„Entschuldigung, wo bitte geht es hier zum Paradies?!“

Von Michael Bleiberg

In der Bibel wird das Paradies als גן עדן (Gan Eden) bezeichnet. Gan bedeutet Garten und leitet sich nach Rabbiner Hirsch von גנן ab und bedeutet „schützen“; wie auch im Englischen sich Garten, also garden, von to gard, überwachen im Sinne von schützen herleiten lässt. עדן bedeutet Wonne, großes Lustgefühl (Siehe Hirschs Kommentar zu Bereschit Seite 68, 69). Das Paradies, der Gan Eden, ist also ein für den Menschen von Gott geschaffener „Schutzraum zur Lustgewinnung“.

Dieser „Schutzraum“ ist nach Rabbiner Hirsch von Gott hier auf Erden geschaffen worden und somit irdisch! Seine Örtlichkeit ist in Genesis 2, 10 bis 15 genau beschrieben. Aus dem Thoratext ist nicht ersichtlich, so Rabbiner Hirsch, dass dieser Garten, je der Erde entrückt wurde, und dass der Zugang zu ihm, erst nach dem Ableben des Menschen möglich wäre.

Der erste Mensch, Adam, wurde in diesen Garten „gesetzt“, woraus nach Rabbiner Hirsch zu entnehmen ist, dass sein eigentlicher „Herstellungsplatz“ außerhalb dieses Gartens gelegen sein müsste.  Der Mensch, der in diesem Garten „gesetzt“ wurde, hatte von Anfang an Gebote und Verbote bezüglich seiner Aufgaben in diesen Garten zu erfüllen. Einerseits hatte er ihn zu pflegen und andererseits war es ihm verboten von bestimmten Früchten, die in diesem Garten wuchsen, zu essen.

Der Mensch war dieser Aufgabe, wie wir weiter aus der Heiligen Schrift entnehmen, nicht gewachsen und wurde aus dem Paradies vertrieben. Am Eingang des Paradieses stellte Gott zwei Engelswächter (Cherubin) mit flammenden, kreisenden Schwertern auf (Genesis, 2.24). Viele Exegeten gehen davon aus, dass diese Cherubin den Eingang zum Paradies bewachen, damit es dem Menschen nicht vergönnt sei, zu Lebzeiten, zu diesem zurückzukehren. – Nicht so Rabbiner Hirsch! Für ihn stehen die Cherubin am Eingang des Paradieses mit den flammenden Schwertern wie mit Fackeln in der Hand, um den Menschen den Weg zurück ins Paradies zu leuchten. Sie rufen: „Hier ist das Paradies, hier ist das Paradies“ (siehe Hirschs Kommentar zu Bereschit, S.102 ff). Gott schuf den Menschen in seinem Ebenbilde. Daraus folgt, da Er, Gott, קדוש = heilig ist, soll der Mensch ebenfalls קדוש sein, damit er, der Mensch, in dem ihm zur Verfügung gestellten „Schutzraum“, dem Paradies, zusammen mit Gott wandele.

Rabbiner Hirsch definiert קדושה wie folgt:“ קדושה, das absolute Bereitsein für alles Gute setzt eine solche Durchsittlichung des ganzen Wesens voraus, dass dessen Gegensatz, die Hinneigung zum Schlechten, keine Stätte mehr darin habe“ (Kommentar zu Vajikra, S.482).

Vielleicht hat der eine oder andere schon einmal das Glücksgefühl bemerkt, wenn sich die Tür des Paradieses für ihn persönlich einen kleinen Spalt geöffnet hat und der göttliche Strahl, der von diesem Paradies ausgeht, ihn für einen Moment erreichte. Vielleicht beim ersten Kuss, der ersten „großen Liebe“, vielleicht bei der Geburt seines Kindes oder nach wundersamer Heilung nach einer schweren Krankheit. Vielleicht wenn er einen guten Freund nach langer Zeit wieder traf, den er eigentlich schon längst vergessen hatte. Es gibt im Leben eines Menschen oft diese Glücksmomente – schreiben wir sie doch einfach dem geöffneten Türspalt des Paradieses zu. Dann wäre es doch wahrhaftig sinnvoll zu versuchen, einen Fuß in diese Tür zu bekommen, damit sie nicht wieder zufällt oder sogar besser, um sie weiter aufzubekommen.

Im Laufe der Jahrtausende hat sich die Menschheit immer weiter vom Paradies entfernt. Doch die Hoffnung Gottes ist geblieben, der Mensch möge eines Tages den Weg dorthin zurückfinden. Zu diesem Zweck, hat sich Gott ein Volk unter den Völkern auserkoren, dass er durch Hinzufügung von diversen Vorschriften (u.a. div. Sittengesetze) in die Lage versetzt haben möchte, ein heiliges Volk zu werden, um den anderen Völkern voranzuschreiten auf dem Weg zum Paradies – in der Hoffnung, alle anderen Völker werden diesem Volk dorthin nachfolgen.

Von Abraham brauchte es 400 Jahre, bis seine Nachkommen das ägyptische Sklavenhaus verlassen durften, um ihrer Bestimmung als Vorboten zur Rückkehr ins Paradies den Völkern voranzuschreiten. 40 Jahre Wanderung durch eine Wüste benötigte Moses um ihnen die göttlichen Gesetze, in Form von 613 Ge- und Verboten einzuschärfen. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die jüdische Geschichte, dass, wenn sie dieser ihnen gestellten Aufgabe, der Einhaltung dieser Gesetze nachkamen, ihnen Frieden und Glückseligkeit zuteilwurden und wenn nicht, Krieg und Ausrottung drohten.

Leider hat dieses, von Gott auserkorene Volk es nicht geschafft, dem Paradies auf Erden dauerhaft ein Stück näher zu kommen. Man ist geneigt festzustellen, die gestellte Volksaufgabe für gescheitert zu erklären. Nach nunmehr 5781 Jahren, stehen die Cherubin immer noch am Eingang mit ihren Fackeln und rufen der Menschheit entgegen: „Hier ist das Paradies! Hier ist das Paradies!“ Wollen wir uns also geschlagen geben und den Versuch, den Weg zum Paradies zu finden, aufgeben?! – Meine Antwort lautet entschieden: NEIN!

Vielleicht sind neue Überlegungen von Nöten. – Es war ein einzelner Mensch, Adam, den Gott in seinen Garten „setze“. Nicht eine Gruppe von Menschen und schon gar nicht ein ganzes Volk. Vielleicht ist die Hoffnung eines Einzelnen, einen Platz im Paradies zu erhalten, so zu überdenken, dass er, der einzelne Mensch, sich gottwürdig erweise, wie einst Abraham, dass Gott so auf ihn aufmerksam werde um ihn, wie einst Adam ins Paradies aufnehme.

In seiner Widerschrift „Jüdische Anmerkungen zu den Bemerkungen eines Protestanten“ aus dem Jahre 1841 (Seite 17 u. 18) scheibt Rabbiner Hirsch (leicht verändert vom Verfasser): „Denn eben an diesem jüdischen Volke und durch dieses Volk will ja der ewige Vater und Erzieher der Menschheit offenbaren, dass er nicht nur der Himmelhohe sondern auch der Erdennahe Gott sei, dass Er allein mit seiner ewigen Liebe und seinem ewigen Recht die Geschicke der Völker lenke und die Weihe und Vergöttlichung des ganzen Menschen- und Völkerlebens in allen seinen Beziehungen durch seinen Geist, als höchstes Ziel (Höheziel) der Menschheitsentwicklung stelle, dass Menschen und Völker keine andere Bestimmung auf Erden haben als, in allen und mit allen Seiten ihrer Lebensentwicklung Gottesdiener zu sein, und nur als solche auch die Ruhe und den Frieden und die Glückseligkeit finden werden, die sie vergebens auf jedem anderen Wege dauernd suchen.“

Mit anderen Worten, Gottesdiener erhalten den Zutritt zum Paradies!

Wie aber wird man ein Gottesdiener?

Sei einfach ein guter Mensch!

 

Berlin, 28.04.2021 – 16.Ijar 5781

 

„Jüdische Anmerkungen zu den Bemerkungen eines Protestanten“ im Original
Quelle http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/260460

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