In diesem Artikel greift Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l die Zustände in der „Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main“ in den 1840iger und 1850iger Jahren scharf an. Durch die für gesetzestreue Juden mehr und mehr verunmöglichten Zustände in der Gemeinde spaltete sich eine Gruppe von etwa 10 Familien von der Hauptgemeinde ab und gründete die „Israelitische Religionsgesellschaft“, IRG. Die Mitglieder der IRG mussten jedoch aufgrund der damaligen Gesetzeslage Mitglieder der „Jüdischen Gemeinde“ bleiben und weiterhin ihre Kirchensteuer an die Gemeinde entrichten. Im Jahr 1850 stellte die IRG den Antrag beim Senat der Stadt einen Rabbiner einstellen zu dürfen. So wurde1852 Rabbiner Hirsch zum geistigen Oberhaupt der IRG berufen. Wenn man bedenkt, dass bereits 1852 der Grundstein für den Bau einer eigenen Synagoge gelegt und wenig später die Gründung einer jüdischen Volksschule mit orthodoxer Ausrichtung ermöglicht wurde, erkennt man, dass es sich bei den Mitgliedern der IRG um sehr finanziell hochgestellte Persönlichkeiten gehandelt haben musste.
Wenn Sie den Artikel aufmerksam lesen, werden Sie feststellen, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Kritikpunkte Rabbiner Hirschs an den Zuständen der Hauptgemeinde auch auf die Gemeinden heute in Deutschland zutreffen. Vor allem der Kritikpunkt, dass die Vorstände vieler Gemeinden bis hin zu den Mitgliedern des heutigen „Zentralrats der Juden in Deutschland“ aus nicht-gesetzestreuen Juden besteht, sollte uns aufhorchen lassen. Denn genau diese Besetzung hat zu den hier geschilderten Auswüchsen jüdischen Lebens geführt.
Der Artikel wurde der Zeitschrift „Jeschurun“ 4. Jahrgang, Heft 2, November 1857 entnommen.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2941693
אָ֧ז נִדְבְּר֛וּ יִרְאֵ֥י ה‘ אִ֣ישׁ אֶל־רֵעֵ֑הוּ
וַיַּקְשֵׁ֤ב יה‘ וַיִּשְׁמָ֔ע
וַ֠יִּכָּתֵ֠ב סֵ֣פֶר זִכָּר֤וֹן לְפָנָיו֙ לְיִרְאֵ֣י ה‘
וּלְחֹשְׁבֵ֖י שְׁמֽוֹ׃
Da sprechen sich Gottesfürchtige einer gegen den andern aus,
Und Gott merkt es und hört es,
Und es wird in Sein Buch des Gedächtnisses der Gottesfürcht’gen verzeichnet,
Und derer, die seines Namens gedenken. (Maleachi 3:16)
Einen hohen Wert legt das Prophetenwort, das wir an die Spitze dieses Artikels geschrieben, der gemeinsamen Besprechung gottesfürchtiger Männer bei. Und achtete auch sonst keiner auf das, was Gottesfürchtige also gemeinsam besprechen, und führte die Besprechung auch vorderhand zu keinem Resultate —[1] אֲפִילּוּ חָשַׁב אָדָם לַעֲשׂוֹת מִצְוָה וְנֶאֱנַס וְלֹא עֲשָׂאָהּ , wie die Weisen zur Stelle bemerken, selbst wenn die äußeren Umstände die Ausführung des beabsichtigten Guten hindern — Gott achtet darauf, Gott hört zu und selbst die bloße Besprechung wackerer, gottesfürchtiger Männer ist ihm eine bedeutsame Tatsache, dass er sie nicht spurlos vorübergehen lässt. Gedanken, Wünsche, Entschlüsse wackerer Männer, zumal in gemeinsamer Besprechung gewonnen, sind schon Erfolge, die Gott in sein Buch der Geschichte verzeichnet. Nichts ist für ihn verloren, worin sich die Gottesfurcht und die ernste Sorge für die Verbreitung und Verherrlichung Seines Namens auf Erden betätigt.
Und wahrlich, wenn jede gute Tat nur die Verwirklichung eines guten Gedankens ist und dieser Verwirklichung selbst der Entschluss, der ernste Wille vorangehen muss, so ist ja die Belebung eines jeden Gedankens und die Weckung des ernsten Willens, des Entschlusses zur Ausführung, sobald die Ausführung möglich, selbst schon für die gute Sache von unleugbarem Gewinn. Gedanke und Wille sind ja zwei Drittel der Tat, und auch nur im Stillen und vereinzelt Gedanken und Willen dem Guten und Gottgefälligen zuwenden, heißt, dem Guten und Gottgefälligen Keim und Boden vorbereiten, die nur auf den Sonnenschein der Gelegenheit warten, um Heil und Segen bringend aufzugehen.
Noch bedeutsamer jedoch ist der Gewinn für die gute Sache, wenn in der Belebung guter Gedanken und Entschlüsse wackere Männer sich zusammenfinden. Es wird Gedanke an Gedanke entzündet und geläutert, es wird Wille an Wille gestärkt und gehoben, es tritt eine Gemeinsamkeit der Gedanken und der Bestrebungen zu Tage, die die Bedeutung jedes Einzelnen in seinen Überzeugungen und Vorsätzen verdreifacht, und sobald die Gelegenheit zur Tätigkeit sich zeigt, der guten Sache einen Verein von Kräften bereitzuhalten, wird jedes vereinzelte Streben in seinen Erfolgen weit überflügelt.
Aber von ganz besonderer Bedeutung ist das Wort, und zumal die gemeinsame Besprechung des Guten gerade in Zeiten, die der Wirksamkeit fürs Gute unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen, wo die Tätigkeit für das Gute versagt ist und ihm fast nur noch der Gedanke, der Wille geblieben. Eben da, wo man gemeinhin das Wort und den Austausch der Gedanken als doch unnütz und fruchtlos betrachtet und darum eine gegenseitige Besprechung achselzuckend belächelt, eben da gilt es doppelt, den Gedanken und das Wort nicht zu lassen und fällt mit unberechenbarem Wert die Besprechung Wackerer ins Gewicht. Sind die Zeiten günstig, kann man für das Gute wirken, dann mag die Zunge schweigen, dann gilt’s für das Gute mit Taten einzustehen und müßig ist das Wort, wo der Acker der Zukunft der Aussaat der Taten harrt. Allein in der Ungunst der Zeiten, wenn die Masse sich dem Guten abgewendet, wenn Gleichgültigkeit oder Verzweiflung sich der Übrigen bemeistert, „wenn“ — wie der Prophet, dessen Wort uns zu diesen Betrachtungen leitet, es schildert — „wenn die allgemeine Stimmung spricht: Torheit ist es ferner Gott zu dienen! Was haben wir denn genützt, wenn wir Seine Zwecke schützen wollten und um Seine Sache trauernd gingen? Wir müssen ja Sünder glücklich preisen! Die das Schlechte geübt sind groß geworden, haben Gott versucht und kamen davon! —,אז „wenn dann“, wenn in einer solchen Zeit allgemeiner Entmutigung und Verkommenheit des Guten, „wenn dann Gottesfürchtige zusammen treten zur gemeinsamen Besprechung, so merkt Gott auf und hört’s und schreibt es ein zum Gedächtnis und spricht: וְהָ֣יוּ לִ֗י … לַיּ֕וֹם אֲשֶׁ֥ר אֲנִ֖י עֹשֶׂ֣ה סְגֻלָּ֑ה, das werden die Meinen, für die Zeit, da ich einen Kern bilde!“[2]
Und in der Tat, wenn es erst dahin gekommen, dass man von dem Guten nicht einmal mehr spricht, dann erst ist das Gute wahrhaft begraben. So lange aber noch die Gedanken und Entschlüsse wackerer Männer dem Guten zugewendet sind, solange sie diese Gedanken und Entschlüsse durch gegenseitige Besprechung läutern und stärken, so lange ist Kopf und Herz der Wackeren eine sichere Burg und eine hoffnungsreiche Zufluchtsstätte des Guten. Ihre Gedanken, ihre Entschlüsse, ihre Worte selber sind Fruchtkeime der besseren Zukunft. Ihre Gedanken, ihre Entschlüsse, ihre Worte selber sind Werkzeuge in Gottes Hand für die bessere Zeit, die Er herbeiführt, wo das Gute wieder verwirklicht werden kann und Er der geläuterten Gedanken, der gestählten Gesinnungen und des entschlossenen Willens zu Vollbringern Seines Werkes bedarf.
Wo Taten rufen, da mag die Rede feiern. Wo aber die Hände gebunden sind, da sind Reden Taten, da gehe man zusammen und denke und überlege und spreche — Gott hört’s, und merkt’s, und verzeichnet es.
Was wir mit diesen Betrachtungen bezwecken mochten? Besprechungen, Besprechungen alles Guten, dessen Verwirklichung schwierig ist, oder, um in dem uns zunächst liegenden Kreis zu bleiben, Besprechungen alles für unsere heilige jüdische Sache Wünschenswerten, und zwar umso mehr, je weniger die Gegenwart Aussicht zur Realisierung der Wünsche bietet, ja, je größer die Schwierigkeiten sind, die die Zeit der Verwirklichung entgegenstellt.
Der Cheschwan ist da, und mit ihm betreten wir die eigentliche Zeit der stillen, emsigen Tätigkeit. Kopf und Hände rühren sich im Berufe, um etwas Tüchtiges auf der Bahn zu dem angewiesenen, oder vielmehr zu dem selbstgesteckten Ziel vorwärtszubringen, und je weiter und glänzender die Zeit fortschreitet, umso mehr müssen Kopf und Hände sich rühren, umso mehr nimmt der „Beruf“ immer mehr und mehr den ganzen Menschen in Anspruch. Der Philanthrop[3], der von dem Jahrhundert der Maschinen, dieser Surrogat[4] menschlicher Tätigkeiten, eine Befreiung des Menschen von der Arbeit hofft, dürfte bis jetzt wenigstens noch immer sich in seiner Voraussetzung bitter getäuscht sehen. Nur umso mehr gesteigert sieht er die von jedem zu erreichenden Ziele und nicht vermindert, verdreifacht sieht er die Anstrengungen und Mühen des „Berufs“. Diese gesteigerten Mühen und Anstrengungen wären nun nicht so sehr zu beklagen, da sie doch immerhin zugleich eine gesteigerte Entwicklung des Talents und der geistigen Fähigkeiten voraussetzen und fordern, wenn sie nicht die natürliche Folge gehabt, dass, um sich wenigstens nach einer Seite hin Erleichterung zu verschaffen, man sich den Begriff des Berufs möglichst vereinfacht, ihn vornehmlich, meist fast ausschließlich, auf die Erschwin- gung selbstständiger Existenz zurückgeführt, und sich ganz beruhigt in dem Gedanken fühlt, vollkommen seine Pflicht zu tun, wenn man seine ganze Tätigkeit ausschließlich dieser Erschwingung der Existenz, mit anderen Worten, dem Geschäft zuwendet, alles aber, was darüber hinaus liegt, oder doch nicht mittelbar oder unmittelbar damit in Berührung steht, von sich als Beruf störend, oder als solche Bestrebungen von sich weist, die Zeit und Kraft in Anspruch nehmen würden, welche den gebieterischen Pflichten des „Berufs“ heilig bleiben müssen.
Unter diesen Zwecken, deren man sich als Beruf störend entschlagen zu dürfen und darum auch zu müssen glaubt, steht die Sorge für das religiöse Allgemeine, die Sorge für die religiösen Gemeindeangelegenheiten obenan. Sie stehen ja mit dem Existenz-Beruf nicht im Entferntesten in Beziehung. Sie kosten nur und bringen nichts ein. Ihrer entschlägt man sich zuallererst. Es ist genug, meint man, wenn man auf dem Weg zur Selbstexistenz zugleich Geldmittel für die Bestreitung der Gemeindezwecke erwirbt. Diesen aber nun auch noch Zeit und Gedanken, oder gar Sorge und Bemühung zuzuwenden, läge jenseits der von heutiger Zeit gestatteten Möglichkeit. Versorgt müssen dieselben allerdings werden. Allein nach dem System der Teilung der Arbeit, hat man auch ein System der Teilung der Pflichten geschaffen, hat auch die Sorge für das religiöse Allgemeine zu einem besonderen Beruf umgeschaffen, der nun zur Erleichterung und Befreiung aller Übrigen, nur von den Wenigen, dazu „Berufenen“ getragen wird. Die Lehrkundigen und Lehrmeister der Gottesgemeinde, die Chachamim[5] und Rabbanim sind zu einer Geistlichkeit promoviert worden, zu deren Stand das Religiöse als Privilegium des Rechts sowohl als der Pflicht gehört. Insbesondere aber sind die Gemeindeältesten, Versorger und Führer der Gemeinden, Sikne Haedah, Parnassim und Manhigim[6], zu einer meist in sich geschlossenen Behörde erwachsen, auf deren Schultern die ganze religiöse Gemeindesorge ruht, die kaum noch zu irgend einer Maßnahme der Mitberatung der Gemeinde bedarf, ja häufig nicht einmal ihre Wahl der Mitwirkung der Gemeinde verdankt, vielmehr polypenartig durch Kooption[7] sich selber ergänzt und somit das ganze religiöse Gemeindewesen in ihrem Schoße beginnen und enden lässt. Hat ja dieses Berufsteilungssystem schon hie und da ein solches Gebühren erzeugt, dass man wahrlich glauben müsste, man bekenne sich dort zu der Vorstellung, das jüdische Religionsgesetz müsse allerdings unangetastet in einer jüdischen Gemeinde zur Verwirklichung kommen, allein es sei genug, wenn die jüdische „Klerisei“, Rabbiner und sonstige „Kultusbeamte“ es erfüllen. Deren Religiosität sei Dispens und Sühne für den Abfall der Gemeinde. Der Geistliche und sein Bereich, der Tempel, seien „fromm“, damit der Laie und sein Bereich, das „weltliche“ Leben, mit ruhigem Gewissen sündigen könne! Wie anders als aus einer solchen oder ähnlichen Vorstellung ließe sich’s erklären, wenn Eiferer für Bame Madlikin[8] aufstehen, die in ihrem eigenen Hause den Sabbath verletzen und Polterer für die Religiosität der Rabbinen und Kultusbeamten lärmen, die sich selbst im eigenen Leben jeder religiösen Gewissenhaftigkeit entschlagen!
Doch nicht von diesen lächerlichen Abnormitäten wollten wir hier reden. Das sind wahrlich die Wackeren nicht, deren Interesse wir für unsere heilige, jüdische Sache wecken möchten. Das sind die „Gottesfürchtigen“ nicht, deren Gedanken und Wünsche selbst Gott in das Buch seines Gedächtnisses verzeichnet. Wer nicht selbst im Gesetz lebt, lasse das Reden und Eifern fürs Gesetz — עוֹבְרֵי עֲבֵרָה יָשׁוּבוּ מֵעוֹרְכֵי הַמִּלְחָמָה[9] , וְלָ֤רָשָׁ֨ע אָ֘מַ֤ר אֱלֹקים מַה־לְּ֭ךָ לְסַפֵּ֣ר חֻקָּ֑י וַתִּשָּׂ֖א בְרִיתִ֣י עֲלֵי־פִֽיךָ[10]׃ — Vielmehr an diejenigen möchten wir uns wenden, die keine Stellvertretung in Erfüllung ihrer heiligsten Gewissenspflichten kennen, die ihren Beruf nicht in den engen Begriff der Existenz-Erschwingung begrenzen, denen die Erfüllung des göttlichen Gesetzes erster, heiligster, ja einziger Beruf ist, aus dem ihnen erst der Beruf für die Existenz selber entspringt, und in dem erst diese Existenz selbst für sie Wert und Bedeutung gewinnt. An diejenigen, denen es Ernst um die Erfüllung heiliger Pflichten ist, die aber in der Erhaltung ihrer einzelnen Persönlichkeit und ihres einzelnen Hauses bei der Gewissenhaftigkeit und Treue der heiligen Pflicht genügt zu haben glauben, den Gang der allgemeinen religiösen Angelegenheit sich selber überlassen, höchstens Kopfschütteln, Seufzer und augenblicklich verhallende Klagen — am Sabbath — aber keine Zeit und tätige Sorge, nicht einmal ein männliches Wort und eine Minute der Besprechung für die religiöse Sache des Allgemeinen haben, die sie denn doch ihrem Einzelberufe ferne liegend betrachten — und für welche tätig einzugreifen sie sich doch die Hände gebunden sehen.
Diese möchten wir mahnen, möchten dazu beitragen, dass sie sich von einer Täuschung befreien, die sie selber ihre Einzel-Pflicht nur halb erfüllen lässt und zugleich die letzte Hoffnung für das allgemeine Besserwerden — soweit Menschenaugen reichen — begräbt.
Wahrlich zuerst, sie täuschen sich, indem sie glauben, die Sorge für das allgemeine Religiöse ihrer Gemeinde liege ihrer Einzelpflicht fern. Nicht den Rabbinen und Vorständen, der Gemeinde, der Kehillat Jaakob hat Gott seine Thora zum Erbgut, oder wie die Weisen sich ausdrücken, zur angetrauten Braut übergeben. Die Gemeinde hat sie zu versorgen, die Gemeinde sie zu schützen, die Gemeinde mit ihrem Herzblut sie zu verteidigen, die Gemeinde sie zu Heil und Freude und zur segensreichen Entfaltung zu bringen. Und wer ist die Gemeinde anders, als die „Jechidim“, die Gesammtheit der Israelssöhne, als die [11] רִבְבוֹת אַלְפֵי יִשְׂרָאֵל , in deren Mitte Gott seine Schechina und das Heiligtum seines Gesetzes wohnen lassen will? Auf jedem Einzelnen ruht die Verantwortung fürs Ganze! Und was hätte denn auch ferner der Einzelne für die Lösung seiner Einzelpflicht getan, wenn er nicht zugleich für das Ganze mitgesorgt? Die jüdische Erziehung seiner Sohne und Töchter, die Vererbung der Thora in Erkenntnis und Leben auf seine Kinder und Enkel, das rechnet doch gewiss jeder Jude mit zu seiner Einzelpflicht. Ja, verdient er auch nur halbwegs den hohen Namen „Jude“, so wird diese Sorge ihm zuallererst am Herzen liegen, so wird er diese Sorge als die erste seiner Sorgen zählen, und alle anderen Errungenschaften seiner Bestrebungen für null und nichtig erkennen, so ihn diese Sorge drückt. Wie kann aber ein jüdischer Vater glauben, er habe die jüdische Erziehung, die jüdische Zukunft seiner Kinder und Enkel versorgt, wenn er nicht zugleich für die jüdische Gestaltung seiner Gemeinde Sorge trägt? Er kann doch nicht ewig bei seinen Kindern bleiben, und er kann doch seine Kinder und Enkel nicht auf sein Haus und seine Familie beschränken. Es ist die Gemeinde, die ihn überlebt, und die Gemeinde ist es, der wir alle unsere Kinder und Enkel anvertrauen, wenn uns Gott zu sich ruft. Selbst bei unserem Leben, ja, während unserer Erziehung, vermögen wir ja nicht, unsere Kinder auf uns selbst und innerhalb unseres Hauses und unserer Familie zu isolieren. Ja vermochten wir’s, die Isolierung wäre ihr sicherstes Verderb. Wer sein Kind nicht von vornherein gewohnt und übt, inmitten und in Gegenwart aller Abirrungen und zwiespältigen Gegensätze, seine jüdische Gesetzestreue zu bewahren und zu üben, der setzt es am allermeisten der Gefahr aus, bei dem ersten Schritt aus dem väterlichen Hause die Gesetzestreue abzuschütteln. So wie denjenigen mit dem ersten Schritt außer dem Hause am zuverlässigsten der Schnupfen anwehen wird, den man am ängstlichsten vor jeder Berührung mit der Luft abgesperrt. Schon also während ihrer Erziehungsjahre bewegen sich unsere Kinder inmitten der Gemeinde, noch mehr aber umfängt eben die Gemeinde sie, wenn ihre Erziehung vollendet und wir sie dem selbstständigen Leben übergeben. Unsere Kinder werden sich mehr und länger inmitten der Gemeinde, als in unserem Hause und unserem Kreis bewegen — und da hätten wir für die jüdische Zukunft unserer Kinder gesorgt, wenn wir eben den Boden ihrer jüdischen Zukunft unbekümmert dem Ungefähr überließen, wenn wir nicht vor Gott das Unsrige täten, jüdischen Geist in diesen künftigen Boden unserer Kinder zu pflanzen und diesen künftigen Boden, unserer Kinder dem jüdischen Leben befreundeter zu gestalten?
Aber täuschen wir uns doch nicht! Selbst die ganz einzelne, persönliche Pflichttreue jedes einzelnen Juden ist ja in hohem Grade gefährdet, wenn sich das Ganze, wenn sich die Gemeinde der jüdischen Pflichttreue entfremdet. Es bedarf ja der Einzelne der nur aus Gesamtkräften herzustellenden Anstalten für die Erfüllung seiner Pflichten, ja, jedem Einzelnen die Erfüllung seiner religiösen Pflichten möglich zu machen, steht ja unter dem Zweck eines jeden jüdischen Gemeindewesens in oberster Reihe, und da dürfte selbst der sich aus die Erfüllung seiner Einzelpflicht ganz beschränkende Einzelne sich der Sorge für die religiöse Richtung seines Gemeindewesens enthoben glauben? Sollen wir die Gemeinde erst nennen, in welcher vor Jahr und Tag einmal ein durch das Sichselbstergänzungs-System ganz unabhängiger Vorstand zusammen getreten und, das Prinzip: [12] יִרְעֶה עַד שֶׁיִּסְתָּאֵב zur Devise erkiesend, die systematische Verkümmerung aller religiösen Anstalten sich und allen ihren Nachfolgern als das mit aller Rücksichtslosigkeit eines fanatischen Eifers anzustrebende Ziel setzte, zu diesem Ende es offen bekannte, dass „an den Tisch der Gemeindeverwaltung keiner mehr kommen sollte, der noch Thefillin lege“, es auch glücklich dahin brachte, dass nach dreißig Jahren nicht eine einzige religiöse Anstalt mehr in der Gemeinde in einem solchen Zustand vorhanden war, dass sie der gewissenhafte Einzelne zur Erfüllung seiner religiösen Gewissenspflichten hätte benutzen können, bis endlich elf andere Einzelne zusammentraten und erst in Mitte des dem Judentum abgestorbenen Gemeindewesens eine ganz neue jüdische Gemeinde und mit ihr eine völlig neue Schöpfung aller religiösen Anstalten ins Leben rufen mussten, damit es nur, in Mitte einer jüdischen Bevölkerung von drei bis vier Tausend Seelen, dem Einzelnen wieder möglich wurde, „nach den Anforderungen des Gewissens seine religiösen Pflichten zu erfüllen? Sollen wir die Gemeinde nennen, in welcher Vorstände den Unterricht in Thora und Talmud polizeilich verboten, oder Regierungen, die auf Antrieb von Vorständen und Rabbinen den hebräischen Unterricht in den Schulen förmlich untersagten? Die Gemeinden nennen, wo Eltern durch Rabbinen gezwungen werden, ihre Kinder einen Religionsunterricht genießen zu lassen, der nach den Überzeugungen ihres Gewissens ihren Kindern den Abfall von den heiligsten Lebenspflichten predigt? Die Gemeinden nennen, wo reformsüchtige Rabbiner ihren gesetzestreuen Gemeindeangehörigen Synagogen schließen, Sifre Thora entführen, die am Rosch Haschana-Abend zum Gottesdienste versammelte Gemeinde mit Polizeigewalt auseinandertreiben ließen, oder einen solchen Terrorismus übten, dass sich die Einzelnen zu einem Gottesdienste nach ihrem gesetzestreuen Gewissen in Keller flüchten oder auf freiem Felde in Gesellschaft der Raben sich versammeln mussten?
Dies und Ähnliches sind keine Reminiszenzen von Palästina her aus altersgrauer Vorzeit eines Jerobeams und Antiochus. Es sind das Tatsachen aus der lebensfrischen Gegenwart unseres deutschen Vaterlandes unter der Ägide eines die Gewissensfreiheit proklamierenden Jahrhunderts, es sind dies „Zeichen unserer Zeit“, zu deren Wiederholung die Prämissen überall gegeben sind — und es dürfte irgendwo und irgend je einmal der Einzelne das Auge zudrücken und sagen, wenn ich nur mein Haus jüdisch führe und meine Kinder jüdisch erziehe, für die Angelegenheiten der Kehillah kann ich nicht sorgen, und habe ich nicht zu sorgen? Da dürfte vor allem in unserer Zeit bei solchen Wahr- und Warnzeichen nicht jeder Einzelne sich aufgerufen fühlen, stets das Auge wach und offen zu halten, auf dass die Angelegenheiten seiner Gemeinde nicht in das Geleis einer solchen Verirrung geraten, auf dass wenigstens in seiner Gemeinde die Verhältnisse so geleitet und gesichert bleiben, dass wer Jude sein wolle, auch Jude sein könne, und er seinen Kindern und Enkeln wenigstens die Möglichkeit rette, Juden und Jüdinnen zu sein?
Denn wahrlich, um nichts Geringeres als das handelt es sich. Es handelt sich nicht mehr darum, wie bringen wir die vom göttlichen Gesetz abgefallenen Bruder wieder zur Gesetzestreue zurück, sondern darum handelt es sich, wie schaffen und erhalten wir dem gesetzestreuen Juden die Möglichkeit, seinem Gesetz treu zu leben. Denn, geht dies so fort, erwachen die gesetzestreuen Einzelnen nicht aus ihrer Lethargie, gehen sie nicht zusammen, sich gemeinsam zu beraten, was zu tun sei, um das Heiligtum des Gesetzes aus den Gefahren, die ihm drohen, zu retten, so werden sie einmal nicht mit ruhigem Gewissen ihr Haupt niederlegen können, werden aus dem Leben scheiden und haben ihren Kindern und Enkeln nicht einmal die Möglichkeit mehr hinterlassen, gesetzestreue Juden und Jüdinnen zu sein.
Seitdem Israel ein Volk geworden und die Erhaltung und Erfüllung des göttlichen Gesetzes zu seinem Lebensberuf bekommen, war vielleicht die Erhaltung und Erfüllung dieses Gesetzes nicht in so drohender Gefahr, wie heute. Schon sehen wir, fast in ganz Europa wenigstens, die Leitung der jüdischen Geimeindeangelegenheiten Männern in die Hand gegeben, die dem jüdischen Religionsgesetz die Treue gekündigt, und „philanthropische“ Bestrebungen tragen die Propaganda dieses Abfalls auch zu unseren Brüdern in Asien und Afrika hinüber. In beklagenswerter Verkennung ihrer Rechte und Pflichten haben sich die gesetzestreuen Juden fast überall den Einfluss auf die Gestaltung der allgemeinen jüdischen Angelegenheiten entreißen, oder aus den Händen kommen lassen. Kaum ist noch ein Vorstand zu finden, dessen Mehrzahl nicht der Untreue gegen das göttliche Gesetz huldige. In einem großen Reich sehen wir die höchste Leitung der jüdischen Angelegenheiten einer jüdischen Zentralbehörde in die Hände gelegt, deren Prädikat „jüdisch“ die größte Ironie ist, deren Mitglieder acht gegen einen vom Judentum — wir sind noch so kühn, unter dem Judentum nichts als die Erfüllung der Thora und Mizwot zu verstehen — nun denn, deren Mitglieder acht gegen einen vom Judentum kaum mehr als den Namen haben, die seit Jahren planmäßig daran gearbeitet, die Gemeinden, und insbesondere die gesetzestreuen Einzelnen mundtot zu machen und eben jetzt ganz offen — nicht an die Gemeinden, nicht an die Hunderte und Tausende der „Gläubigen“, wie man sie dort nennt, und von denen allein ihnen eine Vollmacht erteilt werden konnte, wenn sie ihnen erteilt werden dürfte — sondern an die Regierung den Antrag gestellt, ihnen alles in die Hände zu geben, sie zu ermächtigen, alle Rabbinen allein anzustellen, sie nach Belieben zu versetzen und jede Gemeindeverwaltungsmaßregel ohne alle weitere Kontrolle und Verantwortung erlassen zu dürfen! Was wird die Zukunft des Judentums, des gesetzestreuen jüdischen Lebens in diesem Reiche sein, wenn es einer solchen Behörde, die leider bis jetzt schon so sehr mit Unrecht als die höchste Leiterin der jüdischen Angelegenheiten dasteht, gelänge, sich zu der einzigen Leiterin zu machen? Was haben die gesetzestreuen Juden zu hoffen, wenn ein gnädiger Gott nicht diese offen angekündigte Gefahr von ihren Häuptern abwendet, wenn nicht endlich eine solche Tatsache ihnen die Binde, von den Augen und die Sorglosigkeit aus dem Herzen reißt und sie aus ihrer Lethargie aufrüttelt, für ihr Recht und ihre Pflicht um das göttliche Heiligtum mit männlichem Wort und männlicher Tat einzustehen?
Was dort in einem der größten europäischen Reiche geschieht, das begibt sich mehr und minder seit dreißig Jahren fast in allen kleinen und kleinsten Regierungsgebieten unseres parzellierten deutschen Vaterlandes. Was dort erst angestrebt wird, ist hier bereits mehr und minder zum Gesetz erwachsen. Durch Verlästerung des alten Judentums und der alten Juden hat man es dahin gebracht, dass Regierungen einen Akt pädagogischer Menschenfreundlichkeit gegen ihre Juden und einen Akt der Selbsterhaltung gegen ihren Staat zu begehen vermeinten, indem sie — in völliger Anomalie gegen alle sonst zu Recht bestehenden Kompetenzbegriffe — das Judentum, eine, seinen inneren Beziehungen nach, ihnen ganz fremde Kirche, in den Bereich ihrer obervormundschaftlichen Verwaltung zogen, eine Reform des Judentums als das anzustrebende Ziel staatsgesetzlich sanktionierten, zu diesem Ende die urwüchsige Autonomie der jüdischen Religionsgemeinden brachen, reformfreundliche Vorstände zu ihren Vormündern, reformfreundliche Geistliche zu ihren Rabbinen bestellten, also, dass diese Letzteren sich nun als die staatsseitig bestellten, mit polizeilicher Gewalt ausgerüsteten Wächter und Wärter des noch „unerzogenen“ Judentums, und der noch „unerzogenen“ Juden gerieren, unter deren Zuchtrute der rechtschaffene Jude seufzt und das göttliche Heiligtum des jüdischen Gesetzes verkümmert.
Das sind Zustände der Gegenwart in vielen Kreisen des deutschen Vaterlandes, das sind Zustände der Zukunft, zu deren Eintritt fast in allen Kreisen bereits die Vorbedingungen vorhanden sind, und da dürfte in irgendeinem Kreise irgendein rechtschaffener Jude noch sich mit seinem religiösen Interesse auf seine Person, sein Haus, seine Familie beschränken, dürfte sich nicht aufgerufen fühlen mit dem ernstesten Ernst seine Sorge auch dem religiösen Allgemeinen zuzuwenden?
Wir haben aus den religiösen Beziehungen der jüdischen Gegenwart hier nur eine Seite, die religiöse Gemeinde-Organisation, hervorgehoben, weil dort uns in der Tat das Grundübel unserer Zustände zu wurzeln scheint und so lange es dort faul ist, die Aussicht auf Besserung in hohem Grade verkümmert bleibt — allein auch die meisten anderen Momente unserer jüdisch religiösen Gegen- wart, die meisten Institutionen und Bestrebungen, die in einem guten jüdischen Gemeindeleben blühen sollten, alles, was für die Erkenntnis und die Erfüllung des göttlichen Gesetzes zu geschehen wäre, wie wenig Erfreuliches bietet es dar, wie zu ernster Besorgnis ladet das Meiste — außer Zedaka[13] und Gemilut Chassidim[14] liegt fast alles unter dem Frost kalter Gleichgültigkeit begraben da, oder ist von Dornen und Disteln unjüdischer Pflanzung überwuchert, kaum hie und da wagt ein besserer Keim aus der Eisdecke oder der Unkrautfülle schüchtern hervorzublicken — und es dürfte der rechtschaffene Jude solchen Zuständen gegenüber gleichgültig bleiben, dürfte sich nicht aufgerufen fühlen, mit dem ernstesten Ernst seine Sorge diesem „Bruch seines Volkes“ zuzuwenden?
Der Cheschwan ist da, mit ihm die langen Winter-Abende; da sollten in jeder Stadt, in jedem Dorf die gesetzestreuen Juden alle, alle, denen der Bruch der Zeiten zu Herzen geht, alle, die einen Seufzer für unser Heiligtum übrig haben, diesem Heiligtum einen Abend, eine Abendstunde in der Woche, eine Abendstunde jeden Monat schenken, und zusammengehen, ihre Wünsche und Befürchtungen, ihre Sorgen und Hoffnungen, ihre Ansichten und Aussichten gegenseitig austauschen, sich in gegenseitiger Besprechung über die Frage klar zu machen suchen, wo es fehle, und was zu tun wäre, auf dass es besser werde! Und wenn solche Besprechungen vor der Hand auch nichts weiter als eben die Besprechungen zu erzielen vermögen, auch die bloßen Besprechungen Wohlgesinnter sind für das Gute Gewinnst. Besprechungen wecken die Tat, das Zusammenfinden der Wackeren ist ein Keim der besseren Zukunft, und wo immer in rat- und tatlosen Zeiten Gottesfürchtige zur Besprechung des Guten und Wünschenswerten zusammentreten
da merkt Gott auf und hört’s
und schreibt es ein in Sein Buch des Gedächtnisses
der Gottesfürchtigen
und Derer, die seines Namens gedenken.
Und das werden die Meinen, spricht Gott,
für die Zeit, da ich mir wieder einen Kern bilde!
‚וְהָ֣יוּ לִ֗י אָמַר֙ ה
לַיּ֕וֹם אֲשֶׁ֥ר אֲנִ֖י עֹשֶׂ֣ה סְגֻלָּ֑ה![15]
[1] Kiddushin 40a
[2] Malachi 3:17; Und die bleiben Mein, …. , für den Tag, da Ich ein ausschließlich Mir Angehöriges bilde, (Übersetzung Dr. Mendel Hirsch)
[3] Weltverbesserer durch Einsatz von Geld, Fähigkeiten oder Talent
[4] Nicht vollwertiger Ersatz
[5] Die Gelehrten
[6] Gemeindeältesten, Versorger und Führer der Gemeinden
[7] nachträgliche Hinzuwahl neuer Mitglieder in eine Körperschaft durch die dieser Körperschaft bereits angehörenden Mitglieder
[8] Bame Madlikin ist ein Gebet am Schabbat, dass u.a. davon handelt, auf welche Gebote man am Schabbat zu achten hat.
[9] Die Sünder kommen von den Kriegsschauplätzen zurück
[10] Psalm 50:16; „Aber zum Frevler spricht Gott: Was hast du von meinen Satzungen zu erzählen? Du führst meinen Bund im Munde?” (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[11] „Abertausende Israels“, Bezeichnung in der Thora für die Kinder Israels
[12] Wörtlich: es (das Tier, dass zur Opferung ausgesucht wurde, aber wegen eines Leibesfehlers nicht geopfert werden darf) so lange weiden zu lassen, bis es untauglich wird; hier übertragen: bis sich die Angelegenheit von selbst erledigt hat
[13] Wohltätigkeit
[14] Hilfsbereitschaft
[15] Malachi 3:17
