Von Dr. Isaac Breuer.

In der Orthodox-Jüdischen Welt am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwei rivalisierende jüdische Weltorganisationen. Zum einen die von Theodor Herzl und Max Nordau 1897 gegründete WZO – World Zionist Organization – und zum anderen die 1912 in Kattowitz gegründete AIWO – Agudath Israel World Organization – in der von deutscher Seite die Familie Breuer, Rabbiner Salomon Breuer war Nachfolger von Rabbiner Hirsch in der Austrittsgemeinde in Frankfurt am Main,  eine herausragende Rolle spielte. Vor allem Isaac Breuer (1883 – 1946) war ein führendes Mitglied dieser Organisation. Beide Organisationen hatten das Ziel der Kolonisation Palästinas. Während die WZO sich als eine säkuläre jüdisch-politische Organisation verstand, bestand die AIWO ausschließlich aus orthodox-jüdischen Mitgliedern. Neben der Besiedlung Palästinas hatte sie sich zur Aufgabe gemacht, die Gegensätze innerhalb der europäisch-jüdischen Bevölkerung zu reduzieren. Die Gegensätze zwischen Misnagdim, Chassidim und Deutschorthodoxen sollte aufgehoben werden.

Obwohl Rabbiner S. R. Hirsch s“l bereits im Jahre 1888 verstarb und die Gründung dieser Organisationen nicht erlebte, gab es bereits vor und zu seinen Lebzeiten diverse Einwanderungswellen nach Palästina. Wikipedia: „Im Jahr 1700 ließ sich eine Gruppe von 1500 europäischen Juden unter der Führung von Rabbi Jehuda HeChassid in Jerusalem nieder. Sie errichteten die Hurva-Synagoge. Ende des 18. Jahrhunderts begann bis ins frühe 19. Jahrhundert die Einwanderung der Chassidim. Die erste organisierte chassidische Einwanderung fand 1764 statt und wurde von Schülern des Ba’al Schem Tow, des Begründers des Chassidismus, angeführt. Sie siedelten sich in Tiberias, Safed, Hebron und Jerusalem an und begründeten die Tradition der vier Heiligen Städte des Judentums. 1808 organisierten auch die Peruschim, die Schüler des Gaon von Wilna, eines Gegners des Chassidismus, eine Alija und begründeten eine Gemeinde in Jerusalem. 1830 begann eine Einwanderungswelle aus Deutschland, den Niederlanden und Ungarn.“ Es waren bis dato immer orthodoxe Juden, die mit der Thora in der Hand zurück den Weg ins gelobte Land fanden. 1860 lebten etwa 12.000 Juden in Palästina. So wird klar, dass auch Rabbiner Hirsch s“l sich mit dem Thema „Alija“ beschäftigte.

Den nachfolgenden Aufsatz von Isaac Breuer, einem Enkel Rabbiner Hirschs, habe ich der Monatsschrift „Nachalat Z´wi“ entnommen. Er wurde im Juni 1934 veröffentlicht.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:

https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2553061

Mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt der Vorstand der Rabbiner Hirsch-Gesellschaft die Aktion Isaac Breuers, die ihn nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Lande veranlasst hat, aus seiner lang geübten Zurückhaltung herauszutreten, in zahlreichen Städten öffentlich zu sprechen und sich mit flammenden Weckrufen an alle Kreise des jüdischen Volkes zu wenden, die für den Wert des überlieferten jüdischen Kulturguts noch Sinn und Verständnis besitzen. In unserer Zeitschrift ist die Rede zum ersten Mal erschienen, mit der Isaac Breuer seine Aktion begonnen hat. Inzwischen ist diese Rede in vielen Tausenden von Exemplaren durch die Agudistische Palästina-Zentrale verbreitet worden, haben Tausende von Menschen Isaac Breuers lebendiges Wort vernommen, Orthodoxe, Zionisten, Liberale, mit leidenschaftlicher Zustimmung, in leidenschaftlicher Abwehr, stets aber voll starker innerlicher Teilnahme, und haben auch die gegnerischen Zeitungen das Ihre dazu beigetragen, um die Aktion allmählich zu einer Bewegung zu entwickeln. Zahlreiche Zuschriften aus den Reihen unserer Mitglieder und Leser veranlassten uns, unseren verehrten Mitarbeiter zu ersuchen, die grundlegende Ideologie der von ihm inaugurierten Bewegung in folgendem niederzulegen.

Die Schriftleitung.

I.

Jeder Bewegung liegt eine Idee zugrunde, die den unmittelbaren Zwang zur Tat in sich birgt. Die Idee der neuen Bewegung ist die Rückkehr des jüdischen Volkes in die Geschichte.

Das jüdische Volk ist eine geschichtliche Erscheinung. Bis zum Untergang des jüdischen Staates und dem Verlust einer jüdischen Zentrale besaß das jüdische Volk auch geschichtliche Handlungsfähigkeit. Alsdann trat seine Zerstreuung über die ganze Erde ein, und es bewährte sich seine Selbstbehauptung trotz der Zerstreuung. Zerstreuung und Selbstbehauptung sind geschichtliche Tatsachen von unerhörter, zudem geweissagter Einzigartigkeit, aber nur Zeugnisse der unverwüstlichen Fähigkeit zur duldenden Hinnahme geschichtlichen Leids, nicht aber Zeugnisse wirklicher geschichtlicher Handlungsfähigkeit. Eher könnte noch die Entwicklung und Rezeption des Schulchan Aruch[1], eines der merkwürdigsten geschichtlichen Wunder, als ein solches Zeugnis gewertet werden. Immerhin ist die Rezeption des Schulchan Aruch nicht durch einen einmaligen, zeitlich nachweisbaren Willensakt erfolgt. Auch leistet er, in charakteristischem Gegensatz zum Werk des Rambam[2], Verzicht auf die systematische Darstellung derjenigen Rechtsinstitute, deren Erfüllung von der Verwirklichung unserer nationalen Zukunft abhängt.

Diese nationale Zukunft war in den vergangenen Jahrhunderten wesentlich Mittel unserer inneren Ausrichtung, Gegenstand unseres intensiven Lernens, Ziel unserer innigen Sehnsucht: Ruf zur nationalen Tat war sie nicht. Wir wussten, dass zwischen uns und unserer nationalen Zukunft Wege der Gewalt nicht liegen, und andere Wege gab es nicht. So schwanden die Zeiten und deckten die grauenvollen Risse unseres Galuth mit dem Kleide der — Gewohnheit. Wir trugen das Leid unseres Galuth und setzten ihm die ganze individuelle Frömmigkeit unseres Herzens, die ganze, am Lernen gewonnene Klarheit unseres Geistes entgegen, und hofften und warteten. Nur manchen unter uns barst das Kleid der Gewohnheit und steigerte sich das Weh der Ferne von Gottes Land, das Weh der Entbehrung sühnender Korbanoth[3], das Weh der Verstümmeltheit der Thora, bestimmt, mit ihren ans Land gebundenen Institutionen ein volles nationales Dasein zu regeln, bis zur Aktualität eines unmittelbaren Erlebnisses, das sie dazu trieb, unter unsäglichen Gefahren und Entbehrungen die Tränen dieses Wehs ins Land des Wehs zu tragen.

Dann kam die Zeit der Judenemanzipation, des neuen Antisemitismus, des Zionismus, des Weltkriegs, der Balfour-Deklaration, des Gola-Elends[4] und des Palästina-Aufschwungs. Ich sehe in all diesen, das jüdische Volk bis in seine tiefsten Tiefen erschütternden Ereignissen rückblickend und vorblickend einen einzigen großen Ruf Gottes an sein Volk zur Rückkehr in die eigene Geschichte: zur höchsten Aktualisierung des Bewusstseins des Chorban[5] und, vor allem, des Gefühls für den Chorban, zur Konzentration des Gesamtbewusstseins und des Gesamtgefühls auf die uns verheißene nationale Zukunft, zur höchsten Steigerung der tatenwilligen Treue zu Gott und seiner Thora in der ganzen Diaspora und zur höchsten, zur opferfreudigsten Anstrengung des thoratreuen Volkes und aller seiner Glieder, dass der neue Weg, den die Gesamtheit der geschichtlichen Ereignisse, vor allem die Balfour-Deklaration, verbunden mit den unermesslichen Fortschritten der Technik, zwischen uns und unsere nationale Zukunft gelegt haben, nicht zu dem grauenvollen Chillu‘l Haschem[6], eines thoraentfremdeten Nationalheimes in Palästina, sondern zu dem von allen Propheten der Verheißung gesegneten Kiddusch-Ha-Schem[7] eines nationalen Thoraheims in Gottes Land führe. In diesem Sinne verstehe ich unter der Rückkehr des jüdischen Volks in seine Geschichte die tiefst bewusste und tiefst gefühlte Verknüpfung seines Gegenwarterlebens mit seiner entschwundenen nationalen Vergangenheit und seiner verheißenen nationalen Zukunft.

II.

Die Verknüpfung unseres Gegenwarterlebens mit unserer entschwundenen nationalen Vergangenheit und unserer verheißenen nationalen Zukunft: dieser Satz stellt die kürzeste und zutreffendste Zusammenfassung der Lebensleistung der großen Persönlichkeit dar, mit deren Namen sich die Rabbiner Hirsch-Gesellschaft geschmückt hat.

Wer da glaubt, in Rabbiner Hirsch einen Verherrlicher deutschen Kulturguts, in dem jüdischen Menschen, den er formen wollte, eine Abart deutschen Wesens erblicken zu sollen, wer sich vermisst, Rabbiner Hirsch in überheblichem Magisterton, wie er dem „Volk des Landes“ meist eignet, darüber belehren zu dürfen, dass unter [8] דֶּרֶךְ אֶרֶץ anderes zu verstehen sei, als Rabbiner Hirsch angeblich daraus geschöpft habe, dürfte die eigentliche Absicht dieses Thorafürsten, in einem wahrhaft grandiosen Schrifttum niedergelegt und in einer folgenreichen Praxis betätigt, niemals verstanden haben.

Die völlige Negation der sozialen Judenemanzipation[9] auf der einen Seite, ihre hemmungslose Bejahung auf der anderen, hatten den westeuropäischen Flügel des jüdischen Volks bis dicht an den Abgrund geführt. Negation wie Bejahung sahen das Wesen der Erscheinungen, die in ihrer Verbundenheit eben die Epoche der sozialen Judenemanzipation heraufzuführen bestimmt waren, nur in seiner Wirkung auf die damalige Gegenwart: so schreckte die Negation vor ihren unmittelbar hervortretenden Gefahren für die Thoratreue zurück; so fühlte sich die Bejahung von ihren sofort wirksamen bürgerlichen Vorteilen in einen wahren Taumel der Freude versetzt. Negation wie Bejahung waren außerstande, in der sozialen Emanzipation eine von Zustimmung oder Ablehnung gar nicht mehr abhängige, weil von der Vorsehung gestellte geschichtliche Aufgabe zu erkennen.

Gerade diese Erkenntnis aber bildet den dauernden Gehalt der Lebensleistung Rabbiner Hirschs. Nicht vom Standpunkt vergänglicher und in sich blinder Gegenwart hat er bejaht oder verneint, mit Riesenkraft hat er vielmehr, zunächst in seinem eigenen Innern, die Hemmnisse niedergerungen, die seine jüdische Gegenwart von ihrer gesamten nationalen Vergangenheit und ihrer verheißenen nationalen Zukunft trennten, hat die soziale Emanzipation zwischen diese Vergangenheit und diese Zukunft gestellt, an solchem Doppelmaßstab ihre geschichtliche Bedeutung gemessen und sie als Aufgabe Gottes verkündet, aus der Jahrhunderte langen Passivität des Galuth in die Aktivität des Galuth zu treten und die Weltgeltung der Thora auf dem neu eröffneten Weg zu erproben, der ihre Träger in die mannigfachsten Beziehungen zu den Völkern brachte. Diese Weltgeltung der Thora, ihre huldigende Anerkennung seitens der Völker, ihnen entlockt durch das wahrhaft vorbildliche, Gott öffentlich heiligende Leben ihrer Träger: die Thora selber, die Propheten und fast jede Zeile der Psalmen fordern sie als wesentliche geschichtliche Bestimmung der jüdischen Nation, und nicht etwa Verherrlichung deutschen Kulturguts, und erst recht nicht assimilatorische Tendenz, sondern geniale Anknüpfung an unsere große nationale Vergangenheit und unsere große nationale Zukunft haben Rabbiner Hirsch den Hellblick verliehen, die Aufgabe der sozialen Emanzipation, richtig gelöst, als die große geschichtliche Wende zum verheißenen Ende des Galuth zu werten.

Dies ist die geschichtliche Grundhaltung Rabbiner Hirschs. Sie beherrscht seine großen Werke, seine Erziehungsmaximen und seine Erziehungsveranstaltungen, sie beherrscht namentlich seine —„Politik“. Während seine Gegner in der Frage der Unabhängigkeit der Thoraorganisationen durchaus zeitgebunden waren, betrachtete er sie völlig im Hinblick auf unsere nationale Zukunft. Ihm stand sofort die öffentlich-rechtliche Geltung der Thora auf dem Spiel, und wer sie antastete, galt ihm als ein מְעַכֵּב הַגְּאוּלָּה [10]

Noch führte freilich der im Zeitalter Rabbiner Hirschs, im Zeitalter der sozialen Emanzipation, mitten im Galuth neu eröffnete Weg zunächst nur ins „Land“ schlechthin, ins Land des jeweiligen Aufenthalts der weltzerstreuten Träger der Thora. Dieser Weg aber, an dessen Ende die leichtfertigen Be- jaher der sozialen Emanzipation die Selbstauflösung der jüdischen Nation winken sahen, war für Rabbiner Hirsch in rein historischer Schau, geleitet von seiner Devise, dass die Thora die souveräne Führerin jedes Schrittes ins „Land“[11] sein müsse, ganz im Gegenteil die Erprobung nationaler Einfühlungskraft, nationaler Widerstandskraft, nationaler Aufnahmekraft und nationaler Abstoßungskraft, kurz: die Bewährung jenes [12] עֹז der Thora, den Gott seinem Volk verleihen wollte, um es mit Harmonie zu segnen, jenes עֹז der Thora, den es im eigenen Land doppelt nötig haben wird, da keine geistigen Zollschranken es vor den Strömungen der Umwelt zu schützen vermögen, und von dem Impuls der Wirtschaft und dem Impuls des Nationalismus erhöhte Gefahr droht. Ganz gewiss konnte die Thora als Führerin auf dem Weg ins Land des Wirtsvolkes nicht die nationale Flagge hissen, denn nicht die Nation, sondern die Menschen sollten damals der Emanzipation teilhaftig werden; aber für Rabbiner Hirsch bedeutete die Annahme der Emanzipation des jüdischen Menschen keine Verleugnung der jüdischen Nation. Er schöpfte die Idee der jüdischen Nation nicht aus dem Kulturschatz Westeuropas, sondern aus der Thora, und wie ihm diese Idee demgemäß nur die Vollendung der Idee des Menschentums war, so war ihm die lediglich soziale Emanzipation eine durchaus redliche Beziehung zum Wirtsvolk, weil sich in ihr der nationale Charakter der neuen Bürger als ein besonders qualifiziertes Menschentum nach außen offenbaren und behaupten konnte. Ja, dass die soziale Emanzipation das jüdische Volk bei Eröffnung der Aktivität des Galuth gerade auf das besondere, das menschheitliche, das menschenverknüpfende Wesen der Idee der jüdischen Nation hinwies und nur vermöge dieses besonderen Wesens seine bürgerlich emanzipierten Söhne instand setzte, bei aller nationalen Selbstbehauptung die Pflichten mit hohem Ernst und in hoher Gewissenhaftigkeit zu übernehmen, die die Annahme der Emanzipation ihnen auferlegte: gerade dieser nunmehr zu bewährende menschheitliche Charakter des jüdischen Nationalismus war Rabbiner Hirsch das sicherste Anzeichen dafür, dass die Geschichte seines Volkes in seine letzte, in seine entscheidende Phase eintrat. Bestand das jüdische Volk die Probe der sozialen Emanzipation, so war es auch für die nationale Emanzipation reif.[13]

Ein Blick in den großen Thorakommentar Rabbiner Hirschs bestätigt vollkommen diese unsere Auffassung von seiner geschichtlichen Grundhaltung. Die Rechtsinstitute der Thora werden als höchst aktuelles geltendes Recht der jüdischen Nation dargestellt, und darum stets in innigstem Zusammenhang mit der mündlichen Überlieferung und der aus ihr entspringenden Halacha[14]. Mit besonderer Vorliebe verweilt der Kommentar gerade bei jenen Instituten, deren Verwirklichung ganz und gar von der Erfüllung unserer verheißenen Zukunft abhängt: bei dem Recht des Korban[15], dem Recht des Heiligtums, dem Recht der Reinheit, dem Recht des Bodens. Es ist nicht schwer, anhand des Kommentars die Grundprinzipien des jüdischen Sozialrechts und des jüdischen Staatsrechts aufzustellen, die als Basis eines Programms für die agudistische Bewegung in Erez Jißroel[16] dienen könnten.

Leider haben selbst große Teile der deutsch-jüdischen Orthodoxie, meist ihnen selber unbewusst, allmählich sich daran gewöhnt, die Lebensleistung Rabbiner Hirschs durch die Brille des — Zionismus zu sehen[17]. Weil zwischen dem Nationalismus Rabbiner Hirschs und dem europäischen Nationalismus des Zionismus ein tiefer Abgrund gähnt, und weil es zunächst die soziale Emanzipation war, mit der sich Rabbiner Hirsch auseinanderzusetzen hatte, diese aber vom Standpunkt des Zionismus, und nur von ihm, als ein geschichtlicher Irrtum erscheint, hat man vielfach, selbst in orthodoxen Kreisen, das Verständnis dafür verloren, dass Rabbiner Hirsch nur aus dem mit wahrhaft genialer Kraft wiedergewonnenen unmittelbaren Anschluss an unsere nationale Vergangenheit und unsere nationale Zukunft, ganz und gar also im jüdischen Nationalismus, freilich nicht im zionistischen, wurzelnd, die soziale Emanzipation als den Weckruf Gottes zur aktiven Fortsetzung der jüdischen Geschichte zu durchschauen vermochte, berufen und bestimmt, die herrschende Thora über die Länder schlechthin — תּוֹרָה עִם דֶּרֶךְ אֶרֶץ — schließlich ins Land der Thora zu bringen. Statt mit dem Zionismus in Rabbiner Hirsch den „Verherrlicher deutschen Kulturguts“ zu erblicken, sollte die deutsch-jüdische Orthodoxie endlich lernen, ihm als dem großen Wegweiser des Nationalismus der Thora zu folgen, von der Vorsehung uns gesandt, um mit ihm den Zionismus[18] geistig zu überwinden.

Ein sicheres Kennzeichen der Geschichtlichkeit einer Lebensleistung ist ihre geschichtliche Entwicklungsfähigkeit. Die Aufgabe der sozialen Emanzipation ist noch lange nicht gelöst oder gar überholt. Unvergleichlich ist der Leichtsinn, mit dem der Zionismus sich über die Tatsache hinwegsetzt, dass einstweilen Millionen Juden bei ihren Wirtsvölkern zu verbleiben haben. Die Aufgabe der nationalen Emanzipation, die wir in unserem Zeitalter in Erez Jißroel zu lösen haben, und die Rückwirkung dieser Aufgabe auf die Beziehung der jüdischen Millionen der Golah zu ihren Wirtsvölkern, hebt nicht etwa die Aufgabe der sozialen Emanzipation auf, schließt sie vielmehr ganz und gar in sich ein. Und weil eben Rabbiner Hirsch schon zur Lösung der Aufgabe der sozialen Emanzipation in einzigartigem historischem Tiefblick die Totalität des Judentums mobilisierte und in seinem unvergänglichen Kommentar die ideale Einheit von Land, Volk und Thora zur Darstellung brachte, konnte ein Schüler Rabbiner Hirschs, seine ganze Stärke aus den Ideen seines Lehrers schöpfend, seit zwei Jahrzehnten den Nationalismus der Thora fordern und nunmehr eine Bewegung einleiten, deren eigentlicher Sinn die bereits von Rabbiner Hirsch inaugurierte Rückkehr des jüdischen Volkes in die Geschichte bildet.

III.

Der jüdische Weg ins Land der Völker ist in Wahrheit der jüdische Weg ins Land der Väter. In dieser Erkenntnis des Thedaismus[19] gelangt die völlige Verbundenheit des sozialen und des nationalen Problems, die völlige Verbundenheit Erez Jisroels und der Golah zu prägnantestem Ausdruck.

Zu Unrecht glaubt man vielfach, dass für Rabbiner Hirsch die Aufgabe der sozialen Emanzipation wesentlich nur — Bildungsfrage gewesen sei. Er wollte Menschen formen, die mit der Thora und durch die Thora, im neuen Lebensraum, den die soziale Emanzipation bot, sich bewähren konnten. Was ihm hierbei an „Weltlichem“ erforderlich schien, das hat er im Lehrplan des Chaurew[20], den freilich seine Kritiker und Gegner meist nicht kennen, frei von den Verfügungen der preußischen Regierung, die seine Schule in Frankfurt in solch hohem Maße beeinflussten, für alle Zeiten niedergelegt.

Der Thedaismus nimmt die richtig verstandene Devise Rabbiner Hirschs in sich auf. Er will Menschen formen, die im neuen Lebensraum unseres Landes[21], seelisch ganz im Beth Hamidrasch[22] wurzeln, sich als Träger der auch Wirtschaft und Politik beherrschenden Thora bewähren. Er will Menschen formen, die im Lebensraum, den ihnen die Wirtsvölker gönnen, den Namen Gottes heiligen, indem sie, geleitet vom Nationalismus der Thora, in vorbildlichem Leben die Brücke zu den Herzen ihrer Wirte schlagen, zugleich aber, wiederum geleitet vom Nationalismus der Thora, das Auge auf den neuen Weg gerichtet halten, den Gott zwischen uns und unser Land gebahnt hat, und mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Vermögen sich und ihre Kinder in den Dienst der gewaltigen Aufgabe stellen, die unserem Zeitalter sein charakteristisches Gepräge verleiht: durch Errichtung eines Nationalheims der Thora in Erez Jisroel die Erfüllung unserer nationalen Verheißung vorzubereiten.

Rückkehr in die Geschichte: das bedeutet das tief innerste Erleben, dass unser ganzes Golus nur ein Weg ist zur Rückkehr in Gottes Land, bedeutet das tief innerste Erleben, dass in unseren Tagen dieser Weg sichtbarer geworden ist, als je seit Beginn unseres Golus, bedeutet den aus solchem Erleben hervorquellenden unerschütterbaren Entschluss, Sinn und Wert des Daseins an dem Beitrag zu messen, den man durch immer mehr gesteigerte persönliche Gesetzestreue, durch immer inniger gestalteten Anschluss an die thoratreue Gemeinschaft, durch immer wirkungsvoller vollzogene Erweckung und Heranziehung Gleichgesinnter, durch immer warmherziger hingegebene Opfer an Zeit, Geld und Arbeit für den Fortschritt auf dem Wege zur Rückkehr in Gottes Land geleistet hat.

Noch steht die Bewegung erst am Anfang. Es wird viel Geduld nötig sein. Aber wenn auch das thoratreue jüdische Volk noch schläft, sein Herz ist dennoch wach. Suchen wir den Zugang zu seinem Herzen.


[1] Wikipedia: Als Schulchan Aruch (hebräisch שולחן ערוך „gedeckter Tisch“) wird die im 16. Jahrhundert von Josef Karo verfasste und im Folgenden von mehreren Rabbinergenerationen überarbeitete autoritative Zusammenfassung religiöser Vorschriften (Halachot) des Judentums bezeichnet. Mit dem Titel „Schulchan Aruch“ wird sowohl Karos Kompendium bezeichnet als auch der Text mit Hinzufügungen, insbesondere den Glossen des Krakauer Rabbiners Moses Isserles (gest. 1572). (Dabei wird Karo traditionell als der מְחַבֵּר Mechaber (Autor) und Isserles als der רמ”א Rema bezeichnet, ein Akronym des Namens Rabbi Moshe Isserles.)

[2] Wikipedia: “Moses Maimonides (hebräisch משה בן מימון Mosche ben Maimon; geboren zwischen 1135 und 1138[1] in Córdoba; gestorben am 13. Dezember 1204 in Kairo) war ein andalusischer jüdischer Philosoph, Rechtsgelehrter, Theologe und Arzt, der vor allem in al-Andalus und Ägypten wirkte. Für Jahrzehnte war er das geistige Haupt der Sephardim. Er gilt als bedeutender Gelehrter des Mittelalters.“ Das Werk auf das I. Breuer hier sich bezieht heißt „Mishne Thora“. Eine Sammlung jüdischer Gesetze.

[3] Tempelopfer, Opferrituale

[4] Das schwierige Leben der Juden im Exil (außerhalb Israels)

[5] Der Aufopferung

[6] Gotteslästerung

[7] Gottesheiligung

[8] Hier: das von Rabbiner S.R. Hirsch ins Leben gerufene Schulsystem zur Erziehung der jüdischen Jugend.

[9] Wikipedia: “Als jüdische Emanzipation wird der Weg der Juden vom Rand in die Mitte der Gesellschaft bezeichnet. In der christlichen Mehrheitsgesellschaft waren sie eine rechtlich, religiös und sozial diskriminierte Minderheit. Ihre Eingliederung begann mit der Haskala, einer Bewegung, die in den 1770er und 1780er Jahren in Berlin und Königsberg entstand, und führte im Laufe der Aufklärung schließlich auch zur Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger.

Der Begriff „Juden-Emanzipation“ taucht ab 1817 auf. Bis dahin wurde die Thematik als „bürgerliche Verbesserung“, „Naturalisation“ oder „Gleichstellung“ der Juden beschrieben.“ Mit der Judenemanzipation teilte sich die Judenheit in Orthodox und Nicht-Orthodox.

[10] Verhinderer der Erlösung aus dem Exil

[11] Ins Land der Verheißung

[12] Macht

[13] Mit anderen Worten: Bleiben die Juden auch nach der Judenemanzipation thoratreu, erreichen sie die Erlaubnis ins verheißene Land zurückzukehren; andernfalls nicht!

[14] Religiöse Gesetzesvorschriften

[15] Opfergaben im Sinne von Mildtätigkeit

[16] Jewish-places.de: Die streng orthodoxe Vereinigung Agudas Jisroel, 1912 in Polen gegründet, vertrat die Haltung, dass nicht die politische Bewegung des Zionismus das „jüdische Volk zur Erlösung“ führen würde, sondern einzig das genaue Befolgen der Gebote der Tora. Nach der Schoa relativierte die Organisation diesen Standpunkt und beteiligte sich am Aufbau des jüdischnationalen Gemeinwesens, hielt jedoch stark daran fest, dass die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, über die Belange des Staates Israel entscheiden sollte. Das Agudas-Büro in Deutschland verlegte von März 1946 bis März 1949 die Zeitung Dos yidishe vort.

[17] Viele deutsch-orthodoxe Juden standen dem Misrachi (Merkas Ruchani), einer Orthodox-Jüdischen Gruppierung innerhalb der säkulären zionistischen Weltorganisation nahe.

[18] Der Zionismus war stets nur eine politische Strömung im Judentum mit der Zielsetzung der Wiederbesiedlung Palästinas. Der Misrachi, also die religiöse Ausrichtung, war den säkulären Zionisten immer ein Dorn im Auge.

[19] Thedaismus ist eine Wortschöpfung des Autors aus „Thora im Derech Erez Israel“ und bedeutet, dass die Rückkehr ins Heilige Land auf dem von Rabbiner Hirsch begründeten Erziehungssystems zu erfolgen habe. Thora und Allgemeinbildung als Grundlage des zu errichtenden Gemeinwesens.

[20] „Chorew“ ist der Titel eines Werkes von Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Es befasst sich mit den Pflichten und Geboten des Judentums, insbesondere in der Diaspora, und deren philosophischem Hintergrund. Das Buch ist eine Analyse der jüdischen Gesetze und Traditionen, die auch heute noch relevant sind, und bietet eine tiefgehende Betrachtung ihrer Bedeutung.

[21] Israel

[22] Talmudische Lehranstalt

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