser Israels ergriffen und schreit das Heiligtum nicht laut auf nach einem Hasmonäer-Geist, der es und seine Kinder vor dem Eindringen jüdische Wahrheit und jüdisches Leben tötenden hellenischen Hauches rette? Hat hellenischer Schwindel, der den Menschen sich selbst zur Anbetung gibt, der das Menschenideal mit all seinen Schwächen und Gebrechen zum Gott und den Anstand und das menschliche Wohlgefallen zum Maßstab der Sitte und der Pflicht setzt, der, statt den Menschen zum Licht des Göttlichen zu erheben, das Göttliche hinabzieht in die Dämmerung der schönen Sinnlichkeit des Menschen — hat dieser ganze, den Menschen um seine Würde und den Juden um seine Pflicht betrügende Schwindel nicht wieder gerade die Regionen ergriffen, die als die Leiter und Lehrer der Gemeinde die eherne Phalanx[15] bilden sollten um das Gottesheiligtum, das Heiligtum in seiner Wahrheit und das Volk in seiner Treue vor jedem Andringen unjüdischen Wesens zu retten? Ist die jüdische Aristokratie und der jüdische Priesterkreis nicht fast bereits wieder vom jüdischen Gesetze abgefallen, hat sie nicht bereits, wie [16] בַּיָּמִים הָהֵם בַּזְּמַן הַזֶּה , das ihren Händen anvertraute Heiligtum des Tempels und der Lehre, der Schule und der Gemeinde, nicht ihre bevorzugte Stellung in der Nähe der Macht habenden Gewalten bereits missbraucht um ihren Geist des Abfalls dem Geist der Gesetzestreue zu substituieren und durch Tempel und Schule das Haus und die Familie dein jüdischen Gesetzesheiligtum zu entfremden? Und ist ihr das Werk dieses Verrats nicht bereits fast gelungen, so gelungen, dass selbst die Treue der Treusten unter den Treuen erschüttert, das ganze Bewusstsein von der Bedeutung der jüdischen Pflicht so getrübt, dass kaum die Gesetzestreue es noch wagt in der alten Treue für die Gottespflicht aufzutreten, und das jüdische Volk sich vergebens umsieht nach Lehrern seiner Pflicht, wie nach Vertretern seines Rechts — — und da sollte uns die neue Chanukka fehlen, da sollte die neue Chanukka noch fern sein, da sollte sich der jüdische Geist nicht wieder aufraffen und dem Volk sein Recht und dem Heiligtum seine Reinheit und Weihe wieder erstreiten, dass wenn die Enkel ihr Chanukka-Licht in ihren Häusern anzünden werden, sie auf eine ganz nahe Vergangenheit hinschauen können, wo Gott wieder seine Wundernähe bewiesen und ihre Väter wieder als „seine Kinder in die Wortstätte seines Hauses gegangen, und haben seinen Tempel von allem Unjüdischen geräumt und sein Heiligtum von allem Ungöttlichen gereinigt und haben die Weihelichter in den Häusern wieder zur Geltung gebracht, die sich als die Um- und Vorhöfe um das Heiligtum Gottes reihen — — —“?
[1] Blütenhülle der Blütenpflanzen
[2] „Sic transit“ ist die Abkürzung des lateinischen Sprichworts „Sic transit gloria mundi“, was bedeutet „So vergeht der Ruhm der Welt“
[3] Sprüche Salomons 22:6; Erziehe das Kind zu dem Weg, den es gehen soll
[4] Erziehung
[5] Sprüche Salomons 22:6; dann wird er ihn auch im Alter nicht verlassen
[6] Danksegenspruch
[7] aus zehn Männern bestehendes Beamten- oder Priesterkollegium im alten Rom
[8] Am Ende der Zeiten
[9] Griechen, der Terminus Hellenen (altgriechisch Ἕλληνες Héllēnes) – ist ursprünglich der Name eines thessalischen Stammes nach dessen mythischem Stammvater Hellen
[10] Wikipedia: Als Klephten (griechisch Κλέφτες Kleftes „Räuber“), auch Kleften, bezeichnet man Rebellen im Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Herrschaft.
[11] halsstarrig
[12] Deuteronomium 12:9; „nicht zu der Ruhe und dem Erbe gekommen“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[13] Erziehung zu Seinem Weg hin
[14] Ewiges Licht
[15] Hier: „Schlachtreihe“
[16] Damals so wie heute
Chanukka
Hier der vorstehende Artikel von Rabbiner Hirsch s“l mit KI-Überarbeitung. Die Fußnoten wurden in Endnoten umgewandelt.
Chanukka, Chanukka! Morgenrot und Frühlingslicht liegen auf diesem Wort, Morgenlicht und Frühlingshauch umwehen den Gedanken! Chanukka – eine große Chanukka ist die Knaben- und die frühe Jugendzeit, in der sich die Knospe von Geist und Herz öffnet und das verhüllte Allerheiligste der Seele für das Aller-Heiligste gewonnen werden soll. Der erwachende Mensch soll „gerüstet“ und „geweiht“ werden für das, was ihn später als Mann und als Greis durch das ganze Leben begleiten wird.
Chanukka ist jeder erhabene, erhebende Augenblick, in dem ein Mensch ein Werk vollbracht hat, das nicht das Ende, sondern der Anfang einer hoffnungsvollen Zukunft sein soll – einer Zukunft voller Lebenskeime. In diesem Moment knüpft er diese Zukunft an sein Werk und beginnt, die Hoffnungen und Keime zu ernten.
„Chanukka?“ – so spricht die engstirnige Weisheit der Menschen – „Chanukka, Jugend und Weihe, nur ein einziges Mal! Die Jugend ist unwiederbringlich verloren, wenn sie einmal verspielt ist, die Weihe unwiederbringlich, wenn sie einmal versäumt wurde! Der Mensch ist nur einmal begeistert für das Hohe, nur einmal empfänglich für die Weihe. Kindliches Gemüt, jugendliche Glut, Bräutlichkeit, Weihestimmungen – das alles sind nur Poesien, die ein barmherziger Vater dem armen Menschenherzen zum Trost geschenkt hat, um wenigstens über jeden Anfang den rosigen Schimmer der Hoffnung zu legen und das Ende mit dem süßen Schmerz wehmütiger Erinnerung zu versüßen. Doch die Wirklichkeit kennt nichts von dem Perienthan[1], der in der Morgensonne glänzte. Die poetischen Keime müssen zertreten werden, damit die Wirklichkeit entstehen kann. Zum Narren wird der Mann, der sich kindliches Gemüt und jugendliche Glut bewahren will. Das Herz der Frau zerbricht, die ihre bräutlichen Träume im Alltag der Familie erfüllt sehen möchte. Haus und Tempel werden unpraktisch, wenn der Inhalt ihrer Einweihungsgedichte mehr als bloße Gedichte bedeuten soll.“
Und doch steht Chanukka, Chanukka immer wieder im Kalender unserer Jahre. Und diesem Kalender ist es todernst: Mit jeder Chanukka soll neue Weihe, frische Rüste, ein erneuerter, frischer Anfang für das Tempel- und Familienleben jeder neuen Zeit kommen! Die Chanukka-Geschichte selbst widerlegt all jene engstirnige Blasphemie, die das bloß „Gemachte“, die bloße Poesie des Poetischen im Leben für Lüge erklärt. In der Brust eines Achtzigjährigen loderte die Chanukka-Flamme der Begeisterung auf und entzündete das Feuer eines ganzen Volkes, um Wahrheit und Weihe, Heiligkeit und Heiligung seines Lebens zu retten. Es war das beginnende Greisenalter dieses Volkes, in dem es fähig war, begeistert für seine höchsten Güter das Leben mit allen seinen Gütern einzusetzen – und gerade mit dieser Begeisterung den Anfang, die Chanukka seines Greisenalters zu feiern. Und das soll euch Chanukka sein? Begeisterung und Weihe nur Dichtung und Unwahrheit, mit der man Kinder ergötzt und Jünglinge berauscht, bis sie zur Nüchternheit des Lebens erwachen?
Warum sind euch Begeisterung und Weihe nichts als abgepflückte Blüten-Girlanden, mit denen ihr eure sogenannten „Weihestunden“ des Lebens verbrämt – Girlanden, die den nächsten Tag nicht überleben und schon übermorgen wie welke Kränze einer gestrigen Tempelweihe, einer gestrigen Konfirmation, einer gestrigen Hochzeit ihr sic transit[2] selbst all der Gefühle und Gesinnungen, all der Entschlüsse und Weihegedanken predigen, die ihr in diesen „Weihestunden“ doch als die ewigen und unvergänglichen gepriesen habt? Warum? Weil eure Begeisterung und Weihe von Anfang an eine Lüge sind. Ihr begeistert, aber es fehlt euch der Gegenstand, für den ihr begeistert. Ihr weiht, aber euch ist das Leben abhandengekommen, zu dem ihr weiht. Ihr begeistert das Kind nicht für das Pflichtleben der Knaben und Mädchen, den Knaben und das Mädchen nicht für das Pflichtleben der Jünglinge und Jungfrauen, den Jüngling und die Jungfrau nicht für das Pflichtleben des Mannes und der Frau, den Mann und das Weib nicht für das Pflichtleben des Greisen und der Greisin, den Greis und die Greisin nicht für das Leben ihrer diesseitigen und jenseitigen Ewigkeit. Das Entzücken eurer Braut- und Flitterwochen liegt nicht im kommenden Ernst der Ehe, die Begeisterung eurer Tempelweihen nicht im kommenden Ernst des Tempellebens. Ihr versteht es nicht [3] חֲנֹ֣ךְ לַ֭נַּעַר עַל־פִּ֣י דַרְכּ֑וֹ Dinge und Menschen für ihre Zukunft zu rüsten, in dieser Zukunft zu begeistern und durch diese Zukunft zu weihen. Eure Weihe ist immer nur ein Gipfelpunkt, von dem es nur abwärts geht – und sie sollte doch ein Anfang sein, der zu stetigem Aufstieg führt. Eurer Begeisterung und Weihe fehlt der inhaltsvolle Kern; sie haben keinen Gegenstand außer sich selbst, sie sind Selbstzweck und verpuffen deshalb wie eine Rakete, die ihren Brennstoff verbraucht hat und euch in Nacht zurücklässt. Die Liebe eurer Braut war Tändelei, die Liebe zu euren Kindern bloße Zärtlichkeit, das Interesse am Tempelbau nur Glanz und Stolz der Einweihungsfeier. Ihr herzt in der Braut nicht das einstige Weib, ihr liebt im Kind nicht den einstigen Mann, ihr weiht eure Tempel nicht, um sie zu besuchen. Ihr setzt die Wahrheit nirgends am Anfang – darum habt ihr Täuschung und Lüge an allen Enden.
Wie anders die jüdische Begeisterung und Weihe, wie anders die jüdische Chanukka, wo und wann immer sie erscheint! [4] חִנּוּךְ, die jüdische Menschen-Chanukka, speist das Kind nicht mit Märchen, den Knaben nicht mit Fabeln, den Jüngling nicht mit Romantik. Sie gängelt Kindheit und Jugend nicht mit Anschaltungen einer Welt, die nicht ist, und gewinnt Geist und Herz nicht für ein Leben, das die Wirklichkeit nie bietet. Sofort ans „Gesetz“, unmittelbar an denselben Ernst, zu derselben Wahrheit führt sie den Knaben – Wahrheit und Ernst, die sein Leben lang seine Führer und Zielpunkte bleiben sollen: „גַּ֥ם כִּי־יַ֝זְקִ֗ין לֹא־יָס֥וּר מִמֶּֽנָּה„ — „ עַל־פִּ֣י דַרְכּ֑וֹ„ –ֹ [5]. Für „Gott und Pflicht“ weckt sie seine Begeisterung und weiht sie ihn vom ersten Dämmerstrahl seines Bewusstseins an. Trifft diese Begeisterung, gelingt diese Weihe, dann leuchten „Gott und Pflicht“ ihm sein Leben lang als die leitenden Sterne seines Weges. Immer mehr zu wachsen in der Erkenntnis Gottes und seiner Pflicht, immer mehr zu wachsen im Dienst Gottes und in der Erfüllung seiner Pflicht – das heißt: dem Kind zum Knaben, dem Knaben zum Jüngling, dem Jüngling zum Mann, dem Mann zum Greis werden, dem Greis Greis sein lassen. Indem er die gereiften Schätze der Erkenntnis und des Lebens dem jungen Geschlecht hienieden weiht, nimmt er das, wofür sein erstes kindliches Bewusstsein aufdämmerte und wofür er sein Leben lang mit wachsender Begeisterung lebte, als Garbenkranz irdischer Vollendung mit hinüber in den neuen Anfang der jenseitigen Chanukka, zu der ihm der Tod an der Pforte der Ewigkeit leuchtet.
Seht das jüdische Volk, solange es wirklich jüdisch ist – die weite Erde bietet kein zweites. An derselben Quelle der Begeisterung und Weihe seht ihr Greis und Kind, Jüngling und Mann. Dasselbe Buch, dieselben Bücher, dasselbe Gesetz, dieselben Wahrheiten, an denen sich zuerst des Kindes Geist, Begeisterung, Lust und Lebensweihe entzündeten, nähren das Feuer des Jünglings, fesseln den Ernst des Mannes, verklären den Blick des Greisen. Der Siebzigjährige beugt sich noch eifrig über denselben Folianten und trinkt noch Begeisterung aus denselben Worten, die der Fünf- und Zehnjährige zuerst mit leuchtenden Augen stammelnd gelernt hat.
Seht die Ehe des Juden! Nicht Galanterie, Tändelei und täuschende Liebesvergötterung verbinden Herz und Hand des jüdischen Mannes und der jüdischen Frau. Im vollen Bewusstsein des ganzen kommenden Ernstes des Lebens und für diesen Lebensernst treten Mann und Weib zusammen. Ihre Liebe heißt Begeisterung für die gemeinsame Pflichterfüllung des Lebens und für das Glück des einen durch den andern und mit dem andern. Deshalb wächst ihre Liebe mit jedem Jahr der Ehe, wächst ihre Lebensweihe mit jedem Ernst des Lebens. Ihre Hochzeit ist nicht der Höhepunkt, sondern der Lenz, der Keimtag ihrer Liebe. Wie der jüdische Mann sein jüdisches Weib liebt, wie der Greis seine greise Gattin liebt, so hat der Jüngling die Jungfrau nie geliebt; denn jeder Tag, jedes Jahr – und gerade die ernsten, rauhen Tage und Jahre am allermeisten – haben Ring um Ring in die Kette gefügt, die ihre Geister und Herzen auf ewig verbindet.
Seht jüdische Tempel zur jüdischen Zeit. Vom großen Weihegepränge ihresחִנּוּךְ wissen sie wenig zu berichten. Orgelklang und Choralgesang, Kränze und Weihegedichte, selbst die Weihepredigt samt dem Weiheprediger fehlen zumeist. Die Rollen des Gesetzes hineingetragen, die kürzeste Dank-berachah[6] dem „Guten und Gutes gewährenden“ gesprochen, der erste Minchahgottesdienst gehalten – und die Synagogenweihe, die Chanukka, war vollzogen. Dafür wurde das Gotteshaus nun Tag für Tag besucht, wurde Zufluchtsort und Rüsthaus des täglichen Lebens, Sammelstätte des gemeinsamen Lebens vor Gott und Lehrstätte zur Durchdringung des ganzen Lebens mit Gott. Es war das Bedürfnis und der Ernst, der die alten Synagogen baute; ihre Weihe endete nicht mit dem letzten Amen einer Weihepredigt oder dem letzten Halleluja eines Schlusschorals am Weihetag. Der חִנּוּךְ war die Wiege, nicht das Testament der Synagogenweihe.
Eine unjüdische Zeit versteht es freilich, schönere, prächtigere Weihefeiern zu veranstalten. Doch die mit so viel Gepränge geweihte Luxus-Synagoge sieht ihre begeistertsten Leiter meist nur einmal im Jahr wieder – am Versöhnungstag, wo wir uns ja alle treffen. An den Wochentagen des täglichen Lebens bleiben ihre Räume geschlossen oder – wie eine Sterbende – erfreut sie sich eines Minjan-Vereins oder eines besoldeten Minjan-Dezemvirats[7], das die prunkvollen Worte der Weihechoräle und -reden von „Andacht“ und „Tempelseligkeit“ in den neun Zehnteln des Jahres stellvertretend verwirklichen soll, in denen die Prachtsynagoge für die wirkliche Gemeinde nur Luxus ist.
Seht die jüdische Geschichte! Von Anfang an wurde diesem Volk seine weltgeschichtliche Aufgabe in ihrer ganzen Herrlichkeit, aber auch in ihrem ganzen Ernst gezeigt – in ihrer ganzen Höhe, die erst durch Jahrhunderte und Jahrtausende der Verirrungen und des Wehs erklommen werden muss. Für keine Täuschung, für das jüdische Leben und Geschick mit all seinem Schweren und Herben wurde das begeisterte „Ja!“ am Sinai gefordert. Es wusste von vornherein, dass sein Lebensberuf ein felsiger Pfad durch Klippen und Talgründe sein würde, dass es erst [8] בָּאַחֲרִית הַיַּמִּים, erst am fernen Ende der Tage auf den vollen Höhen dieses „Ja!“ stehen werde. Es ist das einzige Volk, dessen Höhepunkt am Ende liegt, nicht am Anfang. Es ist das einzige Volk, das eine wahrhaftige Chanukka hat – eine Chanukka, die in immer steigendem, hellerem, reinem Licht durch alle Phasen seiner Geschichte wiederkehrt, um es immer frischerer Weihe und immer höherem Fortschritt zuzuführen.
Es sollte nicht wie die Hellenen[9] als Volk der Begeisterung für das „Schöne und Gute“ beginnen, um als trauriges, nur vom Schein einer untergegangenen Vergangenheit glorifiziertes Klephtenvolk[10] zu enden. Es sollte nicht wie die Römer als von Wolfsmilch genährtes, welteroberndes Volk des Schwerts und der Politik die Bühne betreten, um als klägliches, von Pfaffen und Fremden unterjochtes Völkergemenge zu enden. Israels Schmach liegt am Anfang, sein ewiger Ruhm winkt von den Gipfeln seiner Zukunft.
Als [11] קְשֵׁה עֹרֵף, in hartnäckigster Opposition, stand es zuerst selbst seiner großen Aufgabe gegenüber. Dieses Gesetz, das einst die Welt überwinden wird, feierte seinen ersten Sieg in der Eroberung des eigenen Volkes, das das geistige Werkzeug seines Weltenkampfes werden sollte. Jahrhunderte waren für diesen Sieg bestimmt. Wie Mose vor der ersten Chanukka siebenmal die Stiftshütte auf- und wieder abbauen musste, ehe am achten Tag die erste Chanukka durch den Eintritt der Gottesherrlichkeit besiegelt wurde; wie bei dieser ersten Chanukka sofort die ersten Priestersöhne der Heiligung des Heiligtums zum Opfer fielen, weil sie die Aufgabe dieses Gesetzesheiligtums nicht in der Ferne vor sich, nicht in der Höhe über sich, sondern unter sich und in sich suchten und meinten, jeder sei zu jeder Zeit schon auf der Höhe dieser Aufgabe: so wurde diesem Volk von vornherein gesagt und durch den Untergang des ganzen Zeitgeschlechts, das die erste Chanukka erlebte, mit aller Ernsthaftigkeit bewusst gemacht, dass es noch nicht [12] אֶל־הַמְּנוּחָה֙ וְאֶל־הַֽנַּחֲלָ֔ה, noch nicht zur Ruhe und zum Erbe gekommen sei, dass es mit alledem erst an einen Anfang gestellt war. Dieser Anfang könnte mit wandelloser Begeisterung rasch zum Ziel führen – oder mit unterbrochener, immer wieder unterbrochener, aber auch immer wieder neu gewonnener Begeisterung, scheinbar im Rückschritt, doch unwiderruflich und in immer steigendem Fortschritt zum Ziel gelangen.
In der Wüste, in Schilo, in Nob, in Gibeah, in Jerusalem durch Salomo, durch Esra, durch die Hasmonäer – bereits siebenmal wurde das Gesetzesheiligtum neu errichtet und eingeweiht. Während das äußere politische Geschick des Volkes abwärts ging, wurde die Chanukka innerlich doch jedes Mal geistig höher. Je mehr Israel seine politische Bedeutung verlor, desto mehr wurde sein Gesetz von dem Bündnis mit einer Aristokratie befreit, die es meist nur für ihre eigenen Interessen missbrauchte oder verriet. Umso mehr Boden gewann es im Volk, das bald nichts anderes mehr besaß als dieses Gesetz, sein Studium und seine Erfüllung – die sich als Adlerflügel seines Gottes erweisen sollten, es hell und lebenskräftig siegreich über eine in Nacht versinkende Welt von fast zwei Jahrtausenden zu tragen, gegen alle dämonische Gewalt einer auf Vernichtung sinnenden Völkerfeindseligkeit.
Als die Hasmonäer die letzte Chanukka feierten, gaben sie das Weihelicht jedem jüdischen Hausvater in die Hand, damit sich in jedem Hause erst recht die Tempelweihe vollziehe, damit diese Weihe sich von Jahr zu Jahr immer neu und jung wiederhole, jedes Geschlecht immer aufs Neue und in immer höherem Fortschritt die Weihe des Heiligtums durch die Weihe des Hauses vollbringe – bis einst das Haus des Gottesheiligtums von allen Häusern Israels, vom ganzen „Haus Jakobs“ getragen werde und die letzte wirkliche und wahrhaftige Chanukka auf dem Gipfel des errungenen Ziels beginnen könne.
Und nun, nachdem alle Jahrtausende unserer geschichtlichen Vergangenheit den siegreichen Geist der Chanukka in Israel verbürgen, nachdem Israel allein nicht nur die Chanukka, sondern die Wieder-Chanukka kennt – die ewig wiederkehrende, in gesteigerter Begeisterung wiederkehrende Weihe und fortschreitende Hingabe an das von Anfang an in siebenfacher Höhe hochgesteckte Ziel: wollen wir gleichwohl – wer weiß, wie nahe am Ziel – den Mut verlieren? Wollen wir unsere Chanukka nur kalt als Erinnerung vergangener alter Tage feiern, nicht aber unserer [13] חִנּוּךְ עַל פִּי דַּרְכּוֹ, nicht als „Rüste und Weihe für unsere Zukunft“? Wollen wir das Licht der Chanukka in unseren Häusern nicht in der Zuversicht anzünden, dass es – auch wenn siebenmal die Weihe verloren ging – endlich doch in immer steigerndem Licht das Ziel gewinnen wird? Dass, während Israels Chanukka damit begann, das Licht des Hauses am Licht des Tempels zu entzünden, die neue, endliche Chanukka damit gewonnen werden wird, am siegreich gepflegten Licht des Hauses das Tempellicht zum wahrhaftigen ewigen [14]נֵר תָּמִיד sich entzünden zu lassen?
Sagen uns denn nicht alle Zeichen der Zeit, dass uns eine neue wirkliche Chanukka von Nöten ist? Und ist diese Chanukka je in Israel ausgeblieben, wenn sie von Nöten gewesen? Hat nicht wieder antiochäische Gefahr Tempel und Häuser Israels ergriffen? Schreit das Heiligtum nicht laut nach einem Hasmonäer-Geist, der es und seine Kinder vor dem Eindringen jenes hellenischen Hauches rette, der jüdische Wahrheit und jüdisches Leben tötet? Hat hellenischer Schwindel – der den Menschen sich selbst zur Anbetung gibt, das Menschenideal mit all seinen Schwächen und Gebrechen zum Gott erhebt, Anstand und menschliches Wohlgefallen zum Maßstab von Sitte und Pflicht macht, statt den Menschen zum Licht des Göttlichen zu erheben das Göttliche in die Dämmerung schöner Sinnlichkeit hinabzieht – hat dieser ganze Betrug, der den Menschen um seine Würde und den Juden um seine Pflicht bringt, nicht wieder gerade die Regionen ergriffen, die als Leiter und Lehrer der Gemeinde die eherne Phalanx[15] bilden sollten, um das Gottesheiligtum in seiner Wahrheit und das Volk in seiner Treue vor jedem unjüdischen Eindringen zu schützen?
Ist die jüdische Aristokratie und der jüdische Priesterkreis nicht fast bereits wieder vom jüdischen Gesetz abgefallen? Hat sie nicht – [16] בַּיָּמִים הָהֵם בַּזְּמַן הַזֶּה – das ihr anvertraute Heiligtum des Tempels und der Lehre, der Schule und der Gemeinde, ihre bevorzugte Stellung in der Nähe der Machthabenden missbraucht, um ihren Geist des Abfalls dem Geist der Gesetzestreue zu unterschieben und durch Tempel und Schule das Haus und die Familie dem jüdischen Gesetzesheiligtum zu entfremden? Und ist ihr dieses Werk des Verrats nicht bereits so gut wie gelungen – so gelungen, dass selbst die Treue der Treuesten erschüttert ist, das ganze Bewusstsein von der Bedeutung der jüdischen Pflicht getrübt, dass kaum noch die Gesetzestreue wagt, in alter Treue für die Gottespflicht aufzutreten, und das jüdische Volk vergeblich nach Lehrern seiner Pflicht und Vertretern seines Rechts Ausschau hält?
Und da sollte uns die neue Chanukka fehlen? Da sollte die neue Chanukka noch fern sein? Sollte sich der jüdische Geist nicht wieder aufraffen und dem Volk sein Recht und dem Heiligtum seine Reinheit und Weihe wieder erkämpfen, sodass, wenn die Enkel ihr Chanukka-Licht in ihren Häusern anzünden, sie auf eine ganz nahe Vergangenheit zurückblicken können, wo Gott wieder seine Wundernähe bewiesen hat? Wo ihre Väter wieder als seine Kinder in die Wortstätte seines Hauses gegangen sind, seinen Tempel von allem Unjüdischen geräumt, sein Heiligtum von allem Ungöttlichen gereinigt und die Weihelichter in den Häusern wieder zur Geltung gebracht haben – Lichter, die sich als Um- und Vorhöfe um das Heiligtum Gottes reihen?
[1] Blütenhülle der Blütenpflanzen [2] „Sic transit“ ist die Abkürzung des lateinischen Sprichworts „Sic transit gloria mundi“, was bedeutet „So vergeht der Ruhm der Welt“ [3] Sprüche Salomons 22:6; Erziehe das Kind zu dem Weg, den es gehen soll [4] Erziehung [5] Sprüche Salomons 22:6; dann wird er ihn auch im Alter nicht verlassen [6] Danksegenspruch [7] aus zehn Männern bestehendes Beamten- oder Priesterkollegium im alten Rom [8] Am Ende der Zeiten [9] Griechen, der Terminus Hellenen (altgriechisch Ἕλληνες Héllēnes) – ist ursprünglich der Name eines thessalischen Stammes nach dessen mythischem Stammvater Hellen [10] Wikipedia: Als Klephten (griechisch Κλέφτες Kleftes „Räuber“), auch Kleften, bezeichnet man Rebellen im Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Herrschaft. [11] halsstarrig [12] Deuteronomium 12:9; „nicht zu der Ruhe und dem Erbe gekommen“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch) [13] Erziehung zu Seinem Weg hin [14] Ewiges Licht [15] Hier: „Schlachtreihe“ [16] Damals so wie heute
