Vom Auszug aus Ägypten und wie es danach bis heute weiterging
Eine Glosse von Michael Bleiberg
Wir haben noch den Geschmack von Mazza und Maror im Mund vom letzten Pessachfest. In der Hagada haben wir vom Auszug der, wie Rabbiner Hirsch sie zuweilen nennt, „Ziegelbrennerhorde“[1] aus Ägypten gelesen. Die 10 Plagen, mit denen Gott den Pharao maßregelte, sind uns noch in Erinnerung. So erlaube ich mir, Ihnen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten in einer anderen Version vorzustellen und wie es dann bis zum heutigen Tage weiterging.
Da für Gott 1000 Jahre so wie der gestrige Tag sind[2], sind für die Juden die etwa 210 bzw. 240 Jahre Sklaverei in Ägypten[3] so gesehen eine relativ kurze Zeitspanne. Jedenfalls erinnerte sich Gott eines Tages an sein Versprechen, das er Abraham gegeben hatte, seine Nachkommen aus der Sklaverei zu erlösen[4]. Also beauftragte er Moses und Aron dementsprechend bei Pharao vorzusprechen und ihn zu bitten: „Let my people go!“ Da dieser nicht einwilligte, verhängte Gott 10 Plagen über ihn und sein Volk.
Dabei fällt dem Bibelkundigen auf, dass die ersten neun Plagen[5] sich grundsätzlich von der zehnten Plage[6] unterscheiden. Allen neun Plagen ist gemein, dass die Juden nichts zu unternehmen brauchten, um von den Plagen verschont zu bleiben. Sie, die Juden, blieben stets passiv. Darüber hinaus erteilt die Heilige Schrift expliziert darüber Auskunft, dass Gott die Plagen 4, 5 und 9 nicht auf das Gebiet Goschen, wo die Juden wohnten, ausgedehnte.
Bei der 10. Plage, der Tötung der Erstgeborenen, war es jedoch komplett anders. Gott wollte von seinen Juden wissen, ob sie bereit wären, seinen Anordnungen, jetzt und für immer, Folge zu leisten. Deshalb befahl er: Jede Familie nehme sich am 10. Nissan, je nach Anzahl der Familienangehörigen, ein oder mehrere Lämmer. Die Lämmer können entweder von Ziegen oder Schafen sein, müssen einjährig, fehlerlos und männlich sein. Ist die Familie zu klein für ein Lamm, so schließe sie sich mit einer anderen Familie zusammen. Das Lämmchen solle 4 Tage lang bei der Familie bleiben. Gegen Abend des 14. auf den 15. Nissan, soll es geschächtet werden und sein Blut an die Pfosten und den Oberbalken des Eingangsbereiches geschmiert werden. Das Lamm soll sodann in einem Stück gegrillt werden und bis Mitternacht von den Familienangehörigen gegessen werden. – Wenn dann Gott durch Ägypten zieht um die Erstgeborenen zu töten, werden die Häuser, die das Blutzeichen am Eingang haben, überschritten (ausgelassen) werden[7].
Sofort bildeten sich unter den Juden mindestens 4 Gruppen. Die Orthodoxen, die Konservativen, die Liberalen und die Egalitären.
Die Orthodoxen sagten: „Genauso wie es Gott angeordnet hat, so wollen wir es tun“. Die anderen Gruppierungen bekamen jedoch Zweifel bezüglich dieser Anweisung.
Die Konservativen sagten: „Also im Hinblick auf unsere Kinder, können wir das so nicht genau befolgen. Denn, wenn wir das Lämmchen bei uns zuhause 4 Tage aufbewahren, werden die Kinder es füttern und streicheln. Sie werden mit ihm spielen und es liebgewinnen. Und ich als Vater soll dann am 14. abends mit dem Schächtmesser kommen und dem Lämmchen den „Garaus“ machen? Die Kinder bekommen dann ja einen Schock fürs Leben. Sie werden mich dafür hassen. Was soll ich ihnen sagen, Gott hat das so gewollt? Sie werden auch Gott dafür hassen. Nein, wenn schon ein Lamm, dann besorge ich es frühestens am 14. morgens und nicht schon 4 Tage vorher. Ich werde es verstecken, damit die Kinder es gar nicht erst sehen. Dann, wenn es keiner sieht, werde ich es schächten, die Eingangstür mit dem Blut kennzeichnen, es grillen und wir werden dann alle zusammen zu Abend essen. – Oder besser noch, ich werde zu den Orthodoxen gehen und mir von Ihnen etwas Blut ausbitten. Damit werde ich die Eingangstür bestreichen – wer wird schon den Unterschied mitbekommen. Außerdem soll man sowieso so spät abends nicht mehr so viel essen.“
Die Liberalen sagten: „Also, zum einen sind die meisten von uns Vegetarier und wir essen deshalb gar kein Fleisch. Zum anderen verträgt sich diese Vorschrift nicht mit dem Tierschutz! Bevor man ein Tier auf so grausame Art und Weise tötet, sollte es mit einem Bolzenschussgerät betäubt werden. Und dann, mit dem Blut die Eingangstür von außen beschmieren, was werden die Nachbarn von uns denken. Also diese Vorschriften sind aus der „Zopfzeit“ und bestimmt nicht mehr auf unsere heutige Zeit zu übertragen!“
Die Egalitären sagten: „Das ist mal wieder typisch…ein männliches Lamm soll es sein. Das haben sich die Rabbiner (hier: Moses und Aron) doch nur wieder ausgedacht um die männliche Nuance der jüdischen Religion in den Vordergrund zu spielen. Gott hätte so etwas nie angeordnet. Er hätte gesagt nehmt ein Lamm und fertig. Frauen an den Herd und die Männer an die Thora – diese Zeiten sind schon längst vorbei. Wir machen hier nicht mit!“
Und so kam es, als Gott in dieser Nacht durch Ägypten zog, er auch die Häuser der Konservativen, Liberalen und Egalitären nicht verschonte. Überall hatten auch Sie einen toten Erstgeborenen zu beklagen!
Am anderen Morgen, als die Ägypter die vielen Leichen überall sahen, erschraken sie sehr, denn sie wussten nicht, haben die Russen oder die Ukrainer das angerichtet?! Sie wussten aber, die Juden waren daran schuld. Und so beschlossen sie, Ägypten judenrein zu machen und warfen die Juden, und zwar alle, die Orthodoxen, die Konservativen, die Liberalen und die Egalitären, obwohl ja einige von ihnen ebenfalls Tote in den eigenen Reihen zu beklagen hatten, mir nichts dir nichts aus Ägypten[8].
Die Juden aber hatten nichts anderes zu tun, als Ägypten zu plündern[9]. Sie steckten sich die Taschen voll mit Gold, Silber und schönen Kleidern und vergaßen dabei, sich auch etwas als Wegzehrung vorzubereiten. Da keine Zeit mehr war, Brot zu backen, mussten Sie mit Mazze vorliebnehmen.
Seit dieser Zeit, kann man sagen, sind die Juden nun auf Wanderschaft. Zunächst mussten sie 40 Jahre in der Wüste umherwandern, damit aus den Orthodoxen, Konservativen, Liberalen und Egalitären ein Gottesvolk heranwachse, das bereit war, das Gotteswort zu beherzigen und zu praktizieren. Und das darüber hinaus bereit war im gelobten Land eines Tages einen Gottesstaat, nicht etwa einen Judenstaat, zu errichten.
Das gelang ihnen dann auch mit der Zeit. Immerhin zu Zeiten König Davids und König Salomons war der Gottesstaat, in dem die Menschen in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nach Gottes Wort, d.h. nach den Geboten Gottes miteinander lebten, verwirklicht worden. Von überall her kamen Menschen um im Tempel von Jerusalem dem Alleinen Gott zu opfern und anzuerkennen, dass Gott der König der Welt sei[10]. Und sie bewunderten die Juden und sagten, was für ein weises und kluges Volk doch die Juden sind[11], wir wollen auch so leben wie sie, in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Aber wie es so ist, „wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis tanzen“. Und trotz der Mahnung der vielen Propheten, teilten sich die Juden wieder mindestens in Orthodoxe, Konservative, Liberale und Egalitäre. Das war nun doch Gott zu viel – und er jagte seine Juden aus dem Heiligen Land. Sie bekamen zwar nach 70 Jahren[12], andere meinen nach 58 Jahren[13], eine zweite Chance, aber sie wussten sie nicht zu nutzen. So ließ Gott den Tempel[14] und Jerusalem ein zweites Mal zerstören und schickte seine Kinder letztendlich wieder auf Wanderschaft. Die einen gingen nach links, die anderen gingen nach rechts. So verstreute Gott sie über die ganze Erde. Die Konservativen, Liberalen und Egalitären assimilierten sich sehr schnell in den Ländern ihres jeweiligen Aufenthalts. Nur die Orthodoxen blieben als winzige, kleine Minderheit in ihren Beherbergungsländern bestehen, solange sie dort jedenfalls geduldet wurden. Sie hielten fest an dem Gotteswort, das sie in ihren kleinen Gemeinden praktizierten und träumten davon, eines Tages wieder einen Gottesstaat für alle Menschen zu errichten: Sie träumten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. So vergingen fast zweitausend Jahre.
Und dann, plötzlich im Jahre 1789 schwappte der Gedanke dieser kleinen jüdischen Minderheit über und entfachte einen Weltenbrand. Die Französische Revolution schrieb genau das auf ihre Fahnen, was die orthodoxen Juden schon immer als lebens- und erstrebenswert hielten: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Jetzt, dachten vor allem die jüngeren Juden, ist es so weit. Jetzt entsteht der langersehnte Gottesstaat. Und sie verließen ihre kleinen Gemeinden um sich dem großen Gedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen anzuschließen. Und wurden so wieder zu Konservative, Liberale und Egalitäre, denn in der Französischen Revolution spielte Gott keine Rolle. Und einen Gottesstaat ohne Gott zu errichten ist ja wohl schlecht möglich.
Anstatt sich ihre Verirrung einzugestehen, und in ihre Gemeinden zurückzukehren, assimilierte sich ein großer Teil von Ihnen und die anderen vereinigten sich zu den sogenannte Reformjuden. Wie eine Seuche verbreitete sich das Reformjudentum in Mittel- und Osteuropa. Diese Reformjuden verloren mehr und mehr den Kontakt zu Gott, weil sie sich nicht mehr an das Gotteswort und somit an das Gottesgesetz gebunden fühlten. Und das führte dazu, dass sie sich von den Orthodoxen angewidert fühlten, weil diese noch immer am Gotteswort hingen und immer noch davon träumten, von diesem Gottesreich auf Erden.
Je mehr sich die Reformer vor den Orthodoxen angewidert fühlten, umso mehr widerte sich Gott vor den Reformern. Und er beschloss, diesen Reformern ein Ende zu bereiten und den Orthodoxen gleich mit, weil sie sich nicht entschiedener gegen die Reformer zur Wehr setzten. Die Juden Europas wurden zu Sklaven erklärt und mussten Fronarbeit leisten, genau wie damals in Ägypten. 6 Millionen kamen durch Gottes Fügung um. Doch am Ende hatte Gott, wie immer, ein Nachsehen mit seinen Kindern. Und er schaffte Ihnen die Möglichkeit wieder einen Gottesstaat auf heiligem Boden zu gründen. – Doch am Ende kam dabei doch kein Gottessaat zustande, sondern nur ein Judenstaat – ein Staat halt, so wie all die anderen Staaten auch – ohne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im jüdisch-göttlichen Sinne.
p.s: Ich habe eine Gruppierung vergessen zu erwähnen, die sich innerhalb der Gruppe der Orthodoxen schon vor sehr langer Zeit gebildet hat: Die Schein-Orthodoxen. Diese Gruppe kleidet sich wie die Orthodoxen, lebt wie die Orthodoxen, spricht wie die Orthodoxen. Sie sind oft erst nach reichlicher Prüfung als Scheinorthodoxe zu erkennen. Sie lügen und betrügen sich und andere. Sie sind der Meinung, vor allem die Nichtjuden belügen und betrügen zu dürfen, da sie denken, das Gotteswort hätte nur Weisung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Eigens für diese Schwindler wurde in der Schmone Esre (18-Gebet) nach Anweisung von Rabban Gamliel in Jawne eine zusätzliche Beracha eingeführt, sodass die Schmone Esre jetzt 19 Verse hat. Diese Beracha beginnt mit וְלַמַּלְשִׁינִים אַל תְּהִי תִקְוָה – gib Verrätern keine Chance, modern übersetzt.
[1] Jeschurun, Jhrg. 3, Heft 9; Jeschurun, Jhrg. 8, Heft 7
[2] Psalm 90:4
[3] siehe hierzu: Jüd. Allgemeine, Lea Himelfarb, 02.02.2006, „Der Ewige berechnete das Ende“, https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/der-ewige-berechnete-das-ende/
[4] Genesis 19:13-14
[5] Exodus 7-10
[6] Exodus 11
[7] Exodus 12:1-20; Maftir zu Schabbat Hachodesch
[8] Exodus 12:30-31
[9] Exodus 12:35-36
[10] Könige 8:41-43
[11] Deuteronomium 4:6
[12] Jeremia 25:11
[13] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Babylonisches_Exil
[14] im Jahre 70 n.d.Z.; Mischna Traktat Taʿanit 4:6