Nachfolgende Anekdote habe ich in der Festschrift „Samson Raphael Hirsch-Jubiläums-Nummer“ herausgegeben anlässlich des 100. Geburtstages von Rabbiner Hirsch von der Redaktion der „Israelit“ am 25. Siwan 5668 (1908) gefunden:

Wer ihn (Rabbiner Hirsch) in seiner öffentlichen Wirksamkeit In Frankfurt sah als Rabbiner, als Redner, als Lehrer, als Organisator, Berater und Führer des ganzen Gemeinwesens, der konnte leicht glauben, dass darin seine ganze Tätigkeit aufgehe. In Wirklichkeit aber gehörte er nicht seiner Gemeinde, sondern der ganzen Welt, die sich brieflich und persönlich bei ihm einfand, um seinen Rat für alle Fälle des wechselreichen Lebens einzuholen. Die Selbstlosigkeit, mit welcher er diesen Rat erteilte, die tiefe Weisheit, die reiche Lebenserfahrung, aus welcher er floss, die Leichtigkeit, mit welcher er die schwierigsten Lagen überblickte, verlieh diesem Rat oft die Bedeutung eines prophetischen Blickes in die Zukunft und bestätigten die Wahrheit, dass ein Weiser mehr als ein Prophet ist.

Ein junger Rabbiner, in dessen Amtsbezirk die Schulkinder genötigt wurden den Schabbat durch Schreiben zu entweihen, fragte ihn um seinen Rat, wie diesem Übelstand abzuhelfen sei, da alle Behörden sich ablehnend Verhalten und das Gros der Bevölkerung selbst mit der herrschenden Religion auf gespanntem Fuße stehe, man also für Berücksichtigung jüdisch-religiöser Ansichten gewiss keine Aussicht habe.

„ Ich weiß nur einen Weg“ lautete sein Rat, „aber der wird sicher zum Ziel führen. Sie müssen dafür sorgen, dass entweder Sie oder ihre Frau oder sie beide ins Gefängnis kommen, wegen ihrer Auflehnung gegen die Verkümmerung der Religionsfreiheit. Sobald Sie das erreicht haben, müssen Sie es sich angelegen sein lassen, dass die Zeitungen von dieser Verhaftung Notiz nehmen und es alle Welt erfährt, wie es in ihrem Kreis, der sich als Hort der Freiheit geriert mit der Gewissens- und Religionsfreiheit bestellt ist, dass man jemanden einsperrt, weil er seiner Religion treu bleiben möchte. Das wird helfen, auf anderem Wege ist nichts zu machen.“

Der Rabbiner wollte diesen Rat befolgen, es gelang ihm jedoch nicht. Aber ein Schüler wurde wegen seiner fortgesetzten Weigerung, am Schabbat zu schreiben, eingesperrt und die Aufregung, die dieses Vorkommnis zur Folge hatte, brach in der Tat den Widerstand der Schulpotentaten.

Soweit diese Anekdote.

Wem diese Geschichte bekannt ist und wer diesbezüglich Angaben machen kann, um welchen jungen Rabbiner es sich handelt, aus welcher Gemeinde er stammt und wann sich das ganze ereignete, möge sich zur Vervollständigung dieser Geschichte bitte bei mir melden. – Ich wäre ihm sehr verbunden.

Michael Bleiberg, Berlin, im Tamus 5781

p.s.: Die Zeitschrift „Der Israelit“, ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum, wurde von Rabbiner Dr. Marcus (Meir) Lehmann in Mainz seit Mai 1860 als Wochenzeitschrift herausgegeben. 1870 fusionierten „Der Israelit“ und die Monatszeitschrift „Jeschurun“ von Rabbiner Hirsch. Nach dem Zusammenschluss wurde die Zeitschrift „Der Israelit“ noch bis 1938 herausgegeben. Im November 1938 wurde die Zeitschrift von den Nationalsozialisten verboten – einige Tage vor der „Kristallnacht“.

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