Von Direktor Dr. Mendel Hirsch זצ“ל
(Aus dem Nachlass uns günstigst zur Verfügung gestellt. Red.)
Dieser Artikel von Dr. Mendel Hirsch s“l wurde in der Zeitschrift „Der Israelit“ Heft 61, am 31.07.1902. Veröffentlicht. Er geht der Frage nach, warum wir an den Gedenktagen der Zerstörung Jerusalems und des Tempels auch heute noch fasten.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2519051
Der 17. Tamus liegt hinter uns und wieder sind mit ihm die „drei Wochen“ eingezogen in den jüdischen Kreis. In der Zeit des üppig blühenden Lebens der Natur, jener Zeit, in der es alle hinaustreibt in Waldesgrün und Waldesdunkel, auf sonnige Höhen und in schattige Täler, um in inniger Berührung mit der stets jungen Natur die eigene Natur zu verjüngen, abzuschütteln den Staub der gewohnten Jahresarbeit und den Nerven neue Frische und den Muskeln neue Spannkraft und Herz, Geist und Gemüt neue Empfänglichkeit zu gewinnen, um so mit vollen Zügen an den Brüsten der allliebenden Mutter Natur Gesundung zu trinken, in diesen Tagen, wo wir alle gern des Augenblickes froh werden und den Gedanken an alles Unangenehme, an Sorge und Mühsal abschütteln möchten, — da zieht alljährlich mit diesen drei Wochen in die jüdischen Herzen der Gedanke an untergegangene Herrlichkeit und versunkene Größe, zieht das Gefühl der Trauer und die Stimmung des Ernstes ein. Und wenn du den Außenstehenden fragst, und ach, wie viele Juden gehören zu den „Außenstehenden“: warum fasten die gesetzestreuen Juden am 17. Thamus, was ist es, das diesen drei Wochen den Charakter des Ernstes und der Trauer aufdrückt?, so lautet die Antwort: „Sie fasten und trauern wegen der vor Jahrtausenden erfolgten Zerstörung Jerusalems.“ Ist es wirklich der Gedanke an untergegangene Herrlichkeit, an versunkene Größe, an geschwundene staatliche Selbstständigkeit, die uns zum Fasten und Trauern laden? Sind es wirklich Tatsachen und Verhältnisse, die einer alten, grauen Vergangenheit angehören, da Alldeutschland noch von Urwald bedeckt war und die deutschen Eichen noch Zeugen waren der den germanischen Göttern dargebrachten Menschenopfern, und verwundert zuschauten, wenn der biedere Germane, um den spärlichen Waldlichtungen die zum Nationalgetränk nötige Frucht abzulocken, seine liebe Frau vor den Pflug spannte, ihr mit sanftem Geißelhieb minniglich die Arbeit erleichterte, und sich nachher auf der Bärenhaut erholte. Alle anderen Kulturvölker lassen Vergangenheit vergangen und die Schwächen und Mängel ihrer Jugendzeit begraben sein, und nur Israel, d. h. die Söhne des gesetzestreuen Judentums, schwelgen in einer tausendjährigen Vergangenheit, suchen immer wieder Wunden aufzureißen, die schon vor Jahrtausenden sich geschlossen, versenken sich immer aufs Neue mit Wollust in Trauer um Verluste, die schon seit Jahrtausenden aufgehört haben, Aktualität zu verleihen. So und ähnlich tönt es uns entgegen, ausgesprochen von den einen, unausgesprochen von den anderen. Wir erlauben uns ihnen darauf zu erwidern: Gemach, Ihr gestrengen Herren Kritiker! So viel Sätze, so viel unrichtige Behauptungen. Wir fasten nicht wegen der Zerstörung Jerusalems, nicht wegen des Unterganges des jüdischen Staates. Wenn wir die Gedenktage unserer großen nationalen Katastrophen fastend begehen, so ist es, um uns an die Ursachen zu erinnern, die diesen Untergang und jene Zerstörung herbeigeführt haben, um uns zur Einkehr bei uns selbst und zur Selbstprüfung zu laden, ob denn aus unserem Leben und dem Leben unserer jüdischen zeitgenössischen Brüder und Schwestern diese Ursachen geschwunden sind, die einst die Katastrophen notwendig machten; so ist es, um uns mit eindringlichstem Ernst die Frage vorzulegen, ob, wenn Jerusalem wieder erstanden, der Tempel wieder erbaut und unsere staatliche Selbstständigkeit uns wiedergeschenkt wäre, unser und unserer Brüder Leben ihre Erhaltung möglich und nicht vielmehr ihren Untergang wieder zur unabweislichen Notwendigkeit machen würde. Es ist also nicht der Blick auf eine weit hinter uns liegende Vergangenheit, sondern der Blick in unsere eigenste Gegenwart, nicht der Gedanke an die Verirrungen der Urahnen unserer Ahnen, sondern der Gedanke an unsere eigenen Verirrungen, zu denen diese Tage uns laden.
Aber eben deshalb sind schief und hinfällig auch alle Vergleiche mit den anderen Kulturvölkern hinsichtlich ihres Verhaltens zu den Mangelhaftigkeiten ihrer Vergangenheit und zu den Torheiten und Sünden der Jugend ihres Volksdaseins. Denn so beschämend die Erkenntnis auch sein mag, eben hier klafft der gewaltige Gegensatz zwischen ihnen und uns. Überall, in der Geschichte aller Kulturvölker begegnen wir einem erfreulichen Fortschritt, einer trotz allem und allem fortschreitenden Erhebung. An der Hand des Buches, welches das jüdische Volk ihnen gebracht, an der Hand der Wahrheiten, die aus diesem Buch Gemeingut und Grundlage der Zivilisation aller Kulturvölker geworden, haben sie sich herausgearbeitet aus dem Zustand der Rohheit, aus der heidnisch polytheistischen Versunkenheit. Auch der Materialist und Gottesleugner wurzelt mit den auch ihm hochstehenden Idealen der Humanität, der Gleichberechtigung aller Menschen, mit seiner Verurteilung aller ihm als Atavismus[1] erscheinenden Gemeinheit und Vertierung in dem Boden der von ihm verkannten und mit den Lippen verleugneten jüdischen Wahrheit. Überall ist im Völkerleben im Laufe der Jahrtausende — nach Jahrtausenden zählen ja nur wir — ein Fortschritt, und sagen wir, trotz aller vorübergehenden Trübungen, ein mächtiger Fortschritt unverkennbar. Sie alle sind der von dem Gotteswort, dessen Träger das jüdische Volk ist, gelehrten Wahrheit und Gesittung nähergekommen. Wenn sie zurückschauen auf Kulturzustände ihrer Vergangenheit und die Summe des Vergleiches ziehen zwischen dem Einst und dem Jetzt, so ist es nur das Frohgefühl tiefgreifender errungener Siege und entschiedenen Fortschreitens, das ihre Brust voll stolzen Selbstgefühls schwellt. Sie dürfen auf so viele Schwächen und Gebrechen, als auf überwundene Jugendsünden schauen.
Wie aber steht es in dieser Beziehung mit uns, den Trägern eben des Gotteswortes, das die Grundlage aller Menschengesittung bildet, wie steht es mit den jüdischen Kreisen der Gegenwart? Freilich, in allen Beziehungen allgemein menschlicher Pflichttreue, in der Hochhaltung der bürgerlichen Moral, in Gesittung, in der Übung der warmherzigen Menschenliebe, wie in strenger Redlichkeit, in der gewissenhaften Pflichterfüllung gegen Staat und Vaterland, in der selbstlosen Hingebung an die Förderung der Gesamtheitszwecke und des Gesamtheitsheils können wir — wir sind glücklich, dies laut vor Gott und Menschen aussprechen zu dürfen — frei und kühn das Haupt erheben, können die Nachkommen Abrahams und Saras sich stolz neben ihre nichtjüdischen Mitbrüder stellen, stehen sie hinter keinem Kreis ihrer nichtjüdischen Mitbürger zurück. Allein wie steht es mit den höheren und besonderen Anforderungen, die unser Beruf als Menschheitspriester, als Träger des Gotteswortes und Gottesgesetzes, an uns stellt? Wie steht es mit der Erfüllung aller jener spezifisch jüdischen Gesetze, deren Erfüllung eine noch viel höhere Gewissenhaftigkeit, eine noch viel strengere Selbstbeherrschung, eine noch viel unablässigere Wachsamkeit, eine noch viel unbeschränktere Emanzipation von den Götzen der Selbstsucht und der Genusssucht, eine noch viel ausgeprägtere Identität der Gesinnung und des Strebens erfordert, um jenes Ideal vollendeten reinen Menschentums ausgestaltend hinauszuleben, welches unser jüdischer Menschheits-Priesterberuf uns als Ziel steckt? Hat das alte Prophetenwort keine Anwendung mehr auf uns, das im Hinblick auf die jubelnd ihres Lebens sich freuenden Völker zu uns sprach: „Du, Israel, hast dich nicht zu freuen bis zum Jauchzen, gleich den anderen Völkern, denn du bist von deinem Gott abgefallen, du erblickst in allen irdischen Gütern nur Errungenschaften des Abfalls!“ (Hosea 9, 1) keine Anwendung mehr das Prophetenwort, das diesen Sabbath[2] wieder uns entgegentönt: „ — von der innigen Nähe bei Mir entfernten sie sich, gingen dafür dem Nichtigen nach und wurden selbst nichtig—“? keine Anwendung mehr im Hinblick auf alle die Priester des Abfalles, der geistlichen Führer der Neologie, der fanatischen Vorstände der Reform, das Wort desselben Propheten: „die Priester sprachen nicht: wo ist denn Gott, (die allein die Gottesnähe bedingende Gesetzestreue ist ihnen im strengsten Sinne des Wortes eine quantité négligeable[3] geworden), die die Thora zu handhaben hätten, haben keine Ahnung von mir, und die Führer üben Verrat an mir —“?? Und hat schon in allen Kreisen, die noch nicht gebrochen haben mit der Thora unseres Gottes, die Pflichtübung ganz und überall aufgehört, eine nur äußerliche, die Erfüllung göttlicher Gebote überall und ganz aufgehört ein, wie der Prophet es nennt, angelerntes und gedankenlos geübtes Menschengebot zu sein? geht schon von jeder Sabbat- und Festesfeier eine solche Weihe des Lebens der Woche, von jedem Betreten des Gotteshauses eine solche Weihe des eigenen Hauses, von jedem heißen Gebet vor Gott eine solche Weihe unserer Tage aus, dass Jesaias‘ Worte (1, 12 ff.) keine Anwendung mehr fänden und Gott seine Freude hat an unserer Sabbat- und Festtagsfeier und unserem Tempelbesuch und sich gnadenvoll unseren Gebeten zuwendet, so dass durch unseren Lebensernst und unsere Lebensweihe, durch die Innigkeit und Freudigkeit unserer Pflichterfüllung die Keime der Frömmigkeit und aufrichtiger Gottesfurcht in den Herzen und Gemütern unserer Kinder geweckt und gezeitigt werden?? -—-
Diese Fragen höchster Aktualität, unmittelbarster Bedeutung für unsere und unserer Kinder eigenste Gegenwart und Zukunft möchten die Tage dieser Wochen in den jüdischen Kreisen wecken. O möchten sie nicht unbeachtet an unserem Ohre verhallen! Dann wird es besser werden in weitesten jüdischen Kreisen und dann, aber nur dann, wird der Fasttag des vierten, des fünften, des siebten und des zehnten Monats zu wonnigstem Aufblühen und fortschreitender Freude gereichen dem Hause Juda und zu beglückenden Vereinigungszeiten — einigend die so lange Getrennten, sie einigen mit ihrem Gott.
[1] Als Atavismus wird das Wiederauftreten von normalerweise nicht ausgebildeten anatomischen Merkmalen bei einem Lebewesen bezeichnet, die bei entfernteren stammesgeschichtlichen Vorfahren vorhanden waren.
[2] Gemeint ist hier der Schabbat Matot, an dem die Haftara „Jirmijahu 2:4-28; 3:4 gelesen wird
[3] Vernachlässigbare Menge