Mit der Einführung der Schulpflicht in den verschiedenen deutschen Ländern zu Beginn des 19. Jhdt. wurde die jüdisch-orthodoxe Bevölkerung vor ein Problem gestellt. Der Sonnabend, Schabbat, war ein schulpflichtiger Tag. Orthodoxen jüdischen Schülern war es aus religiöser Sicht strengstens verboten am Schabbat zu tragen (Schul-Ranzen) noch am Schabbat zu schreiben. Dieses Problem wurde von Ort zu Ort unterschiedlich gelöst – so z. B. dadurch, dass man sich darüber verständigte, dass eine Anwesenheitspflicht in der Schule für jüdische Kinder am Schabbat genüge. Sie trugen nichts und schrieben nichts, sie folgten einfach durch Anwesenheit dem Unterricht.

Rabbiner Hirsch s“l ging einen anderen Weg als er 1852 nach Frankfurt übersiedelte. Obwohl dort bereits eine jüdische Schuleinrichtung bestand, das sogenannte Philanthropin, das vor allem von nicht-orthodoxen Jugendlichen besucht wurde, gründete er eine jüdische Realschule an der profane Fächer wie Biologie, Geschichte, Physik usw. genauso unterrichtet wurden wie Thora und Talmud. Dieses Schulsystem nannte er Torah-im-Derech-Eretz.

Dieses Schulsystem stand jetzt in Konkurrenz mit den überlieferten orthodox-jüdischen Bildungseinrichtungen der „Judenschulen“ — Jeschiwot — vor allem in osteuropäischen Ländern. Dort wurden ausschließlich die Schriften des Alten Testamentes, einschließlich der Exegeten und Talmud unterrichtet. Profane Fächer nur insoweit sie zum Verständnis der heiligen Schriften notwendig waren oder zur Ausübung eines Berufes.

Dieser und der nachfolgende Artikel, beide aus der Zeitschrift Nachalat Zwi der Jahre 1935 bzw. 1936 greifen diese Thematik auf und belichten diese beiden Schulsysteme. Dr. Landau und Dr. Weinberg waren beide am Berliner Rabbinerseminar tätig.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-sranksurt.de/cm/periodical/pageview/2553963

Von Dr. Maximilian Landau

I.

Die Gestalt Samson Raphael Hirschs ist in letzter Zeit zum Gegenstand einer lebhaften Auseinandersetzung geworden. Von verschiedenen Standpunkten her wird an sein geistiges Werk und seine geschichtliche Wirksamkeit die kritische Sonde gelegt. Der früher ziemlich geschlossene Consensus über seine Lebensleistung weicht neuerdings immer mehr dem Bestreben, ihre Bedeutung für unsere Zeit in Frage zu stellen oder sie in erheblichen Teilen einzuschränken[1].

Dass diese Kritik, soweit sie einer schlecht verhehlten Abneigung gegen das gesetzestreue Judentum überhaupt entspringt und in der Person S. R. Hirschs die Orthodoxie an sich treffen will, eine ernsthafte Prüfung nicht verdient, ist klar. Aber die kritische Haltung, die S. R. Hirsch gegenüber in manchen gesetzestreuen Kreisen selbst entstanden ist, ist einer aufmerksamen und sorgfältigen Betrachtung wert: denn sie lässt auf bedeutende Verschiebungen in der Mentalität der deutschen Orthodoxie schließen und macht eine grundsätzliche Überprüfung unserer Stellung zu Samson Raphael Hirsch notwendig.

Von mancherlei Positionen her und in verschiedener Richtung werden die Vorbehalte gegen Hirsch geäußert, doch in einem Punkt finden sie sich alle: darin, dass sie Hirschs Wirken in wesentlichen Teilen als zeitgebunden betrachten und die Geltung seiner Leistung für unsere Zeit nicht mehr als voll anerkennen. Und selbst die Hirsch-Apologetik[2], die sich bemüht, diese Vorwürfe zu entkräften, sieht sich genötigt, manche ihr von sekundärem Rang erscheinenden Stücke seines Werkes preiszugeben, um den überzeitlichen Wert des übrigen umso nachdrücklicher zu betonen.

Woher stammt nun die veränderte Einstellung zu Samson Raphael Hirsch in der deutschen Orthodoxie? Diese Haltung ist nicht von ungefähr aufgekommen, sondern das Ergebnis eines längeren geistigen Prozesses: ihre letzte Ursache liegt in dem Gefühl einer tiefen Unsicherheit, das die deutsche Orthodoxie in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg[3] befallen hatte. Die Begegnung mit der Welt des Ostjudentums, die intensive Beschäftigung mit der jüdischen geistigen Problematik haben die frühere Selbstsicherheit der deutschen Orthodoxie, das beruhigende Bewusstsein, sich auf dem richtigen Weg zu befinden, erschüttert, ihr den Abstand von einem idealen Volljudentum klargemacht und in ihr ein Gefühl heftiger Unbefriedigtheit und Ergänzungsbedürftigkeit wachgerufen.  Man begann die Grundlagen des Weltbildes, das bislang in der deutschen Orthodoxie Geltung hatte, nachzuprüfen und entdeckte in ihm eine Reihe von Mängeln und Lücken. Gegenüber der Geschlossenheit und wachen Intensität der östlichen Judenheit empfand man die deutsch-orthodoxe Auffassung des Judentums als in vielen Bezügen unzulänglich[4].

Insbesondere das Prinzip: Thora-im-Derech-Erez, bisher der Stolz des deutschen Judentums, erfuhr nunmehr vielfache und immer dringlichere Anzweiflung. Man begann irre zu werden an seinen angeblichen Segnungen und bestritt sein volles Bürgerrecht in einem hundertprozentigen Judentum. Ließ die Pietät vor der Größe S. R. Hirschs seine völlige Verwerfung nicht zu, so suchte man es doch durch engere und engste Auslegung seines eigentlichen Charakters zu entkleiden und es so, quasi entgiftet und unschädlich gemacht, als harmlose, traditionsgemäße Devise weiterzuführen. Einer nach einem ungebrochenen Volljudentum sich stürmisch sehnenden Jugend erschien es als eine verhängnisvolle Halbheit, als eine allzu konzessionsfreudige Theorie, als zeitgeborene Notlösung, die neuen und besseren Erkenntnissen zu weichen habe. Allmählich entstand (vielfach unwidersprochen) in weiten Kreisen die Auffassung, als sei das Lebenswerk Samson Raphael Hirschs nichts als ein im Drang des Augenblicks geborener Versuch, sich in einer schwierigen geistig-religiösen Situation so gut es ging zu behaupten und, unter besonders ungünstigen historischen Umständen, in geschickter Weise zu retten, was noch zu retten war; dass aber dieser Versuch als gescheitert anzusehen sei, dass er heute keine Geltung mehr habe und das allein das Ostjudentum mit seiner kompromisslosen Einstellung und seinen rein jüdischen Lebensformen Vorbild und Richtmaß zu sein habe. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit[5], insbesondere der Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben, haben diese Anschauung noch bekräftigt und das Misstrauen gegenüber jenem Bereich, der mit den Ausdrücken: europäische Kultur, Bildung, Wissenschaft, Derech Erez im Hirschschen Sinne umschrieben wird, bedeutend verschärft.

Solchen Tendenzen, wo sie, aus Tradition und Überzeugung erwachsend, sich auf eine selbständige Argumentation stützen, wird niemand, dem nicht an einer Uniformierung des geistigen Lebens gelegen ist, ein Existenzrecht absprechen wollen; aber sofern sie sich in ihrer Beweisführung auf S. R. Hirsch berufen und ihm ihre Gedankengänge unterschieben wollen, muss ihnen nachdrücklichst widersprochen werden. Von den Verfechtern dieser Anschauungen wird S. R. Hirschs Leistung und Absicht völlig verkannt. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass für Hirsch die Beschäftigung mit der Weltkultur nicht ein notwendiges Übel, sondern aufrichtige Herzenssache gewesen ist. Das Thora-im-Derech-Erez – Prinzip verdankt seinen Ursprung nicht opportunistischen Erwägungen, sondern der tiefen Überzeugung, dass das Beste der Menschheitskultur eine glückliche Ergänzung und Bereicherung der jüdischen Gesamtpersönlichkeit bildet. Ebenso wie S. R. Hirsch davon durchdrungen war, dass die Verwirklichung der jüdischen Ideale die Krönung des menschlichen Lebens überhaupt bedeutet, so glaubte er auch fest daran, dass die Einbeziehung der großen Menschheitswerte in den von der Thora beherrschten jüdischen Kulturkreis nur zur Erhöhung und Vollendung des jüdischen Daseins beitragen kann.

Samson Raphael Hirsch hat den Sinngehalt seiner Epoche erfasst, und er hat begriffen, dass eine neue Zeit auch ein neues Wort erfordert. Er sah, dass mit dem Anbruch des neunzehnten Jahrhunderts eine jahrhundertelange Epoche endgültig zu Grabe getragen, und dass eine prinzipiell neue Wendung eingetreten war, die eine prinzipiell neue Einstellung notwendig machte. Er hat nicht versucht, die stürzenden Ghettomauern in ohnmächtigem Bemühen aufzuhalten, sondern alle Kräfte darangesetzt, um das dem Ghetto entronnene Volk vor planloser Zerstreuung zu bewahren und es in disziplinierter Geschlossenheit einer neuen, helleren, wohnlicheren, doch darum in Gesetz und Lehre nicht minder festgegründeten Heimstätte entgegenzuführen. So gesehen, war S. R. Hirsch nicht bloß ein für seine Zeit verdienstvoller Rabbiner und Schriftsteller oder, wenn man es anders will, ein hervorragendes Glied in der fortlaufenden Kette der großen Achronim[6], sondern er war mehr und anderes als das: er war Verkünder einer neuen Losung, Wegbereiter einer neuen Epoche und in solchem Sinne, wie er treffend genannt worden ist, in der Tat ein „legitimer Revolutionär“.

Wenn nun angesichts der gewiss noch unzulänglichen praktischen Resultate des Hirschschen Erziehungssystems manche aus begreiflicher Sorge um die weitere Entwicklung schon die Verfehltheit des ganzen Systems feststellen wollten, so haben sie den Charakter und das Ausmaß des Hirschschen Erziehungswerks durchaus verkannt. Eine Losung von so weitreichender Bedeutung und umwandelnder Kraft war von Hirsch nicht bloß für eine Generation allein ausgeworfen worden, sondern war bewusst als Einleitung einer neuen geistesgeschichtlichen Epoche im Judentum gedacht und sollte der Nachwelt als weiterzuentwickelndes Erbteil überantwortet werden. Die Auswirkung des Prinzips war auf lange Zeiträume berechnet, und so kann die praktische Erfahrung einiger Jahrzehnte, gewiss nichts Endgültiges über seinen Wert oder Unwert besagen. Anstatt also vorschnell ein völliges Versagen des Thora-im-Derech-Erez – Prinzips zu verkünden, hätten dessen Verächter sich vergegenwärtigen sollen, dass mit seiner Verwirklichung kaum der allererste Anfang gemacht worden ist, und anstatt das gesamte System in Bausch und Bogen zu verwerfen, hätten sie lieber versuchen sollen, es aus seinem rudimentären Zustand heraus zu dem in ihm vorgezeichneten Ziel hin zu entwickeln.

Die Kritiker tadeln mit Recht den beklagenswerten Stand des Thorawissens und den Mangel an jüdischer Substanz und Fülle in der gesetzestreuen Judenheit Deutschlands[7]. Aber das einfache Rezept, das sie zur Beseitigung dieser Missstände anbieten, die Trennung von der europäischen Kultur und Wissenschaft und das Zurücksinken ins Ghetto, kann die Heilung nicht bringen. Es ist gewiss ein rührendes Phänomen — und zugleich bezeichnend für das hohe sittliche Niveau der deutschen Judenheit — dass eine bedeutende Gemeinschaft innerhalb des Judentums öffentlich ihre eigene Unzulänglichkeit bekennt, ihrer bisherigen für verfehlt gehaltenen Daseinsweise abschwört und bereit ist, sich der Denkungsart und Existenzform eines anderen Volksteils vorbehaltlos anzuschließen. Aber liegt nicht in solcher Selbstanklage ein gut Teil Übertreibung? Ist diese Geringschätzung der eigenen Leistung berechtigt und erlaubt? Es wäre ein schweres Unrecht an den Lebenden wie an den vergangenen Generationen der deutschen Judenheit, wollte man diese Frage ohne weiteres bejahen. Nicht nur das Lebenswerk ihrer Gipfelgestalten, eines S. R. Hirsch und eines Esriel Hildesheimer[8], würde dadurch geschmälert werden, auch das einer großen Zahl von Menschen aller Schichten und jedes Bildungsgrades, die in Gesinnung und Tat, in Haus und Gemeinde und öffentlichem Wirken ein vorbildliches und makelloses Judentum gelebt haben, würde unverdiente Zurücksetzung erfahren. Es ist nicht wahr, dass das deutsche Judentum irgendeiner anderen jüdischen Gruppe inferior[9] ist. Es ist anders, es mag dem vom östlichen Judentum Kommenden manchmal befremdend und ungewohnt erscheinen, aber es ist darum jüdisch nicht minderwertiger. Es ist ein organisch gewachsenes Gebilde eigener Art und eigener Prägung, dessen unleugbare Mängel in manchen Bezügen durch andere einzigartige Qualitäten wettgemacht sind, und so wie es ist, ein unentbehrlicher, nicht wegzudenkender Teil der jüdischen Volksgesamtheit, in welcher es eine bedeutende, nicht hoch genug einzuschätzende Rolle gespielt hat und noch zu spielen berufen ist. Nicht nur sind, weit über Deutschlands Grenzen hinaus, die thoratreuen Zentren in den westlichen Ländern vom Hirsch-Judentum stark beeinflusst, auch der Osten selber hat der deutschen Orthodoxie unendlich viel zu verdanken. Das Wiedererstarken des thoratreuen Elements im öffentlichen Leben der östlichen Länder wäre ohne die Hilfe und Anregung durch die deutsche Orthodoxie kaum denkbar, und selbst das geistige Leben, vor allem die Überzeugungstreue der östlichen Jugend, findet mittelbar Stütze und Ausrichtung an dem Vorhandensein des von Hirsch geprägten Judentums im Westen. Ein plötzlicher Sprung in den von einer falschen Romantik idealisierten Osten, die kritiklose Übernahme seiner Anschauungsweisen und Lebensformen, wie sie von einer gutwilligen aber schwärmerischen Jugend propagiert wird, würde nicht nur die Auslöschung der eigenen ruhmreichen Vergangenheit bedeuten, die Verleugnung alles dessen, was den vergangenen Generationen heilig und teuer war und vielen gutjüdischen Menschen heute noch ist, sondern trotz der großen bis zur Selbstentäußerung gehenden Opfer, da unorganisch, künstlich und stillos, als eine für eine Gesamtheit psychologische und historische Unmöglichkeit im Grunde keine Lösung bringen.

Es ist vielleicht nicht allen klar geworden, dass das östliche Judentum nur noch von den Resten einer einstigen Größe zehrt, und dass es in seiner ursprünglichen, hundertprozentig jüdischen Gestalt, so wie sie von der Literatur und der mündlichen Überlieferung ideal verklärt wird, heute höchstens in der Oase einer Jeschiwa oder eines chassidischen „Hofes“ zu finden ist. Es war eine große Welt, aber sie ist in der Form, in der sie bisher existierte, unwiederbringlich dahin. Was die deutschen Juden vom Osten übernehmen dürfen und sollen, ist eine Haltung, ein Lebensgefühl: die Vitalität, die Gefühlstiefe, die Innigkeit, die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des Judeseins, Volksbewusstsein und Volksverbundenheit. Aber eine naive Restaurierung dieser Welt mit allen ihren Tatsächlichkeiten ist nicht möglich und auch nicht erstrebenswert. Der Osten hat die schöpferische Formel noch nicht gefunden, die es ihm ermöglichte, seine unsterblichen Werte in eine neue Lebensform hinüberzuretten, und sich, durch einen organischen Regenerierungsprozess verjüngt, auch in Gegenwart und Zukunft zu behaupten. Und es wäre ein Widersinn sondergleichen, wenn derjenige Teil der gesetzestreuen Judenheit, der wohl im glücklichen Besitz einer solchen schöpferischen und entwicklungsfähigen Formel ist, sich unklaren romantischen Stimmungen zuliebe ihrer freiwillig entäußern wollte.

Dass die deutschen Juden es endlich gelernt haben, neiderfüllt auf das lebensstrotzende Judentum des Ostens und seine großen Schöpfungen zu blicken, ist gewiss erfreulich: aber sie müssen sich klar machen, dass dies alles dort aus besonderen Voraussetzungen langsam erwachsen ist und dass es nicht in ein anderes Milieu fertig übernommen werden kann. Wenn sie sich wirklich danach sehnen, eine analoge Höhe und Dichte jüdischen Lebens zu erreichen, wie sie dort Wirklichkeit geworden ist, so dürfen sie den Osten nicht einfach kopieren, sondern sie müssen versuchen, das aus den eigenen geschichtlichen und psychischen Voraussetzungen, aus den eigenen Anlagen, nach den eigenen Stilgesetzen zu neuer selbständiger und origineller Gestaltung hin zu entwickeln: in einer Richtung, die jener anderen Entwicklungslinie wohl parallel laufen, aber nicht mehr mit ihr zusammenfallen kann. (Die Ausdrücke: östliches und deutsches oder westliches Judentum meinen natürlich nicht geographische, sondern weltanschauliche Begriffe, gleichviel, an welchen Orten der Erdkugel sich ihre Bekenner befinden mögen). Gewiss, es ist nicht zum Besten bestellt um das deutsche Judentum[10]. Aber nicht in Preisgabe und Zerstörung der eigenen Grundlagen liegt das Heilmittel, sondern gerade in ihrer Erhaltung, Stärkung und ihrem verständigen, denk- und tatkräftigen, sinnentsprechenden Aufbau. Nicht Abkehr von den Lehren Samson Raphael Hirschs tut not, sondern ihre nachdrückliche Beherzigung und zeitgemäße Fortentwicklung.

II.

Ausbau und Weiterentwicklung sind aber die unabweisbaren Forderungen, die das Erbe S. R. Hirschs an unsere Zeit stellt. Wie die Verwerfung des Thora-im-Derech-Erez – Prinzips und das als untrügliche Panacée[11] angesehene Untertauchen in die geistige Existenzform des Ostens ein endgültiges Verlassen der Hirschschen Linie bedeutet, so ist auch die starre Konservierung des Hirschschen Systems in seiner ursprünglichen Erscheinungsform eine schwere Versündigung gegen seinen Geist und inner-sten Sinn. Das Erbe Hirschs — von jeder Generation durch aktive geistige Besitznahme neu zu erwerben — will auch von unserer Zeit in seinem eigentlichen Sinn neu erschlossen und gedeutet werden. Das Thora-im-Derech-Erez – Prinzip, das Schlüsselprinzip der Hirschschen Weltanschauung, ersteht uns heute in einer anderen und tieferen Bedeutung. Jene populär-bürgerliche Auffassung von Thora-im-Derech-Erez als einer angenehmen Vielseitigkeit, als einer feineren Paraphrase der praktisch – lebensklugen Devise: „Für Gott und für Leut“ genügt uns heute nicht mehr, weil sie in ihrer Oberflächlichkeit den in einer höheren geistigen Sphäre entstehenden Verwicklungen nicht gewachsen ist. Nach einem halben Jahrhundert gereifter Erfahrung und opferreicher Lehrjahre glauben wir heute das wahre Wesen dieser prophetischen Devise zu erkennen. Die landläufige Übersetzung von Thora-im-Derech-Erez heißt: Synthese zwischen Judentum und Menschheitskultur. Aber was Hirsch wollte, war nicht „Synthese“. Sein Ideal, der Mensch-Jissroel[12], war nicht das Produkt einer noch so innigen Verkopplung oder selbst Verschmelzung zweier verschiedener Welten, sondern das war gedacht als eine vordifferenzielle, in keiner Entwicklungsphase auseinanderlegbare Einheit, ein Baum, aus einer Wurzel wachsend und seine Zweige nach vielen Seiten hin entfaltend, der Typus eines jüdischen Menschen ohne Naht und Bruchstelle, der jenseits allen Dualismuses als Jude die Welt aufnimmt und gestaltet und sein Judentum aus der ganzen Fülle des menschlichen Daseins lebt. Denn Judentum und Kultur sind nicht kommensurable[13], auf einer Ebene liegende Begriffe. Kultur ist nicht eine festumrissene, ruhende Größe, der gegenüber nur zwei Verhaltungsweisen möglich sind: entweder vorbehaltlose, uneingeschränkte Bejahung und Hingabe mit allen Konsequenzen oder aber ängstliches Meiden und panische Flucht wie vor etwas Bösem und Verderblichem, — sondern Kultur ist ein Prozess: eine stets im Fluss befindliche Entwicklung, ein unaufhörliches Werden, das unserem bewussten Eingreifen unterliegt, dessen letzter Ausdruck mit bestimmt wird von der Intensität unseres Mitschaffens, eine Funktion unserer gestaltenden Kraft.

Aus solcher Erkenntnis heraus erwächst eine unbefangene, souveräne Haltung, die eine neue Wertung erlaubt. Kultur ist uns heute — da wir sozusagen schon in die Gesellenjahre unserer Mitarbeit am Kulturleben gekommen sind — nicht mehr das Wundertier, das in geziemendem Abstand mit einer Mischung von Respekt und Furcht angestaunt wird. Sie ist für uns nicht mehr mit dem Nimbus der Unfehlbarkeit oder dem der Verruchtheit umgeben; wir haben ein freieres und vertrauteres Verhältnis zu ihr gewonnen, das uns in den Stand setzt, in souveräner Auswahl aus ihren Elementen unserem Le-ben einzugestalten, was dem Ausbau unserer jüdischen Persönlichkeit dienlich ist. Sie ist uns nicht mehr ein unheimlicher fremder Kontinent, an dessen äußerstem Rand wir uns mit schlechtem Gewissen schüchtern ansiedeln, sondern sie ist ein Stück unserer eigenen Welt, an dem, wie in jedem anderen Bereich unseres Lebens, die jüdische Ausgabe und Sendung sich zu bewähren hat.

Der gefürchtete Konflikt aber zwischen Glauben und Wissen, zwischen Sein und Sollen, Trieb und Plicht oder wie man sonst die dualistischen Gegensatzpaare nennen mag, tritt nicht erst in dieser Sphäre auf. Man hat ihn nur aus Bequemlichkeit in diesem Bezirk lokalisiert. In Wirklichkeit hat er mit der Frage: Judentum und Kultur unmittelbar nichts zu tun: denn diese ewigen Urkonflikte der Men-schenseele wirken an jedem Ort und zu jeder Stunde, und ihnen entgeht, in welcher Verkleidung immer, auch der Jude nicht, der sich auf den engsten Bereich des Jüdischen beschränkt.

So stellt sich die Devise: Thora-im-Derech-Erez, weit entfernt davon, ihre Lebenskraft eingebüßt zu haben, unserer Zeit erst recht als ein Prinzip von zeugender Fruchtbarkeit und unendlicher Entfaltungsmöglichkeit dar. Seine sinngerechte Erfassung und Verwirklichung eröffnet ungeahnte Perspektiven für den Anteil jüdischen Geistes an der Weltkultur und für die Befruchtung des Geisteslebens der Menschheit durch die Thoraidee. Von einer so veränderten Mentalität des thoratreuen Juden, von seiner neu gewonnenen souveränen Haltung, Elastizität und geistigen Reichweite her sind neue unerhörte Gestaltungen denkbar. Man stelle sich vor, dass Bergson[14], Freud[15], Husserl[16] Juden im Hirschschen Sinne gewesen wären: die europäische Kultur hätte heute ein anderes Gesicht.

Allerdings, das eine muss gesagt werden: wenn es nicht gelingt, das Thorawissen der westlichen Judenheit auf einen höheren Stand als bisher zu bringen, bleibt Hirschs großer Gedanke eine Farce und muss unfehlbar zum Zusammenbruch führen. Reiches und lebendiges Thorawissen ist die stillschweigende unabdingbare Voraussetzung für jede Reform und Neuorientierung. Thora und Profankultur sind ein System kommunizierender Röhren. Nur wirkliches, inniges Erfülltsein von Thorakenntnis und Thorageist gibt die Gewähr für eine gesunde allseitige Entwicklung der jüdischen Persönlichkeit. Aber die Aneignung jüdischen Wissens braucht nicht den gleichzeitigen Erwerb anderer Bildungsgüter auszuschließen. Es ist eine Frage der Lehrtechnik, der richtigen Organisation und Zeiteinteilung, dem jungen Menschen das ausreichende Maß jüdischen und profanen Wissens zu vermitteln, das eine harmonische Ausbildung gewährleistet. Es kommt nicht auf oft unverdaute Mengen von Wissenstoss an, sondern auf die Eignung, lebendiger, innerlich verarbeiteter Bestandteil der Gesamtpersönlichkeit zu werden.

Seit einem Jahrhundert befindet sich das jüdische Volk in einer neuen Epoche seines Schicksalswegs, die im Zeichen der Auseinandersetzung mit der Menschheitskultur steht. Diese Entwicklung ist unwiderruflich. Geistige Prozesse sind nicht mehr rückgängig zu machen. Trotz hie und da auftretender politischer Beschränkungen und wirtschaftlicher Schwierigkeiten lässt sich das jüdische Volk seine Teilnahme am allgemeinen Kulturleben nicht rauben. Dass sie dem Judentum und der Menschheit zum Segen gereiche, wird nicht zuletzt die sinngerechte Verwirklichung jener großen und fruchtbaren Losung herbeiführen, die ein genialer Führer mit weitschauender Voraussicht über die Zeiten hinweg verkündet hatte, der Losung: Thora-im-Derech-Erez.


[1] Wir befinden uns hier im Jahre 1935

[2] Apologet = Jemand der sich mit Nachdruck für eine bestimmte Anschauung einsetzt.

[3] 1. Weltkrieg

[4] Bis zum 2. Weltkrieg gab es bekannte und berühmte orthodox-jüdische Lehranstalten vor allem in Osteuropa.

[5] Die Machergreifung Hitlers

[6] Wikipedia: Die Acharonim (hebräisch אחרונים Aḥaronim, deutsch ‚die Letzten‘ als Plural und hebräisch אחרון Aḥaron im Singular) sind im jüdischen Recht und in der jüdischen Geschichte die führenden Rabbiner und Poskim (jüdische Rechtsgelehrte), die etwa vom 16. Jahrhundert bis heute lebten

[7] Damals so wie heute

[8] Wikipedia: Esriel Hildesheimer (auch: Azriel oder Israel Hildesheimer; geboren am 11. Mai 1820 in Halberstadt; gestorben am 12. Juli 1899 in Berlin) war ein deutscher Rabbiner und gilt – neben S. R. Hirsch, von dem er sich aber trotz des gemeinsamen Lehrers Jakob Ettlinger in wesentlichen Punkten unterschied – als Begründer der modernen Orthodoxie….1873 etablierte er das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin, das die wichtigste Ausbildungsstätte für Rabbiner aus ganz Europa werden sollte. Hildesheimers Studenten erhielten die auf Samson Raphael Hirsch beruhende Idee vermittelt, Orthodoxie sei vereinbar mit dem wissenschaftlichen Studium der jüdischen Quellen.

[9] untergeordnet, jemanden unterlegen

[10] Damals so wie heute

[11] Allheil-, Wundermittel

[12] Der von Hirsch geprägte Begriff „Mensch-Jissroel“ stellt die Kombination eines Juden dar, der zugleich gläubiger Jude und säkulärer Bürger ist.

[13] vergleichbare

[14] Wikipedia: Henri-Louis Bergson (* 18. Oktober 1859 in Paris; † 4. Januar 1941 ebenda) war ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur 1927.

[15] Wikipedia: Sigmund Freud (geboren am 6. Mai 1856 als Sigismund Schlomo Freud in Freiberg in Mähren, Kaisertum Österreich; gestorben am 23. September 1939 in London, Vereinigtes Königreich) war ein österreichischer Arzt, Neurophysiologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker. Er ist der Begründer der Psychoanalyse und gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

[16] Wikipedia: Edmund Gustav Albrecht Husserl [ˈhʊsɐl] (* 8. April 1859 in Proßnitz in Mähren, Kaisertum Österreich; † 27. April 1938 in Freiburg im Breisgau, Deutsches Reich)[1] war ein österreichisch-deutscher Philosoph und Mathematiker und Begründer der philosophischen Strömung der Phänomenologie. Er gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

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