Rabbi Samson Raphael Hirsch זצ“ל  [1]

Dieser Artikel bezieht sich auf den vorherigen; ist so gesehen eine Ergänzung. Auch hier wird das Hirsch´sche Schulsystem „Thora-im-Derech-Eretz“ einer Prüfung unterzogen.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2554072

Von Rabb. Dr. I. Weinberg[2] – Berlin.

Eine Rede (mit einigen Kürzungen und Ergänzungen), gehalten an einem Diskussionsabend zu dem Referat von Herrn Dr. Maximilian Landau: „Samson Raphael Hirsch und unsere Zeit“, das bereits im Nachlath Zwi VII, 1 — 3 erschienen ist.

Herrn Dr. Landau gebührt der Dank der Orthodoxie, dass er es unternommen hat, für Rabbiner Hirsch und seine Lehre Verständnis zu wecken.

Rabbiner Hirsch zählt zu den großen Männern des Judentums, die nie voll und ganz begriffen worden sind; von seinen Anhängern ist er nicht genügend verstanden, von seinen Gegnern missverstanden worden.

Das Lebenswerk Rabbiner Hirschs erschöpft sich nicht lediglich in der Wiederentfachung des erloschenen jüdischen Lebens in Deutschland. Er war einer der größten Lehrer des jüdischen Volkes, er war vielleicht der größte jüdische — wirklich jüdische — Religionsphilosoph der letzten Zeit. Seit Abravanel[3] hat das jüdische Volk keinen Mann von solchem Format besessen, der zugleich Religionsphilosoph, Bibelkommentator und geistiger Führer seiner Zeit war. Der Umstand, dass er seine Werke in der deutschen Sprache abgefasst hat, gehört mit zu den vielen tragischen Zügen des jüdischen Golus[4]: wären sie hebräisch geschrieben, so würden sie den Bücherschrank jedes jüdischen Menschen schmücken. Sein Bibelkommentar würde sich dann der Reihe der klassischen  [5]מְפָרְשֵׁי הַתּוֹרָהanschließen.

So aber glaubt jeder deutschschreibende Schriftsteller sich über Hirsch hinwegsetzen zu können. Hirsch gilt dem Modernen als veraltet, — es mag sein, dass sein Deutsch unmodern ist; das Jüdische bei ihm, das Gedankliche, ist nur für den veraltet, der unser gesamtes jüdisches Schrifttum als veraltet ansieht.

Viele können es ihm nicht verzeihen, dass er es unternommen hat, das orthodoxe Judentum zu verlebendigen, zu ertüchtigen und so auszurüsten, dass es den Kampf im modernen Leben, den Kampf gegen das moderne Leben wagen durfte. Sie, die Gegner des alten Judentums, würden lieber eine altmodische, unbeholfene und schwächliche Orthodoxie sehen, die für sie den Schimmer der Romantik besitzt und auf einen Kampf im täglichen Leben verzichtet — eine Orthodoxie, die nichts weiter als Respekt für sich beansprucht und keine Aussicht auf Gefolgschaft oder unbedingte Geltung besitzt.

Unsere Weisen haben sich über das Verhältnis von Leben und Jüdischkeit in folgendem Satz ausgesprochen:

„תּוֹרָה צִוָּה לָנוּ מֹשֶׁה מוֹרָשָׁה קְהִלַּת יַעֲקֹב א׳ת מוֹרָשָׁה אֶלָּא מְאֹוֹרָשָׂהּ“

„Lies nicht: ein Erbteil ist die Thora der Gemeinde Jakobs, sondern — eine Verlobte. ״

Unsere Thora will keine alte Großmutter, sie will eine junge Verlobte, eine Lebensbegleiterin sein. Seiner Großmutter bringt auch der moderne, wohlerzogene Enkel Respekt entgegen. Er lässt sich von ihr Freitag- und Schabbos-Abends benschen[6], aber in der Zwischenzeit lässt er sie in ihrem bequemen Großmutterstuhl ruhen. Eine Verlobte beansprucht, dass man mit ihr jeden Lebensschritt und jeden Lebensgenuss teilt, sie will überall dabei sein: die Thora will nicht bloß die Romantik des Lebens sein, sie will das gesamte Leben erfüllen.

Dass die alte Thora, der unsere Modernen einen bekoweden[7] Winkel in der Schabbos- und Jomtow-Synagoge zuweisen[8], dass sie nun mit jugendlichem Mut und Frische den Anspruch auf die Totalität des Lebens zu erheben wagte, ist das Verdienst Rabbiner Hirschs.

In manchen Kreisen der Deutschen Judenheit spottet man über die sogenannte Hirsch’sche Synthese, man nennt sie „Salonjüdischkeit״. Hirsch habe die Jüdischkeit salonfähig gemacht und habe den Deutschen Juden schön frisiert und ihm die Fähigkeit verliehen, sich im Salon der Vornehmen zu bewegen. Heute aber sei der Salon längst verschwunden, an seine Stelle sei die Arbeitsstätte getreten. Die jüdischen Massen, auch in Deutschland, seien allmählich proletarisiert; zum Bild des jüdischen Arbeiters passe die ästhetisierende Jüdischkeit von Rabbiner Hirsch nicht mehr.

Nun ist es aber falsch, dass das Bestreben Hirschs darauf gerichtet war, die Juden salonfähig zu machen: umgekehrt — er hat den Salon jüdisch gemacht. Nicht die Juden in den Salon, sondern die Salonjuden ins Beth-Hamidrasch[9] zu führen, war sein Ziel.

Er hat in den Herzen der sogenannten modernen kultivierten Juden, die einen Sinn für Kunst und Schönheit hatten, das religiöse Gewissen geweckt. Religiöses Empfinden — die innere Bereitschaft und Fähigkeit, Religion zu erleben — zu wecken, war die Aufgabe des Hirsch’schen Erziehungssystems. Dass man heute auch in nicht-orthodoxen Kreisen den religiösen Problemen mehr Verständnis entgegenbringt als früher, dass Gott in der modernen jüdischen Literatur einen — wenn auch bescheidenen — Platz einnimmt, dass mancher Schriftsteller sich in Deutschland als Lieferant von religiöser Literatur etablieren konnte, ist eine Folge auch von Hirschs Wirksamkeit.

 Wir wissen, dass die Zahl der religiös Indifferenten innerhalb unseres Volkes eine große ist, besonders unter den Arbeitern Palästinas[10]. Alle Versuche, sie für die jüdische Religion wiederzugewinnen, sind bisher misslungen. Wir können und dürfen aber nicht auf diese Menschen verzichten, weil sie einen wunderbaren jüdischen Idealismus, sogar Heroismus aufweisen. Könnten wir ihnen solche Lehrer und Führer geben wie Hirsch sie wollte, so würden viele unter ihnen, deren religiöse Impulse nur verschüttet sind, den Weg zu wahrer Jüdischkeit wieder finden.

Auf die Frage, was eigentlich das Wesen der Hirsch’schen Lehre ist, wird immer auf das Schlagwort von Thora-im-Derech-Erez“[11] hingewiesen. Dieses Schlagwort wird aber in der letzten Zeit in den Reihen der Orthodoxie beanstandet, denn die Beschäftigung mit profanen wissenschaftlichen Fächern soll halachisch verboten sein. Man habe sie nur so lange zugelassen wie ein äußerer Zwang — sei es das Schulgesetz, sei es der Zwang der Lebensumstände — bestand. Jetzt aber, beim Wegfall des äußeren Zwanges, trete der alte Issur[12] wieder in Kraft. Der Schreiber des Artikels, im „Israelit“ 1934, Nr. 35[13] führte zur Verteidigung von Rabbiner Hirsch an, dass er die profane Bildung nur insoweit erlaubt habe, wie sie für die berufliche Ausbildung notwendig war, also als Berufsvorbereitung zu Erwerbszwecken.

„Die Wirksamkeit von Rabbiner Hirsch״ so heißt es in dem genannten Artikel, „vollzog sich im Kreise einer Bevölkerung, die, von Handwerk, Landwirtschaft und industrieller Lohnarbeit abgeschnitten, ökonomisch vollkommen auf das Hineinwachsen in den modernen Handel und die moderne internationale Großkaufmannschaft angewiesen war und die dort allein die Möglichkeit für Sch’miras Schabbos[14] für Arbeitgeber und -nehmer finden konnte. So war es klar, dass sein Erziehungssystem die Form der Realschule annehmen musste[15], weil sie auf den Beruf des modernen Kaufmanns berechnet war. Hier liegt die Grenze für die Gültigkeit des Prinzips Thora-im-Derech-Erez״, eine Grenze, die nicht überschritten werden darf״.

Als Beweis für seine Auffassung führt der erwähnte Verfasser die Tatsache an, dass Hirsch nie den Versuch unternommen habe, seine Thora-im-Derech-Erez“-Devise praktisch auf die Heranbildung von Rabbinern in Deutschland auszudehnen.

So also glaubt der Artikelschreiber seinen großen Lehrer verteidigen zu müssen. Ob in Hinblick auf die Größe Rabbiner Hirschs eine solche Form der Legalisierung nötig war, weiß ich nicht. Eine solche Deutung aber verzerrt die gigantische Gestalt Hirschs und reduziert sie auf die Gestalt eines verdienstvollen Rabbiners und Lehrers, der für seine süddeutschen Baale Batim[16] eine Realschule gründet, damit sie den Aulom haseh[17] als Großkaufleute genießen können und doch nicht des Aulom habo[18] verlustig zu gehen brauchen.

Für uns aber — und ich sage es mit stolzer Betonung — für uns Ostjuden bedeutet Rabbiner Hirsch viel mehr, und wir glauben auch, ihn besser verstanden zu haben.

Vielleicht wird mancher gute Frankfurter, der Rabbiner Hirsch quasi als sein Eigentum ansieht, uns die Legitimität abstreiten, so zu sprechen; aber jeder; der Hirschs Größe verspürt, darf ein Bekenntnis zu ihm ablegen. Und gerade wir, denen die Jeschiwoh[19] als der Heimatboden gilt, aus dem wir unsere Kraft ziehen, und nicht bloß eine Episode der schwärmerischen Aufwallung bedeutet, fühlen uns Rabbiner Hirsch nahe verbunden und können es nicht zugeben, dass der Bereich der Lehre dieses großen Wegweisers im Judentum auf die Provinz um die Realschule in Frankfurt beschränkt bleibt.

Die vom Verfasser jenes Artikels aufgeworfene Frage, warum Rabbiner Hirsch seine Thora-im-Derech-Erez״-Devise nicht auch auf die Heranbildung von Rabbinern in Deutschland auszudehnen suchte, konnte doch nur so gemeint sein: warum Rabbiner Hirsch sich mit der Rabbinerausbildung nicht beschäftigt hat. In dieser Formulierung ist die Frage aber gar nicht berechtigt. Rabbiner Hirsch hatte alle Hände voll zu tun mit dem Aufbau des jüdischen Lebens in Deutschland, mit dem Aufbau der jüdischen Familie, der jüdischen Gemeinde, der jüdischen Gemeinschaft; kurz, Rabbiner Hirsch hat erst den Boden vorbereiten und die Atmosphäre schaffen müssen, damit sein Nachfolger auf dem Rabbinerstuhl[20] Frankfurt seine Jeschiwoh begründen konnte, die erste Jeschiwoh in Deutschland oder in Westeuropa. 

(Anmerkung der Schriftleitung: Der geschätzte Verfasser hat vollkommen recht. Die Fragestellung bedeutet, wenn sie in der Tatsache, dass Rabbiner Hirsch das in seiner Schule verwirklichte Erziehungsprinzip nicht auch auf die Heranbildung von Lehrern und Rabbinern übertrug, eine prinzipielle Einschränkung seiner Bildungsforderungen erblicken möchte, deren völlige Verkennung. Übrigens hat Rabbiner Hirsch in seinem „Entwurf der Statuten der Isr. Religionsgesellschaft “ zu dieser Frage in einer jeden weiteren Zweifel ausschließenden programmatischen Eindeutigkeit Stellung genommen. Daselbst heißt es: „Gleich bei der Gründung der Unterrichtsanstalt der Kehiilath Jeschurun ward es als Aufgabe erkannt und als letztes Ziel ausgesprochen, unter göttlichem Beistand diese Anstalt in der Weise auszubauen, dass sie in ihrer vollendeten Entwicklung zugleich eine Bildungsanstalt für Lehrer und Rabbiner und überhaupt eine Pflegestätte für die Pflege der Wissenschaft der Thora im allgemeinen werde, und hat daher eine zur geeigneten Zeit entsprechende Verwirklichung dieses Zweckes dem Vorstand ein angelegentliches Augenmerk zu sein.“)

Sollte aber die Fragestellung des erwähnten Verfassers eine Kritik an der sogenannten Berliner Orthodoxie bedeuten, so werden wir hier — um den Kreis des Rabbinerseminars —, die wir uns zu Hirsch bekennen, doch wohl antworten dürfen: Auch Hirsch konnte und durfte die Rabbinerbildung der berufenen Hand Rabbiner Esriel Hildesheimers[21] überlassen. Wir bestreiten nämlich, dass zwischen Hirsch und Hildesheimer ein Gegensatz weltanschaulicher Art bestanden habe, wie es ein bekanntes Referat eines hiesigen Zionistenführers darzustellen suchte, wenn es auch gewiss zwischen diesen beiden großen Männern Unterschiede im Charakter, Temperament und weltlicher Bildung gegeben hat.

Als Religionsphilosoph kam es Hirsch in erster Linie darauf an, die Jüdischkeit als Weltanschauung zu formulieren und zu verbreiten. Dagegen hatte „der alte Rebbe״ R. Esriel Hildesheimer seine Hauptlehrtätigkeit auf den Kreis von Talmudjüngern eingestellt. Beide wollten doch den jüdischen Menschen, gleich ob Laie oder Rabbiner, ertüchtigen. Den in der Thora verankerten Juden zu einem berufstüchtigen, in dem Wirtschaftsprozess schöpferisch mitarbeitenden Menschen zu erziehen, war das Ziel des von Hirsch geschaffenen Schulsystems. Rabbiner Hildesheimer schwebte das Ideal eines Rabbiners vor, der durch seine reichen talmudischen Kenntnisse einen Beitrag für die jüdische wissenschaftliche Forschung zu liefern imstande ist. Beiden gemeinsam war das Streben, die Geltung des Judentums vom Erzieherischen her zu stärken.

Und nun kommen wir auf das Thora-im-Derech-Erez“-Prinzip selbst zu sprechen: Nach Auffassung vieler ist die Bildungsfreundlichkeit Hirschs als Kompromiss an die Umwelt zu verstehen. Auch die Orthodoxie sei von der umgebenden Kultur beherrscht gewesen. Von diesem Beherrschtsein durch die Kultur der Umwelt beginne man jetzt, unter dem Zwang der neuen Verhältnisse, sich zu befreien, und so meinen sie, dass jetzt die Zeit gekommen ist, da man sich vom Thora-im-Derech-Erez“-Prinzip loslösen muss. Dagegen führte Dr. Landau in seinem Vortrag aus, dass die Beschäftigung mit der Weltkultur nicht ein notwendiges Übel, sondern aufrichtige Herzenssache bei Hirsch gewesen ist. Das Thora-im-Derech-Erez“-Prinzip verdanke seinen Ursprung nicht opportunistischen Erwägungen, sondern der tiefen Überzeugung, dass das Beste der Menschheitskultur eine glückliche Ergänzung und Bereicherung der jüdischen Gesamtpersönlichkeit bilde. Er habe fest daran geglaubt, dass die Einbeziehung der großen Menschheitswerte in den von der Thora beherrschten jüdischen Kulturkreis nur zur Vollendung und Erhöhung des jüdischen Daseins beitragen könne.

 Diese Formulierung Landaus bedarf einer Erläuterung. Wenn wir Judentum und Weltkultur bzw. Menschheitskultur gegenüberstellen, so muss sich die Frage nach der Vereinbarkeit dieser beiden heterogenen Kulturen jedem aufdrängen. Bekanntlich wird sowohl von den ganz Frommen als auch von den Liberalen der Widerspruch empfunden, und die Lösung dieses Widerspruchs wird von beiden Seiten in einer absoluten Negation gesucht: Negation der Weltkultur auf der einen Seite, Negation der jüdischen Kultur auf der anderen Seite.

Wenn Dr. Landau nun erklärt, dass nach Hirsch Judentum und Weltkultur sich durchaus vertragen können, oder, wie er sich bildlich ausdrückte, beide wie „ein Baum aus einer Wurzel wachsend und seine Zweige sich nach vielen Seiten hin entfaltend“ seien, so ist doch die Frage nach der Verträglichkeit der beiden Kulturen in einer Seele, die beide aus dem Tiefsten erleben will und sich nicht damit begnügen kann, das Wissen um beide in sich aufzuspeichern, mehr als berechtigt. Der Widerspruch wird vom echten Thora-Juden genau wie vom modernen Kulturmenschen lebendig empfunden und kann nicht durch ein Schlagwort aus der Welt geschafft werden.

Und noch eines: Bedarf das Judentum einer Ergänzung durch die Menschheitskultur, oder soll Judentum als Ergänzung zu dieser hinzutreten? Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Bejahung dieser Fragen eine Herabminderung der Thora bedeutet. Kein frommer Jude kann sich mit dem Gedanken befreunden, dass, wenn er nur viel Thora gelernt hat, er nicht als kulturell vollwertig zu gelten habe, oder dass er zur Bereicherung seiner Persönlichkeit die Kultur außerhalb der Thora suchen müsse. Nun aber findet sich in den Schriften Hirschs kein Wort, das den Gedanken zulassen könnte, dass er Judentum und Menschheitskultur als sich ergänzende Werte auffasst. Nicht einmal eine Andeutung dafür, dass Judentum eine anders geartete Kultur duldet, sondern immer wieder betont er den Gedanken, dass Judentum die Form der höchsten Menschheitskultur ist, die Kultur schlechthin, die sich doch nicht im „Ritualgesetz“ erschöpft, sondern den ganzen Menschen in seinem Gesamtgestaltungstrieb umfasst, die vom ganzen Menschen Besitz nehmen will. Die Thora will in das Zentrum der jüdischen Seele gestellt sein und die Gesamtheit der menschlichen Existenz so bestimmen, dass durch sie ein neues Leben, eine Einheit des Lebens gestiftet wird. Sie vermag alle kulturethischen Probleme, die den Menschengeist beschäftigten und noch heute beschäftigen, zu lösen. Thora ist für Hirsch die Bildungskraft, die das ganze Dasein durchdringt — Judentum bedeutet für ihn vervollkommnetes Menschentum. Das Wort „Nichts Menschliches ist mir fremd“[22] hat nach Hirsch den Sinn, dass jede menschliche Regung, jedes menschliche Tun jüdisch sein kann, vorausgesetzt, dass sie jüdisch erlebt, jüdisch getan werden. Kunst, Wissenschaft und Arbeit sollen von der Kraft der Thora durchdrungen sein.

Thora ist also nach Hirsch die formende Kraft-Form im aristotelischen Sinn als wesenhaft. Derech Erez ist nur der Raum oder richtiger der Stoff, in dem und an dem sich die Thora auszuwirken hat. Thora-im-Derech-Erez“ ist keine Einschränkung für den Begriff Thora, keine Aufforderung, die Kultur der Thora durch eine andere zu ergänzen, sondern der tiefe Glaube an die Kraft der Thora, alle Kulturinhalte nicht nur sich zu assimilieren, sondern deren dynamisches Formprinzip zu sein, sie so umgestalten zu können, dass sie Thora werden. Das Prinzip ist also, die Kraft der Thora in jeglichem Tun des Menschen, wo immer er als ein Schaffender steht, wirksam werden zu lassen. Thora-im-Derech-Erez“ bedeutet also Bewährung nach jeder Richtung.

Hirsch hat, und das ist das Neue bei ihm, die seelische Struktur des religiösen Erlebens neu geformt. Während man sonst einen gewissen Antagonismus zwischen Lebensgefühl und religiösem Gefühl empfand, — und auch mancher religiöse Jude in seiner Religion eine Befreiung oder eine Zuflucht aus einer seelischen Krisis, die durch den Ruin des Lebensgefühls entstanden war, sah — ja, sogar die Gefahr der Meinung bestand, dass ein kraftvolles religiöses Gefühl zur Auflösung und Zermürbung des Lebenswillens, der schöpferischen Freude und der Aktivität führen könne, erklärte Hirsch: Jüdische Religion ist jüdisches Leben. (Vgl. Nachlath Z ’ wi VII. 1/3 Hirsch: Von den päd. Werten usw.) Dem religiösen Juden ist seine Religion also nicht bloß ein Trost für das Leben und nicht einmal bloß eine Rechtfertigung oder Bereicherung des Lebens, sondern das von Gott in ihn gepflanzte Lebensgefühl selbst. Die Mizwaus[23] sind nach Hirsch nicht dazu da, um ihm die Lebensfreude zu ersetzen, und auch nicht, um ihm die Lebensfreude zu steigern, sondern sie sind die Funktionsäußerungen der lebendigen jüdischen Seele.

Die verbreitete Ansicht, die תּוֹרָה sei nicht bloß Religion, sondern enthielte außerdem Staatsgesetz, Familienrecht, Sozialgesetzgebung usw., ist nicht ganz zutreffend. Man müsste es präziser formulieren: Die תּוֹרָה will diese Gebiete eben als Religion umfassen. Das Wesen der jüdischen Religion besteht überhaupt darin, dass sie alles menschliche Geschehen zur Religion erhebt. Das gesellschaftliche Leben, die Familie, der Ackerbau, das ganze Erwerbsleben ist Religion und muss Religion sein, das Leben selbst ist nichts anderes als ein eigentlicher Gottesdienst. Jüdische [24]צַדִּיקִים sind nicht bloß heilige Männer, sondern sind Heroen der Heiligung des Lebens. Aus dieser Überzeugung ergibt sich Hirschs Stellungnahme zur Frage der profanen Bildung. Thora, so lehrt er uns, ist unsere eigentliche jüdische Bildung. Durch die bloße Aufnahme von Lernstoff hat man noch nicht die Thora zum Bestandteil der eigenen geistigen Substanz gemacht. Thora als jüdische Bildung ist ein Begriff, den Rabbi Jisroel Salanter[25] in Litauen und Rabbiner Hirsch in Deutschland zur Bewusstheit gebracht haben. Rabbi Jisroel Salanter und Rabbiner Hirsch haben uns, jeder auf seine Weise, den Weg gezeigt, wie man die Thora als Quelle der jüdischen Bildung für den Juden erschließen kann. Auf solche Weise wird das auch dem Juden eigene Kulturbedürfnis umgeschaffen zu eigentlicher Religiosität.

Ist es uns gelungen, das Ideal des großen Rabbiners zu verwirklichen? Dies kann gewiss nicht behauptet werden, aber aus diesem Nichtgelingen darf nicht auf das Versagen der Methode geschlossen werden. Gewiss, die Einseitigen haben es viel leichter und die bloße Negation ist viel bequemer. Aber orthodoxes Judentum ist kein Ruhebett für Denkfaule: es muss wieder von neuem versucht werden, diese Aufgabe zu lösen. Wenn wir auch die Tragik der Diskrepanz zwischen Wollen und Können nicht verkennen, so haben wir doch das Glück, in Hirsch ein Vorbild zu besitzen und einen Wegweiser. Gerade Hirsch hat die Schwere der Probleme nie verkannt, die der Orthodoxie aufgegeben sind. Was den anderen als Tragik erscheint, war ihm jedoch die unabweisliche Aufgegebenheit.

Es ist ein schwer zu lösendes Problem, aber ausweichen können nur solche, die die Verantwortung für die jüdische Zukunft, für die jüdische Jugend und für das jüdische Leben in Erez Jisroel nicht zu tragen gewillt sind und sich damit abfinden, die Orthodoxie in dem Zustand der ohnmächtigen und einflusslosen Minorität innerhalb des jüdischen Volkes zu belassen. Nach Hirsch aber ist die Orthodoxie, die als Hüterin der Thora an der Quelle jüdischen Geistes steht, berufen die Führung zu übernehmen. Die Führerlosigkeit des jüdischen Volkes in der Golah[26] war der tiefste Schmerz seines Herzens, und die verantwortungsvolle Übernahme der Führung durch die Berufenen und Legitimierten war seine große Sehnsucht. Die Einwände, dass es „unmöglich“ sei oder dass es bisher „auch so“ gegangen ist, fochten ihn nicht an, sondern befeuerten ihn, weil er die Gültigkeit und die Notwendigkeit seiner Lehre und seines Systems erkannte.

Alle, die sich zu Hirsch bekennen, sollten, statt dass sie ihn durch Umdeutungen oder Einschränkungen zur Unwirksamkeit verurteilen, lieber sein zündendes Wort, die Fackel seines Geistes ins Volk tragen. Dann werden wir bei den Juden nicht mehr fürs Judentum zu kämpfen haben. Wir werden es verwirklicht sehen!

Hirschs ganzes Leben — führte ich an einer anderen Stelle aus — war ein einziger Schrei seiner schmerzerfüllten Seele, ein Schrei, der sich in dem Dichterwort am besten wiedergibt  

הִתְנַעֲרִי מֵעָפָר קֽוּמִי. לִבְשִׁי בִּגְדֵי תִפְאַרְתֵּךְ עַמִּי

Schüttele ab von Dir den Staub, richte Dich auf, ziehe an die Kleider Deiner Schönheit, Du mein Volk!


[1] Seinem Angedenken sei zum Segen

[2] Wikipedia: Rabbi Jechiel Jaakov Weinberg (auch Yechiel Yaakov Weinberg, Yehiel Yaakov Weinberg oder Jehiel Jacob Weinberg; geboren 1. November 1884 in Ciechanowiec, Russisches Kaiserreich; gestorben 1966 in Montreux, Schweiz) war ein orthodoxer Rabbiner, Posek, Talmud-Gelehrter und Rosch-Jeschiwa (Rektor des von Rabbiner Esriel Hildesheimer etablierten Rabbinerseminars in Berlin)

[3] Wikipedia: Don Isaak ben Juda Abrabanel, auch Abravanel und Abarbanel (geb. 1437 in Lissabon; gest. 1508 in Venedig) war ein jüdischer Politiker und Finanzier im Dienste der Könige von Portugal und Kastilien, der Vizekönige von Neapel und der Dogen von Venedig. Er starb 1508 in Venedig und wurde in Padua beerdigt. Seine geistesgeschichtliche Bedeutung liegt in seiner Tätigkeit als Bibelkommentator und Philosoph.

[4] Galuth: jüd. Exil

[5] Bibelkommentatoren

[6] segnen

[7] ehrenvollen

[8] da tägliche Gottesdienste bei den Reformjuden nicht mehr stattfinden

[9] Gebetshaus

[10] Das ist die Schuld der Zionisten, die einen Judenstaat anstatt eines Gottesstaates präferierten. Siehe hierzu die Schriften von Isaac Breuer

[11] Siehe den vorherigen Artikel von Dr. M. Landau

[12] Gesetz, Gewohnheit

[13] In der Zeitschrift „Der Israelit“ erschien im Jahre 1934 in der Ausgabe 34 und 35 ein Artikel mit der Überschrift: „Das Bildungsideal S.R. Hirschs und die Gegenwart“. In diesem Artikel wurde die Zulässigkeit diskutiert, jüdischen jungen Menschen neben Thora und Talmud auch verpflichtend profane Fächer beizubringen, da Väter von der Thora verpflichtet sind, ihren Kindern einen Beruf zu lehren. Den Autor dieses Artikel habe ich nicht ermitteln können.

[14] Die Einhaltung der Schabbatgesetze

[15] Rabbiner Hirsch gründete in Frankfurt a.M. im Jahre 1853 eine Realschule für Knaben und ein Lyzeum für Mädchen.

[16] Religiöse Anhängerschaft

[17] Das irdische Diesseits

[18] Das Jenseits

[19] Religiöse Lehranstalt für junge Juden

[20] Rabbiner Salomon Breuer s“l war Schwiegersohn und Nachfolger Rabbiner Hirschs. Er gründete 1890 eine Jeschiwa in Frankfurt.

[21] s. Fußnote 34 im vorherigen Artikel

[22] Wikipedia: Homo sum, humani ni(hi)l a me alienum puto (lat.: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, denk ich, ist mir fremd.) ist ein geflügeltes Wort aus der Komödie Heauton Timorumenos (dt. „Der Selbstquäler“) des Dichters Terenz (Vers 77).

[23] Ge- und Verbote der Thora

[24] Gerechte

[25] Wikipedia: Israel Salanter (eigentlich: Israel Lipkin; geboren am 3. November 1810 in Žagarė, Russisches Kaiserreich, heute Litauen; gestorben am 2. Februar 1883 in Königsberg i. Pr.) war jüdischer Gelehrter, Talmudist, Rabbiner und Gründer der religiös-ethischen Schule Mussar. Er forderte eine intensivere Verknüpfung von Halacha und Ethik in Theorie und Alltagspraxis der Orthodoxie.

[26] Exil

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