Yizhak Ahren
In diesem Artikel von Yizhak Ahren zum Thema „Wer oder was entsündigt uns am Jom Kippur“ geht es um einen kleinen Unterschied, nämlich um ein e und ein E in der Übersetzung von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l, das jedoch große Unterschiede in der Betrachtungsweise der Übersetzungen darstellt.
Rabbiner Samson Raphael Hirsch hat zahlreiche Verse der Tora mehrfach (unterschiedlich) ins Deutsche übersetzt. Diese Tatsache, auf die bereits Pinchas Paul Grünewald in seiner Hirsch-Monographie „Eine jüdische Offenbarungslehre“ (Bern 1977) hingewiesen hat, ist nicht zu übersehen, wenn man zwei seiner Hauptwerke sorgfältig studiert: das Mitzwot-Buch „Chorew“ (1837) und die fünfbändige Pentateuch-Übersetzung (1867-1878). In „Chorew“ findet man am Anfang der meisten Kapitel eine kurze oder längere Passage aus der Tora, die dann in den nachfolgenden Paragraphen ausgelegt und mit Bestimmungen für die religiöse Lebenspraxis verbunden wird. Seine Tora-Übersetzung hat Hirsch mit einem ausführlichen Kommentar versehen, der inzwischen ins Hebräische und sogar mehrfach ins Englische übersetzt worden ist.
Vergleicht man die verschiedenen Übersetzungen von Hirsch, so zeigt sich, dass er manchmal seine Meinung geändert hat. Bekanntlich ist jede Übertragung eine Interpretation, und viele Texte kann man unterschiedlich auslegen. Zwei Beispiele aus dem Buch Leviticus sollen in dieser Notiz Hirschs Revisionen dokumentieren und verständlich machen.
Im Zitat, das Kapitel 22 von „Chorew“ vorangestellt ist, lässt Hirsch den Begriff יוֹם הַכִּפּוּרִים „ (Jom Hakipurim) zweimal im deutschen Text unübersetzt stehen. Was bedeutet diese Entscheidung

Offensichtlich war Hirsch zum damaligen Zeitpunkt der Ansicht, dass es keine treffende Übersetzung für die hebräische Bezeichnung des Tages gibt. Im Pentateuch-Werk hingegen finden wir zweimal die Übersetzung „Tag der Sühnungen“ (3. Buch Mose 23, Verse 27 und 28)[1].

In seinem Kommentar erklärt Hirsch die Mehrzahl-Form „Kippurim“: „Der Tag bringt Kappara (Sühne) für die vielseitigen und mannigfaltigen Verirrungen und Versündigungen des Lebens.“ Eine andere Deutung des Plurals „Kippurim“ findet man in Rabbiner Baruch HaLevi Epsteins[2] Werk „Tosefet Bracha“. Er führt einen Midrasch an, aus dem hervorgeht, dass nicht nur die Lebenden der Sühne bedürfen, sondern auch die Verstorbenen. Daher pflegt man am Tag der Sühnungen im Jizkor-Gebet[3] Zedaka[4] für die Verstorbenen zu geloben.
Kehren wir nun zurück zum Thema der disparaten Übersetzungen von Hirsch. In der Liturgie von Jom Hakippurim rezitieren wir mehrmals folgenden Tora-Vers (3. Buch Mose 16,30):
כִּי בַיּוֹם הַזֶּה יְכַפֵּר עֲלֵיכֶם לְטַהֵר אֶתְכֶם מִכֹּל חַטֹּאתֵיכֶם לִפְנֵי הַשֵּׁם תְּטַהֲרוּ
Vor §153 im Buch „Chorew“ steht folgende Übersetzung: „Denn mit diesem Tag gibt Er Schutz um euch, euch zu reinigen, von allen euren Vergehen, vor Haschem sollt ihr rein werden.“

Hingegen heißt es in der späteren Leviticus-Übersetzung: „Denn an diesem Tage soll er Sühne über euch bringen, euch zu reinigen; von allen euren Verirrungen sollt vor Gott ihr rein werden.[5]“

Bei einem Vergleich der zwei Übersetzungen fällt auf, dass in der früheren Übertragung „Er“ steht, in der späteren „er“ – das kleine und das grosse E machen aufmerksamen Lesern deutlich, dass sie verschiedene Interpretationen des Verses vor sich haben. Wer oder was ist Subjekt von יכפר? Im Mitzwot-Buch meinte Hirsch offensichtlich: Gott – daher steht „Er“ mit einem großen E. Hirsch folgt einer Ansicht, die Don Yizhak Abravanel[6] in seinem Kommentar erwähnt. In der späteren Übersetzung vertrat Hirsch jedoch eine andere Interpretation, die er in seinem Kommentar erläutert: „Subjekt von יכפר kann nur der im vorangehenden Verse genannte 10. Tischri sein. Es ist der Tag selbst, der Kappara bringen soll.“
Erwähnt sei an dieser Stelle, dass Rabbiner Dr. David Hoffmann[7], der Hirsch persönlich kannte und selbstverständlich auch dessen Übersetzungswerk, in seinem Leviticus-Buch (Berlin 1905) den uns interessierenden Vers anders als Hirsch gedeutet hat. Hoffmanns Übersetzung lautet: „Denn an diesem Tage soll man für euch Sühne schaffen, um euch zu reinigen; von all euren Sünden sollt ihr vor dem Ewigen rein werden.“ Im Kommentar zum Vers erklärt er: „Der Priester soll für euch Sühne erwirken, wie weiter näher bestimmt wird.“ Hoffmanns Hinweis bezieht sich wohl auf Vers 32[8].
Gegen die Auffassung von Hoffmann, den er allerdings nicht namentlich erwähnt, hat Rabbiner Joseph Herman Hertz[9] folgenden Einwand erhoben: „Da der vorangehende und der folgende Vers die Pflichten des Volkes an diesem Tage beschreiben, kann das Subjekt von יכפר עליכם nicht der Hohepriester sein; sonst hätte er besonders erwähnt werden müssen. Nach Rabbi Akibas Meinung ist Gott Subjekt.“ Wir können feststellen, dass Hertz der Interpretation von Hirsch im Buch „Chorew“ zustimmt.
Wie bereits bemerkt, der Vers Leviticus 16,30 wird am Tag der Sühnungen im Gebet mehrmals zitiert. Erstaunlicherweise lesen wir im postum 1895 veröffentlichten Hirsch-Siddur folgende Übersetzung[10]:

„Denn an diesem Tag soll Er Sühne über euch bringen …“ Er mit einem grossen E! Hat Hirsch noch einmal seine Meinung geändert? Meine Vermutung ist, dass sich ein kleiner Fehler, E statt e, in die Druckfahne eingeschlichen hat, den Hirschs Söhne bei der Korrektur übersehen haben.
Yizhak Ahren,
https://de.wikipedia.org/wiki/Yizhak_Ahren
Religiöse Bücher

Neben den psychologischen Werken hat Yizhak Ahren auch zahlreiche Bücher zu jüdischen Themen
veröffentlicht. Diese Bücher sind äußerst preisgünstig über die LITERATURHANDLUNG https://literaturhandlung.com/ erhältlich. Hier ein Überblick:
Baruch Epstein
https://en.wikipedia.org/wiki/Baruch_Epstein
Yizhak Abravanel
https://de.wikipedia.org/wiki/Isaak_Abrabanel
David Zvi Hoffmann
https://en.wikipedia.org/wiki/David_Zvi_Hoffmann
Joseph Hertz
https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Hertz
[1] Das Buch Leviticus wurde 1877 erstveröffentlicht
[2] Siehe Wikipediaeintrag
[3] Ein Gebet zum Angedenken der Verstorbenen
[4] Eine Spende
[5] Levitikus 16:30
[6] Siehe Wikipediaeintrag
[7] Siehe Wikipediaeintrag
[8] Leviticus 16:32; „Aber auch der Priester vollzieht Sühne, den man salben und bevollmächtigen wird, an der Stelle seines Vaters Priesterdienst zu verrichten, und er bekleidet sich mit den leinenen Gewändern, den Gewändern des Heiligtums.
[9] Siehe Wikipediaeintrag
[10] In der Übersetzung der Schmone Esre für Jom Kippur S. 659