Der Mitzwa-Gedanke

Aus dem Kalenderblatt Elul von Rabbiner S.R. Hirsch, zusammengefasst von Michael Bleiberg

Sollen wir es uns verdrießen lassen, dass das alte Jahr zu Ende geht?! Sollen wir uns die letzten Tage des Jahres über all das Nichterreichte grämen?! Sollen wir uns Vorsätze machen, im kommenden Jahr alles besser zu gestalten?! Hatten wir diesen Vorsatz nicht auch schon im vergangenen Jahr – und was ist daraus geworden?! Sollen wir das Jahr vor unserem geistigen Auge Revue passieren lassen und uns all unserer Fehltritte und unserer Fehlentscheidungen bewusstwerden, um uns gesenkten Hauptes ins neue Jahr zu retten gedenken?!

Diese Fragen finden sich nicht im Kalenderblatt des Monat Elul. Im Kalenderblatt geht es um die Frage, habe ich rückblickend die mir von Gott auferlegten Mitzwoth zur Zufriedenheit erfüllt, oder hätte ich es besser machen können. Glaube ich etwa, die Mitzwoth sind doch sowieso veraltet, heute doch nicht mehr anwendbar, nicht zu praktizieren – zumindest viele nicht mehr – oder?  Wer das denkt, ja der wird wie die Jahre zuvor, sein Haupt senken und mit Zerknirschung und Verbitterung ins neue Jahr wechseln, und es wird ihm am Ende des Jahres wieder überkommen und er wird feststellen, keine Genugtuung und keine Hoffnung für sein Schalten und Walten zu finden.

Wie kommt man aus dieser Tretmühle heraus?

„Der jüdische Gedanke Mitzwa, der das ganze Leben in Pflicht, in Lösung von gottgestellter Aufgaben, in Erfüllung göttlicher Gebote aufgehen lässt, nur dieser Gedanke vermag die Fülle der Seligkeit an jeden kommenden Augenblick der Lebens knüpfen und jeden  gewährten Augenblick des Daseins als reiches Gnadengeschenk seines Gottes entgegennehmen. Nicht nach dem, was die Zeit uns bringt, misst der Gedanke die Zeit; sondern nach dem, was wir in der Zeit vollbringen, haben unsere Jahre und Monate, unsere Wochen und Tage Bedeutung.“

„Unsere Zukunft, was sie uns bringen möge, Süßes und Bitteres, Freud und Leid, wer mag´s ermessen?“

„Der jüdische Mitzwa-Gedanke aber ist nicht im Zweifel über die Zukunft. Mag sie Süßes oder Bitteres, Freud- oder Leidvolles in ihrem Schoße tragen, diese Mysterien überlässt er gerne seinem Gott. Ihn gelüstet es gar nicht, den Schleier zu lüften. Eines ist ihm klar: ihm wird in aller Ewigkeit jeder Zeitmoment nur den Aufruf bringen, seines Gottes Gebote zu erfüllen, seine Aufgabe zu lösen und in dieser Erfüllung und Lösung seinem Gott immer näher zu kommen. Er überlässt es Gott, ob er diese Erfüllung und Lösung in Freud oder Leid, in Glück oder Unglück fordern werde. Dem Dienste seines Gottes, der Erfüllung seines Willens, der Lösung seiner Aufgabe wird es gelten, und er freut sich dieses Dienstes in Freude und Leid —-“

„Zum neuen Jahr geht´s und Freude soll das neue Jahr dir, soll es uns allen bringen. Mit frischen, frohem, freudigen Mut sollen wir es betreten; sollen, wenn es kommt, den Kelch des Heiles freudig zu unsrem Gott heben und ihm danken, festlich, froh und freudig danken.“

Und zum Elul-Schofar schreibt Rabbiner Hirsch:

„Du horche des Schofartones, des jüdischen Lebensgedankens, und gehe in das „Sammelhaus“ der Väter,  um eine andere Anschauung des Lebens zu lernen…. Nicht um die Summe des Glückes und des Unglückes, des Gewinnes und des Verlustes zu berechnen, welche die ablaufende Jahresrechnung als Saldo bietet, sondern…: was sind wir geworden im Laufe des Jahres, wie haben wir die Aufgabe gelöst, …, wie haben wir die Pflichten erfüllt, die Mitzwoth geübt, die Gott uns geboten?“

Damit wir Gott danken können mit dem Segen unserer Väter: שהחיינו וקימנו והגיענו לזמן הזה

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