Thamus.

Rabbiner Samuel Raphael Hirsch

Aus „Gesammelte Schriften“, Band 1, stark gekürzte Zusammenfassung von M. Bleiberg

Die Sonne glüht, auf allen Feldern lacht der Zukunft Reife — Israels Blick aber wendet sich der Vergangenheit, seiner Vergangenheit zu, und חורבן, Zerstörung, Trümmer, Ruine, diesen Gedanken bringt der sonnige Thamus in jede treue jüdische Brust. Manches Blatt der jüdischen Geschichte ward mit Tränen geschrieben; aber die tränenreichsten Blätter lieferten stets die „drei Wochen“, und die größten weltgeschichtlichen jüdischen Katastrophen wählten sich diese Zeit zu ihrer tragisch großen Vollbringung. Gleichsam um Israel zu sagen, dass das Alles nur Fortsetzung des einen alten Verhängnisses, dass in diesem Allen nur dieselbe eine Gotteshand, dass dieselbe eine alte Ursache noch immer die gleichen Erscheinungen fortwirkend erzeuge, und das Galuth, das mit Nebukadnezar begonnen, nimmer enden würde, bis auch die letzte Faser der alten jüdischen Verirrung, die Israel das Galuth gebracht, in der erziehenden Schule des Galuths gründlich überwunden.

Die Sonne des 17. Thamus, die den wilden Römer über Jeruschalaims Mauern stürmen sah, hatte fast anderthalb Jahrtausende zuvor ein ganz anderes Schauspiel in Israels Lager begrüßt.

Vierzig Tage erst waren verstrichen, seitdem Israel der Sinai-Thora sein begeistertes „Naaßeh Wenischma“ zugejauchzt — und mit frühem Morgenrot war das Lager wach, war das Lager laut — es war aber nicht der Lärm des Krieges, war nicht des Sieges Lärm und nicht der Schrei des Falles, — war auch ein Jauchzen, aber ein die Seele zerschneidendes Jauchzen, ein Jauchzen bacchantischer Reigentänze um — ein goldenes Kalb! Und abseits stand vernichtet der Priester; der Priester mit dem weichen Herzen, mit dem milden, nachgiebigen Sinn — — hatte mit seiner Nachgiebigkeit das Volk vom Falle retten wollen — ויצא העגל הזה — und dieses Kalb war das Resultat seiner Nachgiebigkeit! Bei seinem Gott geweihten Altar ließ das Volk den Priester — und das goldene Kalb umtanzte das Volk!

„לך רד.“ Hinab, Hinab! Dein Volk hat Alles wieder umgestoßen, hat rasch den Weg meiner Pflicht verlassen, haben sich ein Kalb gegossen, haben ihm sich geweiht, ihm geopfert und haben’s verkündet: „Diese sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypterland heraufgeführt!“

Und aus dem wolkengehüllten Sinaigipfel tritt der Führer, die beiden Zeugnistafeln in der Hand, Tafeln von beiden Seiten geschrieben, wie du sie wendest, geschrieben — — Gottes Werk die Tafeln, Gottes Schrift die Schrift, — — und er nahet dem Lager — und sieht das Kalb — und sieht die Tänze und sein Zorn lodert auf — und er wirft die Tafeln aus Händen und er zerschmettert sie unten am Berge!

 „So oft ich je heimsuche, suche ich diese Sünde an ihnen heim“, sprach Gott, jede künftige Katastrophe wird mit durch diese Sünde erzeugt, hat diese Sünde mitzusühnen! — Und wir dürften diese Sünde vergessen, wir dürften einen 17. Thamus vorübergehen lassen, ohne die Tafelscherben am Bergesfuß aufzulesen und diesen Tafeltrümmern die Lehre, die Warnung, die Botschaft abzulauschen, die sie uns zu bringen hätten? Wurden doch neben den Gesetzestafeln diese Tafeltrümmer in der heiligen Bundeslade aufbewahrt! Und wir sollten die Klippe, den Keim aller unserer Verirrungen, die Wurzel all‘ unserer Leiden nicht zu erkennen suchen, sollten am 17. Thamus nicht zu beherzigen uns bemühen: was unsere Gesetzestafeln zertrümmert? Und was unser Los bleibt, solange die Gesetzestafeln in Trümmern?

„Und die Tafeln waren durch und durch von beiden Seiten geschrieben, מזה ומזה, wie du sie wendest, waren sie geschrieben!“

Nicht an der Fläche nur, nicht an der einen Seite nur, nicht oberflächlich und nicht einseitig soll uns das Sinaiwort ergreifen; durchdringen soll es uns, durch und durch soll es sich unserm ganzen Wesen in allen seinen Fugen aufprägen und einprägen und durchprägen, und wie man uns wende, überall soll an uns die Gottesschrift recht und leserlich und verständlich erscheinen! Siehe die zeugenden Gottestafeln! An ihnen gab’s kein Oben und kein Unten, keine rechte und keine Kehrseite! Die Schrift durchbohrte sie durch und durch und doch waren sie von beiden Seiten zu lesen! — Also auch du! Durch und durch sei Jude! Und wie man dich wende, sei Jude! Grabe die Gottesschrift nicht nur einer Seite, einem Teil, einer Beziehung deines Wesens ein, dass von einer Seite, du als Jude, als Träger des göttlichen Namens und Willens erscheinest, aber wenn du den Rücken kehrst, und in andere Beziehungen trittst, du als alles Andere, nur nicht als Jude mehr erscheinest, du alles Andere, nur nicht den Namen und den Willen Gottes mehr trägst, oder doch nicht mehr ganz so Jude bist, nicht so ausgeprägt mehr den göttlichen Willen trägst. Durch und durch sei Jude, nach allen Seiten hin und in allen Beziehungen Jude! Lasse dich durch und durch und von allen Seiten vom göttlichen Worte durchdringen!

Siehst du nicht wie sie zerbrechen mussten, wie für diese Tafeln keine Stätte war in dem ein goldenes Kalb umtanzenden Volke?

Hingebung, rückhaltlose, vertrauensvolle Hingebung an das Wort des göttlichen Gesetzes fordern diese Tafeln — und sie hatten dieses Vertrauen schon gebrochen, indem sie verzagten, als ihnen der Moses fehlte! Was ist dem Juden der Moses? Nicht im Moses und nicht im Aharon liegt die Macht des Volkes. Herolde des göttlichen Wortes sind sie ihm, und dieses Gottes-Wort, das sie ihm brachten, das sie in seine Mitte pflanzten, es allein soll des Juden Stütze sein und Führer. Erfülle Israel seine Thora rückhaltlos und wandellos — und es hat nicht zu hoffen auf Männer und braucht nicht zu harren der Menschensöhne, es kann der irdischen Gewalt und des menschlichen Führers entbehren, „seines Gottes Wort schreitet vor ihm her, zieht mit ihm voran durch die Wüstenei, und ebnet alle Hügel und knicket alle Dornen und tötet alle Drachen und spähet ihnen die Stätte aus, wo sie friedlich und sicher ruhen.“

Zuversichtliches und ausschließliches Vertrauen in die Macht des göttlichen Gesetzes und rückhaltlose Hingebung an dieses Gottesgesetz, das ist die Grundbedingung des jüdischen Heiles, und der Mangel hieran, der Zweifel an der göttlichen Macht dieses Gesetzes und an dem ausreichenden Schutz, den es allein Israel zu gewähren im Stande ist, das ist die Kardinalsünde, die alle Katastrophen Israels erzeugt. Mit der Thora im Arm soll Israel allen weltgeschichtlichen Stürmen Trotz bieten. Aber mit der Thora im Arm hat Israel immer noch nach anderen Schutzgöttern sich umgeschaut, hat hinübergeschielt nach den Brustwehren, die andere Völker sich aus Menschenmacht und Naturkraft erbauten. Es fehlte ihm der Mut, den Ätherflug auf der Thora Fittig zu bestehen; es wollte den Menschenkönig, der vor ihm her wandeln sollte, es wollte das Kalb, das es umtanzen konnte, es genügte ihm Gottes Wort nicht es schrumpfte ihm das Lebenswort des allmächtigen, lebendigen Gottes zu einer „Religion“, zu einem Kultus zusammen, die nur einer Seite des Lebens entsprachen, einer Seite des Lebens genügten.

Von neuem erwachte der Geist des göttlichen Wortes im Volke, von neuem bewährte es seine Macht an Israel; Cyrus beugte sich vor ihm, die Makkabäer führte es zum Siege — doch Israel verließ seine Fahne! Als ob es nicht das Gotteswort gewesen, das sie zum Siege geführt, warfen die Makkabäersprösslinge das Gotteswort in den Winkel oder missbrauchten es zum bloßen Schemel ihrer Hoheit, hielten aber das Schwert fest in ihrer Hand, machten es zum Königsschwert, stellten das Menschenkönigtum als Träger des jüdischen Volksgeschickes auf, entrissen das jüdische Staatenleben dem Thorageist, stürzten die Thora vom Throne — die Häuser, die Familien blieben noch getränkt vom Thorageist, aber aus dem Staatenleben war er gewichen — da stürmte der wilde Römer über die Mauer!

Am 17. Thamus ging der jüdische Staat in Trümmer — und mit diesem Tage begann die Thora — ihre Triumphzüge durch alle Länder und Reiche! Seht dies Israel seitdem! Hat den Boden unter den Füßen verloren, ohne Macht, ohne irdischen Halt, von aller Welt verlassen, von aller Welt zurückgestoßen, nur auf Gott und seine Thora hingewiesen, lernt es und zeigt es die Macht des göttlichen Wortes, lernt es und zeigt es den Ätherflug auf den Fittigen des göttlichen Gesetzes, lernt und zeigt es die Tragkraft des göttlichen Geistes — zeigt es sich der staunenden Welt als das vom Gesetzesäther getragene Granitzeugnis für Gottesherrschaft und Menschenberuf.

Und von Zeit zu Zeit, im Laufe der Jahrhunderte, lässt Gott der Herr sein Volk immer wieder einmal den Boden berühren, lässt es sich immer von Zeit zu Zeit erproben, ob es endlich reif geworden sei für den ewigen Thorastaat auf Erden, ob es endlich mitten unter dem Wunder seiner Galuthjahrhunderte die Ohnmacht der Erdengötter gründlich verachten gelernt, ob endlich die Erfahrung seiner Galuthwunder den auch ihm innewohnenden, die Hingebung an die Kraft des göttlichen Wortes versagenden menschlichen Starrsinn gründlich überwunden, ob es endlich gelernt habe, sich der Thora rückhaltlos und ausnahmslos hinzugeben und diese Hingebung, die ihm im Galuth nie fremd gewesen, endlich auch in der Freiheit und in der Fülle und in der Selbständigkeit und in der Macht bewahren werde.

Aber noch immer hat Israel bis jetzt gezeigt, dass es diese Reife noch nicht gewonnen, dass es aber immer noch den Boden zu fürchten habe, denn immer wie es den Boden berührt, wie es festen Boden unter den Füßen zu spüren glaubt, sofort Gefahr läuft, auf diesem Boden vom göttlichen Gesetz zu lassen, diesen Boden selbst, die politische Selbständigkeit, die soziale Freiheit, die bürgerliche Berechtigung als Götter neben seines Gottes Thora zu verehren, ihnen das Leben — seiner Thora aber nur die Tempel einzuräumen, und die alte Churbansünde immer von neuem wieder zu begehen.

Und immer wieder hat sofort ihm Gott diesen Boden unter den Füßen schwinden lassen, hat es immer wieder den Ätherfittigen seiner Thora überwiesen, und wird es tragen und wird es erziehen, bis die endliche Zeit seiner ewigen Reife gekommen und alle die alten Verirrungen überwunden und alle die alten Verirrungen gesühnt und sich also das Wort erfüllt, auf welchem nach wiederverliehenen Zeugnistafeln der ewige Gottesbund mit Israel geschlossen ward: ילך נא ד‘ בקרבנו, כי עם קשה עורף הוא וסלחת לעווננו ולחטאתנו ונחלתנו, dass Gott mit uns wandeln werde, mitten in unserer Verirrung, und ob wir ein schwer zu erziehendes Volk wären, Er unserer Sünde, unserm Leichtsinn Verzeihung angedeihen lasse, bis wir endlich Ihm ganz in die Arme fallen, rückhaltlos, ausnahmslos, als Sein ewiges, eigentümliches Erbe.

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