In der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 03.07.1924 habe ich die für Kinder geschriebene Fabel gefunden.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2528698
Igel und Fuchs
Von Bero Berlinger
Heller Sonnenschein lag über den Gefilden Moabs. Auf einem Acker dicht neben einem Zedernwäldchen saß gemütlich Familie Igel, den Geburtstag des Jüngsten, des kleinen Bileam, feiernd. Der war ein niedlicher Kerl, rund, fett, immer hungrig, immer frech, immer lustig, der Stolz der Alten, die Plage der Geschwister.
Mit erlesenen Genüssen war die Tafel versehen. Es gab Feldmäuse, Regenwürmer, Frösche, Schnecken, Vögel, Blindschleichen, Ottern; Äpfel und Birnen zum Nachtisch. Vater Igel brachte auf den kleinen Bileam einen regelrechten Trinkspruch aus und wünschte ihm ein langes, gesundes Igelleben, eine gemütliche, mit Stroh und Heu gepolsterte Wohnung und erfolgreiche Jagd. Die Mutter wischte sich vor Rührung die ewig feuchte Nase, die Kinder taten desgleichen. Bileamchen aber, der Held des Tages, würgte unaufhörlich Stücke einer Otter hinunter. Schließlich sangen alle das Lied: „Freue dich, Jüngling, deiner Jugend.“[1]
Doch jäh brach der Gesang ab. Der Alte hatte einen Warnungsruf ausgestoßen und sich schnell zu einer Kugel zusammengerollt. Im Augenblicke wurde die ganze Familie kugelrund, starrte vor Stacheln und blieb bewegungslos liegen.
Ein Fuchs war gekommen.
„Ei, guten Tag! Friede mit euch! Störe ich etwa? Das sollte mir leidtun. Hm, der Tisch gedeckt, wohl Feiertag heute? Seltene Leckerbissen sehe ich. Würmer — pfui, Schnecken — pfui. Ottern — pfui! Ich begreife nicht, wie aus alledem fettes, schmackhaftes Igelfleisch wird. Darüber muss ich einmal den alten Uhu befragen.“
„Was knurrt ihr da in euren Rüssel, Herr Igel? Ich verstehe euch nicht. Ihr verkehrt in seltsamen Formen mit eurem Gaste, das muss man sagen. Nicht eines Blickes würdigt ihr ihn. Bin ich denn euer Feind? Gewiss habe ich euch zum Fressen gern, aber bis heute habe ich euch doch noch nicht gefressen. Bedenket, ein Fuchs will auch leben. Lebt ihr denn nicht, indem ihr tötet? Täglich bringt ihr Schnecken und Vögel und Würmer und Frösche um und wollt, dass man euch gutmütige Tiere nennt. Ich aber, der ich mich auf ähnliche Art ernähre, bin der böse, grausame Fuchs. Dabei habe ich ein gutes Herz. Die Tränen sitzen mir locker im Auge. Ein Freund bin ich dem Freunde.“
„Haha,“ lachte der Igel, „ihr Freundschaft! Freundschaft zwischen Hund und Katze, zwischen Moab und Midian[2]!“
„Lachet nicht,“ grollte der Fuchs, „ich weiß wahre Freundschaft zu würdigen und zu halten. Das Leben ist ernst. Ich habe auch meine Sorgen.“
„Schert euch fort“, sagte der Igel.
„Warum eigentlich so schlechter Laune, Herr Igel? Ich bin doch an einem festlichen Tage gekommen. Ja, ja, ich habe auch meine Sorgen. Die Jäger pirschen im Walde. Oh, diese moabitischen Jäger! Man ist seines Lebens nicht sicher. Wir sind überhaupt in einer schrecklichen Welt. Gäbe es keine grausamen Moabiter, wie schön wäre das Leben! Vor Tieren des Waldes fürchte ich mich nicht, der Mensch nur ist mein furchtbarer Feind. Man hat mir erzählt, dort drüben im Hebräerlande wohnten barmherzige Menschen. Dort kenne man keine Jägerei. Dort erbarme man sich des Esels, der unter seiner Last zusammenbricht[3] und binde dem Ochsen das Maul nicht zu, wenn er drischt[4]; dort füttere der Hebräer die Haustiere früh am Morgen, dann erst esse er selber.[5]“
„Schade, dass ich kein Ochse bin im Hebräerlande“, seufzte der Igel.
„Aber hier in Moab,“ fuhr der Fuchs klagend fort, „hier warten die Unmenschen nicht einmal, bis man verendet ist. Vom zuckenden Leibe noch schneiden sie sich ihre Happen[6]. Ich gehe zu den Hebräern. Dort gilt meine Art zwar als unrein die eurige übrigens auch. Herr Igel — aber das schadet nichts. Dort isst man mich nicht, dort jagt man mich nicht, dort kann ich in Ruhe meinem Berufe nachgehen und ein ehrenvolles Fuchsenalter erreichen.“
„Fuchs, da täuschst du dich,“ brummte der Igel, „man kennt auch dort, den Verderber der Weinberge[7]. Ertappt man dich auf dem Hühner- und Gänseraub, lässt dir auch der Hebräer den Knüppel um den Kopf sausen. Und mit Recht.“
„Rauben, rauben! Wer spricht von Raub und Diebstahl! Ich nicht. Denke ich des heiligen Landes, in das ich wandern will — der Gedanke schon veredelt mich. Misstraut mir nicht. Wer sich bessern will, dem helfe man. Ich will mich bessern. Wandert mit mir hinüber nach Kanaan! Ich habe mir sagen lassen, dort stimme auch der Fuchs ein in den Lobgesang zu Ehren des Schöpfers der Welt. Himmel und Erde, Paradies und Hölle, Sonne und Mond, die eilenden Wolken und zuckenden Blitze singen, Meere und Flüsse rauschen ihr Lied, in Ehrfurcht neigen sich Bäume und Sträucher und Ähren und singen dem Schöpfer; der gewaltige Leviathan lobsingt, es singen die Löwen und Bären, die Adler in den Lüften wie Skorpione und Ameise und Wiesel auf der Erde[8]. Wie schön muss es in einem solchen Lande sein!“
„Du bist ein Heuchler, ein Scheinheiliger“, sagte entrüstet der Igel. „Wer mag dir trauen? Wo du auch sein magst, du bleibst immer der Fuchs, der Schlaue, der Hinterlistige. Du dich bessern? Du schleppst deine Sünde auch ins Hebräerland hinein. Deinesgleichen sollte heiligen Boden meiden. Mit dir wandere ich nicht. Ich bin auf der Hut.“
„Ihr seid grob und unverschämt und beleidigt einen Bußfertigen. Ihr seid dumm und ungebildet. Ihr wisset nicht, dass selbst Gerechte sich nicht mit einem Büßenden messen können. Übrigens — den Igel wird man vergebens im Chor der Kreaturen suchen, die ihren Schöpfer preisen. Ihr seid dieser Gnade nicht gewürdigt worden. Ich will von euch nichts mehr wissen. So lebt denn wohl. Ich habe Eile. Immer näher kommen die Pfeilschützen. Ich bin in Gefahr.“
Der Schlaue entfernte sich einige Schritte. Da schwirrte ein Pfeil durch die Luft. „Ich bin getroffen,“ jammerte der Fuchs. „Ich sterbe. Seid barmherzig, helft mir, helft mir!“
Eilig entrollte sich die Igelfamilie. Der Jüngste war zuerst zur Stelle. „Du armer, armer Fuchs“, rief er. Doch dieser, der sich nur verstellt hatte, sprang empor und tötete den Kleinen mit einem furchtbaren Biss. Hastig verzehrte er ihn. Die Igel aber jammerten herzzerreißend und vergossen bittere Tränen.
Inzwischen kamen die Jäger immer näher. Pfeil um Pfeil durchschwirrte die Luft. Plötzlich machte der Fuchs einen Sprung und brach zusammen. Er war tot.
Langsam näherten sich die Igel. Sie sahen den toten Räuber, sie sahen das tote Igelchen. Freudiger Anblick dort, jammervoller hier.
Da sagte der Alte: „Ach, es gibt auf Erden keine reine Freude. Wie hätten wir Igel gejauchzt beim Tode des Feindes, nun ist dieser Tag zur Trauer geworden. Und mich will bedünken, daß kein Glück so erfreuen, als ein Unglück schmerzen kann.“
Am anderen Tage wollten die Igel nach dem Judäerlande pilgern. Als sie aber Füchse auf der Lauer sahen, beschlossen sie, zu bleiben, wo sie waren.
[1] Kohelet 11:9; „Freue dich, Jüngling, deiner Kindheit und sei frohen Herzens in den Tagen deiner Jugend, wandle, wohin dich dein Herz zieht, und nach dem, was deine Augen schauen, aber wisse, dass nach all diesem dich Gott ins Gericht führen wird.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[2] Dieses Beispiel hinkt: Zwischen Moab und Midian gab es weitestgehende Übereinkunft gegen die Bene Israel. Man denke bitte an Paraschat Balak.
[3] Exodus 23:5; „Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last liegen siehest, so sollst du dir nicht gestatten, es ihm zu überlassen; vielmehr alles fahren lassen und ihm beispringen.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[4] Deuteronomium 25:4; „Du sollst einem Ochsen nicht den Mund schließen, wenn er drischt. (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)“
[5] ein Gebot der Thora nach „Magen Avraham 271:12“
[6] Eine große Sünde. Es ist dem Menschen nach Genesis 9:4 (Jedoch Fleisch, dessen Blut noch in seiner Seele ist, sollt ihr nicht essen) verboten, Fleisch aus dem lebenden Tier herauszuschneiden, um es zu essen.
[7] Hohelied 2:15; “Fangt Füchse, die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben, da unsere Weinberge blühen.“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[8] Alles Anspielungen auf Psalmen; die erwähnten Tiere sind alle im Alten Testament erwähnt.