Diesen Text habe ich einer Rede von Dr. Raphael Breuer זצ׳ל in Aschaffenburg zum Thema „Die geschichtliche Aufgabe der Freien Vereinigung“ entnommen. Veröffentlich wurde die Rede in der Zeitschrift „Nachalat Zwi“, Jahrgang 6, Heft 4-6, Januar 1936.
Die „Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums“ war eine von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l 1885 gegründete Organisation. Sie wurde später, ab 1905, von Jacob Rosenheim und Rabbiner Salomon Breuer (dem Schwiegersohn Rabbiner Hirschs und dessen Nachfolger in der Austrittsgemeinde zu Frankfurt am Main) neu belebt und diente als Reaktion auf antisemitische Strömungen.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2553705
Wir stehen am Vorabend des Monats Tamus. Wissen Sie, was das Wort Tamus bedeutet? Ich will es ihnen sagen.
Einst kam der Geist Gottes über den Propheten Jecheskel. Eine Hand streckte sich aus und fasste ihn bei den Locken seines Hauptes. Ein Wind trug ihn zwischen Himmel und Erde und brachte ihn nach Jerusalem. Dort zeigte ihm Gott die Entartung seines Volkes. Jecheskel steht am Eingang des inneren Tores, das gen Norden liegt. [1] וְהִנֵּה־שָׁם֙ הַנָּשִׁ֣ים יֹשְׁב֔וֹת מְבַכּ֖וֹת אֶת־הַתַּמּֽוּז „Und siehe, dort saßen die Frauen und beweinten den Tamus“. Tamus ist dasselbe wie Adonis. Adonis, dieser heidnische Gott von einer sprichwörtlich gewordenen Schönheit, personifiziert die alljährlich sich erneuernde Vegetationskraft des Frühlings. Ihm gegenüber steht Artemis, die römische Diana, die Spenderin der Fruchtbarkeit, die Göttin der Geburt, ausgestattet mit den Attributen der Jagd, mit Bogen und Köcher. Im Monat Tamus wenn [2] הַחַמָּה מְהַלֶּכֶת בַּיִּשּׁוּב כְּדֵי לְבַשֵּׁל אֶת הַפֵּרוֹת, wenn die Sonne sich anschickt, den Früchten die letzte Reife zu bringen, da geht die jungfräuliche Schönheit des Frühlings in den fruchtbaren Erntesegen des Sommers über; da wird Adonis, der Gott des Frühlings, von Artemis, der Spenderin der Fruchtbarkeit, der Göttin der Geburt, mit Bogen und Köcher niedergestreckt; da setzten sich einst die heidnischen Frauen hin, um den Tod des Adonis zu beweinen… Und wenn nun dem jüdischen Propheten Jecheskel als tiefste Entartung gezeigt wird:
וְהִנֵּה־שָׁם֙ הַנָּשִׁ֣ים יֹשְׁב֔וֹת מְבַכּ֖וֹת אֶת־הַתַּמּֽוּז
so begreifen wir, was das bedeutet: Sie beweinen den Tamus, weil sie im Frühling der Natur ein Gleichnis ihres eigenen Frühlings erkennen; und sie beweinen seinen Tod, weil sie im Tode des Frühlings ein Gleichnis ihres eigenen Altwerdens erkennen; sie beweinen den Tamus, weil sie selber ewig jung bleiben möchten; weil sie von einem ewigen Frühling ihres eigenen Lebens träumen; weil sie gram sind der Spenderin der Fruchtbarkeit; weil sie Hass empfinden für die Göttin der Geburt; weil sie Kinder nicht als Segen, sondern als Last empfinden: weil sie niedriger sind als Pflanze und Tier, niedriger als die vernunftlose Natur, die wohl im Frühling zu prangender Schönheit aufersteht, jedoch, ohne zu weinen und zu klagen, sich der Last des sommerlichen Erntesegens unterwirft.
וַיֹּ֣אמֶר אֵלַי֮ הֲרָאִ֣יתָ בֶן־אָדָם֒ הֲנָקֵל֙ לְבֵ֣ית יְהוּדָ֔ה מֵעֲשׂ֕וֹת אֶת־הַתּוֹעֵב֖וֹת אֲשֶׁ֣ר עָשׂוּ ……׃ וְגַם־אֲנִי֙ אֶעֱשֶׂ֣ה בְחֵמָ֔ה לֹא־תָח֥וֹס עֵינִ֖י וְלֹ֣א אֶחְמֹ֑ל וְקָרְא֤וּ בְאׇזְנַי֙ ק֣וֹל גָּד֔וֹל וְלֹ֥א אֶשְׁמַ֖ע אוֹתָֽם׃[3]
„Da sprach Gott zu mir: Siehst du es, Menschensohn? Sind sie geringfügig, die Gräuel, die das Haus Juda hier verübt? … Aber auch ich werde gegen sie in Zorn geraten; mein Auge wird nicht schonend auf sie blicken; kein Erbarmen will ich mit ihnen haben; und rufen sie vor meinen Ohren mit lauter Stimme, so werde ich sie nicht erhören“. (Jecheskel 8,17).
Mit solch harten, grausigen Worten haben unsere alten jüdischen Propheten die Angst vor dem Altwerden, die Sehnsucht nach einer ewigen Jugend als ein Symptom tiefster sittlicher Entartung gegeißelt!
[1] Jecheskel 8:14
[2] Pessachim 94b
[3] Jecheskel 8:17-18